Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
Er ist der vielschichtigste
der Superhelden:
Batmanwird 80  Seite 16

von egbert tholl

I


m Schauspielhaus Zürich gibt es seit
Jahren eine schöne Einrichtung: Ne-
ben dem Einlass zum Saal, egal ob im
altehrwürdigen Pfauen oder im Schiff-
bau, befinden sich große Glasbehälter, ge-
füllt mit Bonbons gegen größere Husten-
attacken. Nun hat das Schauspielhaus
mit Beginn dieser Saison eine neue Lei-
tung, eine Doppelspitze bestehend aus
Nicolas Stemann und Benjamin von Blom-
berg. Beide waren zuvor an den Münch-
ner Kammerspielen, der eine als Hausre-
gisseur, der andere als Chefdramaturg,
allerdings nur für kurze Zeit, bis eben das
verlockende Angebot aus Zürich kam.
Betritt man nun den Pfauen, bislang in
der Anmutung eine plüschige Bühne fürs
Schweizer Bürgertum, sind die Bonbons
noch da. Sonst ist alles anders. Das Foyer
hat nun die Ausstrahlung einer halb ferti-
gen Parkgarage, unter den Besuchern
sind viele junge Menschen, die man von
der äußeren Erscheinung her eher bei
einem queeren Tanzfestival erwarten
würde. Nun gut, es ist der Abend der Pre-
miere einer Produktion von Wu Tsang,
Filmemacher und Performer aus Massa-
chusetts, dessen Tanz- und Videoabend
„Sudden Rise“ alle begeistert, obwohl da-
nach niemand sagen kann, worum es ei-
gentlich genau ging.


Es wird momentan viel über die Zu-
kunft des Stadttheaters nachgedacht.
Stemann und Blomberg kamen dabei auf
eine ungewöhnliche Lösung: Sie arbeiten
mit acht Hausregisseurinnen und -regis-
seuren. Nur mit diesen acht, von denen
einer Stemann selbst ist. Es soll zwar
auch Gastspiele aus anderen Häusern ge-
ben, in Zürich selbst arbeiten aber nur die
acht. Sie leben auch in der Stadt. Das al-
lein ist schon ein radikaler Gegenentwurf
zu den Theatern, die auf Regie-Promi-
nenz setzen, dadurch eine gewisse Aus-
tauschbarkeit erzeugen und mitunter
Probleme kriegen: Das Münchner Resi-
denztheater wie die Wiener Burg muss-
ten gerade Produktionen von Simon
Stone absagen, weil der gerade fürs Thea-
ter keine Zeit hat und einen Film dreht.
Natürlich haben sie in Zürich nun auch
ein polydiverses Ensemble, einen Choreo-
grafen (Trajal Harrell), den Filmemacher
Wu Tsang, einen Kunstinstallateur (Alex-
ander Giesche), aber auch ein paar Regie-
arbeitende, die man theoretisch an ande-
re Häuser vermitteln könnte: Christo-
pher Rüping, Leonie Böhm, Suna Gürler
und Yana Ross. Das ist noch relativ nor-
mal. Weniger normal ist, dass alle acht
beim Eröffnungsfestival je eine Arbeit
von sich zeigten, die alt ist und nun im Re-
pertoire bleibt. Stemann etwa zeigte sei-
nen acht Jahre alten „Faust“. Mit einem
gewissen Grinsen verkauft das Leitungs-
duo das auch als ökologisch nachhaltige
Maßnahme – die schmeißen halt nichts
weg. Künstlerisch gesehen ist es fabel-
haft, weil die gezeigten Arbeiten quasi
Signatur-Inszenierungen sind, die in Zü-
rich bislang keiner kannte.
Die Entspanntheit, zum Start auf neu-
este Sensationen zu verzichten, setzt sich
im Laufe der Saison in der bemerkenswer-
ten Zahl von 13 Neuproduktionen fort.
Normalerweise hauen neue Intendanten
in ihrer ersten Saison so an die 30 Arbei-
ten raus. Hier: 13. Ein Grund dafür ist,
dass Stemann und Blomberg in den ers-
ten beiden Jahren der Intendanz von
Matthias Lilienthal an den Kammerspie-
len beobachten konnten, was passiert,
wenn man erstens unglaublich viel produ-
ziert, und zweitens Regisseure hat, die
nicht viel Erfahrung mit dem Stadtthea-
terbetrieb haben. Es passiert viel Murks.
Nun haben sie den Plan, ihre Hausregis-
seure so arbeiten zu lassen, wie die das
wollen. Das erzeugt eine hohe künstleri-
sche Eigenständigkeit und ist tatsächlich
nachhaltig. Wenn das Publikum es mit-
macht, wogegen bislang nichts spricht.
Zürich schafft sich dadurch eine konzen-
trierte Eigenständigkeit, von der viele
Häuser lernen könnten.


von felix stephan

S


port kommt in der deutschen Lite-
ratur nur als Metapher vor. Als ei-
gener ästhetischer Gegenstand
existiert er im Grunde nicht. Im
angelsächsischen Raum hinge-
gen gehört dassports writingselbstver-
ständlich zum inneren Zirkel der ästheti-
schen Disziplinen: Don DeLillo schreibt
über Baseball, der karibische Philosoph
C. L. R. James über Cricket oder David Fos-
ter Wallace über Tennis, als handele es sich
um Religion.
Da gibt es womöglich einen Zusammen-
hang. Ihren Ursprung hat die ambitionier-
te Sportliteratur dort, wo sich viele Religio-
nen eine Öffentlichkeit teilen: im Common-
wealth und den USA. Wenn man in New
York mit dem Floristen in einen Small Talk
gerät, kann man sich nie sicher sein, wel-
cher Religion er angehört. Eine Kirche
aber, die wirklich alle schon einmal aufge-
sucht haben, ist der Madison Square Gar-
den, die Heimstätte der New York Knicks.

Deshalb ist es vielleicht nur folgerichtig,
dass mit Thomas Pletzingers „The Great No-
witzki“(Kiepenheuer & Witsch, 26 Euro)
jetzt auch im Einwanderungsland Deutsch-
land ein Buch erschienen ist, das es tatsäch-
lich aufnehmen will mit den Säulenheili-
gen dessports writing. Das nicht nur das Er-
lebnis schildern möchte, den deutschen
Athleten-Halbgott Dirk Nowitzki zu be-
trachten, sondern selbst ein Erlebnis sein
will. Und wieso auch nicht? Dass es zwi-
schen dem Beruf des Dichters und dem des
Athleten eine besondere Verbindung gibt,
weil beide eine natürliche Begabung erfor-
dern, davon war schon in den „Olympi-
schen Oden“ des griechischen Dichters Pin-
dar die Rede.
Thomas Pletzinger war selbst Basketball-
spieler, bevor er Schriftsteller wurde. Eine
Saison lang gehörte er zum Kader des Bas-
ketball-Bundesligisten Brandt Hagen, be-
vor er sich entschied, nach Hamburg zu ge-
hen und Anglistik zu studieren. Von dort
zog er erst nach New York und dann nach
Leipzig, wo er am Literaturinstitut Leipzig
das literarische Schreiben lernte, in einem
Jahrgang mit Saša Stanišić. Gelegentlich
konnte man ihn dort noch erwischen, wie
er mit seinem langen Basketballkörper und
seinem sicheren Wurf auf den Freiplätzen

der Stadt unterwegs war, damals schon
ein Kuriosum, der hochgewachsene Litera-
turstudent mit der rücksichtsvollen Spiel-
weise, trotz all der Lesestunden immer
noch besser als die meisten. Nach dem Stu-
dium veröffentlichte Pletzinger seinen
weithin gelobten Debütroman „Bestat-
tung eines Hundes“ und probierte dann di-
rekt dassports writingauf Deutsch aus,
mit einem Buch über den Basketballver-
ein Alba Berlin.
Das war schon ziemlich gut, mit „The
Great Nowitzki“ aber erreicht er noch ein-
mal ein neues Niveau. DasZeit Magazin
hatte Pletzinger mit einer Reportage über
Dirk Nowitzki beauftragt, damit ging es
im Grunde los. Pletzinger flog nach Dallas
und begann, eine Sprache zu suchen für
das, was man in den Zehnerjahren zu se-
hen bekam, wenn man Dirk Nowitzki zu-
schaute.Sports writingin Deutschland ist
zwangsläufig auch eine Erstvermessung
weitgehend unerkundeten Geländes. Die
deutsche Sprache ist auf ihre Fähigkeit
hin, athletische Exzellenz zu beschreiben,
lange nicht mehr untersucht worden. Nie-
mand hat das Übermenschliche so in Ver-
ruf gebracht wie der Übermensch.
Immer wieder steht Pletzinger also auf
einer Tribüne, lässt sich mitreißen, him-
melt an, wirft sich nieder. Unverhohlen
wird hier das Kollektivglück genossen,
Zeuge sein zu dürfen: „Der Ball schnellte
vom Boden hoch in seine linke Hand, No-
witzki brachte sich und seine Wurfhand in
dem genau richtigen Sekundenzehntel un-
ter den steigenden Ball, er machte sich
den Schwung zu eigen, Tak-tadamm, ein
perfekter Daktylus, der Ball wog jetzt
nichts mehr, fast nichts zumindest, er ar-
beitete Nowitzki zu, und Nowitzki musste
nur noch die Richtung feinjustieren.“
So unschuldig und wehrlos ergriffen
wie Thomas Pletzinger, wenn er Dirk No-
witzki zuschaut, war in der deutschen Lite-
ratur zuletzt vielleicht nur Rainald Goetz,
als er auf der Straße des 17. Juni ein jubeln-
des, stampfendes Ungetüm namens Love-
Parade vorbeiziehen sah.

Dabei gibt es über Dirk Nowitzki selbst
eigentlich nichts Neues zu berichten, alles
wurde zigtausendfach dokumentiert. Er
wurde 1978 geboren und wuchs in Würz-
burg in einer Mittelstandsfamilie auf, der
Vater Handballer und Unternehmer, die

Mutter Basketballerin und Mutter. Der jun-
ge Dirk spielte anfangs Tennis und fing erst
spät mit dem Basketball an. Doch schon
kurz darauf saß auf einmal ein absonderli-
cher älterer Herr im Wohnzimmer der Fami-
lie Nowitzki und erklärte ihr, dass man,
wenn Dirk einer der besten Basketballer
der Welt werden solle, jetzt sofort anfangen
müsse, systematisch zu trainieren. Dieser
ältere Herr war der renitente Zivilisations-
flüchtling, Vielleser und ehemalige Basket-
ball-Nationalspieler Holger Geschwindner.
Die Eltern willigten ein – zögerlich, aber
doch –, und fortan trainierte Geschwind-
ner jeden Tag mit Nowitzki, mehr als zwan-
zig Jahre lang, nach einem System, das er
selbst entwickelt hatte und das die Lektüre
russischer Literatur ebenso einschloss wie
Jazzdance mit dem Basketball. Dass es sich
bei seinen Methoden um Esoterik und Ge-
hirnwäsche handele, ist Geschwindner
mehr als einmal vorgeworfen worden.
Einige Jahre später, als Dirk Nowitzki
längst Weltstar ist, NBA-Champion, zig-
fach ausgezeichneter Athlet, Flaggenträger
der deutschen Olympioniken, dreistelliger
Millionär, beobachtet Pletzinger eine
Übungseinheit der beiden, von der Tribüne
einer leeren Arena in Ljubljana aus. Nowitz-
ki hat einen langen Tag mit Werbedrehs hin-
ter sich, die innere Spannung fehlt, er trifft
wenig, flucht vor sich hin. Da wendet Ge-
schwindner seinen Zauber an: „Jetzt fragt
Geschwindner, wie sich die Weizenfelder
Kirgisiens in Tschingis Aitmatows ,Dsha-
milja‘ bewegen, während er passt, und Dirk
weiß werfend die Antwort, er beschreibt
den Wind in den Halmen, das Wiegen und
Wogen über den Hügeln, die Farben und
Formen und Weizenspelzen.“
Und plötzlich, schreibt Pletzinger, „ver-
stehe ich, was hier geschieht: Das Gerede
über Musik und Literatur während des Trai-
nings ist eine mentale Übung. Es geht dar-
um, sich auf das Wesentliche zu beschrän-
ken, die Drehs, Privatjets, Fotografen auszu-
blenden“. Pletzinger erzählt von der Entste-
hungsgeschichte des Athleten Dirk Nowitz-
ki, wie man auch vom Bauhaus erzählen
könnte: als Geschichte einer spirituellen
Selbstbefreiung vom deutschen Turner-
bund-Mief mit seinem Kraft-und-Willen-
Dogma.
Ganz am Anfang seiner Recherche hatte
ihm Geschwindner einmal erklärt, dass es

schon rein erkenntnistheoretisch unmög-
lich sei, zum Ausdruck zu bringen, was Dirk
Nowitzki so außergewöhnlich mache. Von
außen, so Geschwindner, könne schließlich
niemand ermessen, welche Konzentration
nötig sei, um Tag für Tag auf einem Niveau
zu bestehen, auf dem man letztlich allein
ist, auf dem es keine Konkurrenz gibt außer
sich selbst, auf dem man unerforschtes Ge-
lände betritt wie einst Petrarca, als er den
Mont Ventoux bestiegen hatte und dort nur
sich selbst erblickte. Und auch Dirk selbst
könne nicht davon berichten, wie es dort
oben aussehe, weil das bedeuten würde,
die besondere Konzentration zu verlieren,
die er benötige, um in diesen Gefilden zu
überleben. Wer sich mitteile, werde sich sel-
ber los, diktiert Holger Geschwindner dem
deprimierten Reporter in den Block, einen
Nietzsche-Satz, der ihm im Laufe des Bu-
ches immer wieder einfällt. Und dann, im-
merhin: „Ich will Sie nicht entmutigen.“

Um den Monolithen Nowitzki nicht ganz
allein dort oben auf dem Podest stehen zu
lassen, stellt Pletzinger ihm einen Durch-
schnittsmenschen zur Seite, der sich auch
schon mal ein Glas Rotwein erlaubt, Kohlen-
hydrate zu sich nimmt und nach der Gala
an der Theke versackt, während Nowitzki
längst im Bett liegt. Diese Figur ist er selbst.
Nowitzki und Pletzinger sind fast gleich alt,
aber nur einer der beiden ist in seiner Diszi-
plin an die Grenzen des Menschenmögli-
chen gelangt. Thomas Pletzinger macht
sich in diesem Buch zur Stellvertreterfigur
des Lesers, und diese Figur ist eine tragi-
sche. Er inszeniert sich als in die Jahre ge-
kommenen Träumer, der einige Chancen
in seinem Leben hat liegen lassen und sich
jetzt, im Angesicht des Athleten, seiner Un-
vollkommenheit und Endlichkeit bewusst
wird. Wobei diese Selbsterniedrigung na-
türlich nicht zuletzt Rhetorik ist. An die Ath-
leten, die Pindar in seinen „Olympischen
Oden“ besungen hat, erinnert sich heute
schließlich niemand mehr, an Pindar selbst
aber schon. Auch davon handelt dieses
Buch: Auf dem literarischen Feld gewinnt
am Ende immer der Autor.

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 HF3 15


FEUILLETON


Egbert Tholl ist
Redakteur und
Theaterkritiker.

FOTO: MAURITIUS

In Berlin verhärten sich mal wieder
dieFronten zwischen Sozialismus und Kapital –
ein Besuch „Am Tacheles“  Seite 17

THEATER

Ungewöhnliche


Lösung


Auf dem Gipfel


Dirk Nowitzki als religiöse Erfahrung: Thomas Pletzingers Buch


„The Great Nowitzki“ erforscht das Geheimnis athletischer Exzellenz


Niemand hat das
Übermenschliche so in Verruf
gebracht wie der Übermensch

Es geht darum, die Drehs,
die Privatjets,
die Fotografen auszublenden

Dunkler Diamant


Kampf um die Stadt


Für das Theater arbeiten acht


Hausregisseurinnen und


-regisseure. Nur diese acht


Pletzinger stellt Nowitzki
einen Durchschnittsmenschen
zur Seite: sich selbst

Die Geschichte einer spirituellen Selbstbefreiung: Dirk Nowitzki beim Individualtraining FOTO:TOBIAS ZIELONY

HANSERBERLIN Fo


to:©U

rban

43 2Seiten.Gebundenmit Lesebändchen Zintel
AuchalsE-Book.hanser-literaturverlage.de

Brüdererzähltvonzweideutschen
Männern,geborenimgleichenJahr,
KinderdesselbenVaters,derihnennur
seinedunkleHauthinterlassenhat.
DieFragen,diesichihnenstellen,
sinddieselben.IhreLebenkönnten
nichtunterschiedlichersein.

JACKIE


THOMAE


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