Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

A


m Tag nach der Landtagswahl
in Sachsen befragte mich eine
Redakteurin desMonopol-Ma-
gazins zu den Wahlergebnis-
sen. Sie sprach mich auf ein Vi-
deo an, das ich in einer Sommernacht 2015
an meinem Schreibtisch aufgenommen
hatte. Damals war ich wie gelähmt und
schockiert von den feindseligen Reaktio-
nen auf denMarch of Hopeund den frem-
denfeindlichen Aktionen vor sächsischen
Erstaufnahmeeinrichtungen: die Protes-
te, das Böllerzünden, das Beschimpfen, Be-
äugen, die verfassungsfeindlichen Symbo-
le und Gesten. Im Video bediente ich mich
einiger Zeilen von Rio Reiser und ernannte
mich zum Ministerpräsidenten, Innenmi-
nister, zur Ministerpräsidentin und Innen-
ministerin Sachsens. Wolfgang Tillich und
Markus Ulbig, die ich da behaupteterma-
ßen ablöste, hatten, als es am dringends-
ten war, mit Unfähigkeit, Schweigen und
mit Abwesenheit re(a)giert. Ihr Nichtstun
musste als Legitimierung der sprachli-
chen und körperlichen Gewaltexzesse ver-
standen werden, als Geleitschutz jener Ex-
tremisten, die von diesem Sommer 2015
an immer öffentlicher aufgebracht waren
und sich gerierten und gerieren, als ginge
es ihnen an den Kragen, als habe die Zu-
wanderung es auf sie abgesehen.
In meiner Rede als vier sächsische
Amts- und Würdenträgerinnen habe ich
mich vor allem auf eine Selbstverständlich-
keit und Tautologie gestützt: Alle Men-
schen sind Menschen. Folglich können nie-
mandem Menschenrechte verwehrt wer-
den. In vielen E-Mails, die mich nach der
Veröffentlichung des Videos erreichten,
wurde die angebliche Notwendigkeit, man-
chen die Menschenrechte zu entziehen,
dennoch zu begründen versucht, wurden
Ausnahmen konstruiert, die ich nicht wie-
dergeben möchte. Ich wurde beschimpft
und gewarnt, ich würde schon sehen, und
auch hier will ich nicht ins Detail gehen,
die Behauptungen und Warnungen sind
bekannt, wer sie nicht kennt, verpasst
nichts, sie zu wiederholen, allein sie zu be-
denken, schwächt mich, und ich will mich
nicht mehr schwächen lassen.


Als dieMonopol-Redakteurin mich frag-
te, was ich, wenn ich heute noch einmal
solch ein Video veröffentlichen würde (ich
würde nicht) den lieben Sächsinnen und
Sachsen, an die ich mein Video adressiert
hatte, sagen würde, erwiderte ich nach kur-
zem Innehalten: Fuck you. Das ist es, mit
Verlaub, was ich sagen möchte. Ich habe
die Nase voll von Menschenfeindlichkeit,
Intoleranz und Angst. Ich habe die Nase
voll von Verschwörungstheorien, vom Op-
fermythos, der nicht befähigt, die richti-
gen Fragen zu stellen und die Zeiten aus-
einanderzuhalten. Es ist, nur ein wenig
überspitzt formuliert, als wären die Geflo-
henen, die über das Mittelmeer kaum zu
uns kommen, verantwortlich für die Fehl-
entscheidungen der Treuhand, für den
Ausverkauf des Ostens, dafür, dass der
Ruf nach Vereinigung und schneller Ein-
führung der D-Mark für manche nicht
zum privaten Wirtschaftswunder wurde,


sondern zur Enttäuschung. Was waren die
Träume vor 30 Jahren? Die Frage nach den
alten Träumen, nach konstruktiven Zie-
len, und wie sie zu erreichen sind, die inter-
essiert mich nach wie vor, sie muss gestellt
werden und der Realitätsabgleich in aller
Ausführlichkeit Raum bekommen.
Nach der sächsischen Landtagswahl
sprach ich mit einer Freundin, und wir hiel-
ten fest: Wir sind wütend. Was vor der
Wahl alter Schock, Lähmung und Trauer
war, verstärkt vom Ergebnis des Brexitre-
ferendums, Trumps Wahl, dem Einzug der
AfD in den Bundestag und deren unfassba-
ren Lügen- und Degradierungsstrategien,
ist nun Wut, Ungeduld, und endlich wie-
der der Entschluss zu handeln.
Die Frage, was genau getan werden
müsste, finde ich nicht mehr vordergrün-
dig. Bestimmt gibt es perfekte, wunder-
schöne und poetische Handlungen, und
diese interessieren mich sehr. Wichtiger
aber ist mir im Moment, in die Öffentlich-
keit zu gehen, Redezeit zu beanspruchen,
Bühnen zu erschaffen, solidarisch zu sein
und auch dann zu erscheinen, wenn mir
aus politischen Gründen abgesagt wird.
Ich bin ein bisschen spät dran mit dem
Anwenden der Demokratie. Wie gesagt,
ich war geschockt und habe wohl auch
Hoffnungen gehabt, die AfD würde ein-
fach verschwinden. Aber Abwarten und Er-
schaudern wegen der Äußerungen und
Handlungen der AfD sind keine Optionen
mehr. Kaum habe ich das für mich ent-
schieden, sehe ich endlich die wieder, die
schon seit Jahren beachtliche politische Ar-
beit leisten und dafür meistens zu wenig
Anerkennung erhalten. Deren Nähe suche
ich, von denen bekomme ich Kraft und ler-
ne Worte. Ansonsten übe ich mich darin,
schneller zu entscheiden, wann ein Ge-
spräch beendet werden muss, wann ich et-
was zur Anzeige bringen kann, wann ich
Fragen stellen sollte und wo meine Bereit-
schaft zuzuhören korrumpiert wird.
Grundsätzlich will ich nicht mehr mit
Rechten reden. Ich habe das eine Weile ge-
macht. Ich wollte höflich sein, sachlich wi-
derlegen und die Notwendigkeit und Mög-
lichkeit, miteinander ins Gespräch zu kom-
men, beweisen. Ich habe mir die verrück-
testen Sachen angehört. Ich bin nach wie
vor dafür, dass mit allen gesprochen wird,
aber ich kann das nicht mehr leisten. Für
die Kommunikation mit Anhängerinnen
rechter Verschwörungstheorien, ausgren-
zender Dogmen, nationalsozialistischer
Demagogie braucht es nicht Leute wie
mich, sondern Expertinnen.
Wenn also zum Beispiel Herr XY aus Z
mit mir redet und in Rage gerät, versuche
ich nicht mehr, auf Übertreibung oder Dis-
kriminierung hinzuweisen und ihn durch
Argumente und Fragen umzustimmen. Ich
sage ihm, dass ich seinen Eindruck nicht
teile, dass ich seine Meinung für ausgren-
zend und gefährlich halte, dass unsere Ge-
sellschaft anders konzipiert ist und konzi-
piert bleiben muss, dass ich keine Basis für
ein Gespräch sehe und nun gehen werde.
Über das, was Herr XY aus Z sagte, will ich
hier nicht mehr schreiben. Herr XY aus Z
kommt ab und an woanders her, hat ein an-
deres Geschlecht, heißt anders, seine Rede
ist stets vergleichbar, hanebüchen, sich
aber plausibel gebend und immer lang.
Wenn Herr XY aus Z nicht gestorben ist,
und das ist er nicht, redet er noch heute.

Die Lasten der gegenwärtigen Ge-
sprächskultur müssen getragen werden.
Ich trage sie also im Moment nicht. Ich
brauche eine Pause, ich brauche Empower-
ment in eigener Sache. Ich brauche die gu-
ten Leute um mich herum, brauche meine
Familie, meine Freundinnen und Freun-
de, ich brauche die klugen Texte, ich brau-
che nicht noch mehrvox populi, das Pot-
pourri aus Wahnsinn und Relativierung.

Meine Aufgabe ist es nun, darauf zu ach-
ten, dass ich nicht anfällig werde für rechte
Sprache, für deren Härte und Ausschließ-
lichkeit. Meine Aufgabe ist es, die zu unter-
stützen, die durch die Anwesenheit der AfD
beispielsweise in Kulturausschüssen ge-
schwächt oder behindert werden. Es gibt
hier Schulungen, es gibt gibt Netzwerke,
die entstehen. Wir waren unzureichend
vorbereitet auf die Entschlossenheit der
Rechten, die kulturelle und demokratische
Strukturen und Institutionen immer mit
Wonne stören. Geschützt und unterstützt
werden müssen vor allem Vereine, die
hauptsächlich auf der Basis von Ehrenamt
arbeiten, damit sie nicht mehr in Anfragen
und Unterstellungen untergehen, sondern
ihre eigentliche Arbeit verrichten können,
die häufig Bildungsarbeit ist.
Ich denke an Christiane Rösingers Lied
„Lob der stumpfen Arbeit“. Ja, stumpfe
und ausdauernde politische Arbeit muss
geleistet werden. Auch die Arbeit des Sich-
Informierens: Was ist los? Was ist wirklich
los? Was fehlt? Worum geht es? Ganz wich-
tig hierbei die Frage: Hä? Und die Antwort
„Ich bin da“ auf die Frage: „Wo bist du?“
Wir haben jetzt Klarheit. Fast jeder drit-
te Mensch Sachsens hat die AfD gewählt,
und ich zähle aus. Ich zähle 1,2,3. Das ist
meine Privatzählung für mehr Anschau-
lichkeit. Ich schaue auf dieses Bundes-
land, ich schaue auf Wartende an Bahnstei-
gen, auf die Zuschauerinnen im Kino, auf
die Eltern beim Bringen und Abholen der
Kinder, auf Live-Übertragungen aus Stadi-
en, auf die Nachbarschaft und zähle 1,2,3.
Dieses Wahlergebnis kam nicht überra-
schend. Spätestens seit dem sogenannten
Trauermarsch in Chemnitz konnte jeder
Bescheid wissen. Dort konnte abgelesen
werden, wie es mit den rechten Kräften
und ihrer Macht in Sachsen aussieht. Dort
konnte (wenn man mal abließ von denen,
die ihre Hintern und den Hitlergruß zeig-
ten, also abließ von den offensichtlich
Rechten) auch gesehen werden, dass die
alltäglich und friedfertig anmutende Be-
völkerung sich beim vermeintlichen Ree-
nactment der Wende permanent selber
ins Recht setzt und sich ungeachtet ihrer
Macht für permanent ignoriert hält und zu-
dem glaubt, sie gehe da nicht nur für sich

selbst auf die Straße, sondern tue das für
alle, beispielsweise auch für mich, sicher-
lich auch für Sie, der oder die Sie das hier le-
sen und vielleicht kein Interesse haben,
von diesem Teil der Bevölkerung vertreten
zu werden. Wie ich müssten Sie dieser Ver-
einnahmung dann widersprechen.
Ich sage hier ein letztes Mal, dass ich
sehr wohl davon ausgehe, dass vielen der
Menschen, die dort demonstrierten, Un-
recht widerfahren ist, dass sie nicht aus-
reichend und viel zu spät angehört wur-
den. Worauf ich hinaus möchte, ist eben je-
ner 1. September 2018, der Tag also, an
dem die AfD eine Demonstration für den
gewaltsam zu Tode gekommenen Daniel
H. organisiert hatte. Denn die Ereignisse
des vergangenen September zeigen an-
schaulich die aktuelle Verfassung vieler
Menschen dieses Bundeslandes.
Ich wollte und könnte ausführlich wer-
den. Ich war vor Ort, habe viel gesehen, fo-
tografiert, notiert und in Tonaufnahmen
festgehalten. Aber davon zu erzählen kos-
tet mich zu viel Kraft. Betrachten wir die
Politik der Sichtbarkeit, ist es angezeigt,
gut zu überlegen, was man durch Wieder-
holung zwangsläufig verstärkt. Ich möch-
te also lediglich sagen: Ich habe an diesem
Tag gesehen, dass die Bürgerlichen (das
Wort bürgerlich gehört jetzt der AfD, es
meint von nun an ein anderes bürgerlich
als das bürgerlich zuvor) sich massiv ent-
rechtet fühlen, die Polizei als Verräterin be-
trachten und das nächste Messerattentat,
die nächste Vergewaltigung durch Einwan-
derer bevorstehen sahen. Mit ihrer Brav-
heit und Duldsamkeit haben sie jahrelang
in den Staat investiert und wollen diese In-
vestitionen nun vergütet sehen. Sie sind ei-
ne hoch emotionalisierte Masse, Reservis-
ten eines möglichen Aufstandes. Ich habe
gesehen, dass die Demonstrierenden vor
der Gewalt nicht zurückschrecken. Ich ken-
ne den militarisierten Hintergrund der
rechten Bewegung. Sie suchen den Fun-
ken, der eine Explosion auslöst, aus der
ein Bürgerkrieg werden kann. Das ist kei-
ne Übertreibung. Da schließe ich mich der
Position von Philipp Ruchs Essay „Schluss
mit der Geduld“ vollständig an.
In meiner Kindheit war der 1. Septem-
ber der Weltfriedenstag. Der 1. September
2018 hat mich erschüttert. Ich habe bis heu-
te nicht überwunden, dass sich die Demon-
stration der Rechten als Symbol einer wei-
ßen Rose bediente. Welche Unverfroren-
heit. Welche Veranschaulichung aller Re-
spektlosigkeit, die von den Rechten
kommt.
Ich habe an diesem Tag ein Foto ge-
macht, das in einiger Entfernung den Laut-
sprecherwagen der Polizei zeigt. Das Bild
lässt nicht hören, mit welch unglaublicher
Sanftmut der Sprecher die sich noch auf
dem Platz befindenden Demonstrierenden
auffordert, nach dem offiziellen Veranstal-
tungsende nun bitte die Straße gen Norden
zu verlassen. Noch nie, noch nie, noch nie
habe ich die Polizei dermaßen sanft spre-
chen hören, dermaßen auf Beruhigung ab-
zielend. Das Bild zeigt die Straße vor dem
Karl-Marx-Monument, dahinter das Mer-
cure-Hotel, ich dem ich übernachtet habe,
dazu einige Menschen. Schwerer zu erken-
nen sind die weißen Rosen, die unter die
Scheibenwischer des Lautsprecherwagens
der Polizei gesteckt wurden. Das war keine
lapidare Geste, das war das Symbol eines

gerade noch ausbleibenden Angriffs, der
Ausdruck von Abscheu und Überlegenheit.
Unter jedem Scheibenwischer befanden
sich weiße Rosen, und ich verstand, dass es
als Provokation verstanden worden wäre,
hätten die Polizisten die Rosen entfernt.
Vom Hotelzimmer aus sah ich die De-
monstrierenden auch Stunden nach dem
offiziellen Ende der Veranstaltung nicht
zur Ruhe kommen. Sie feuerten sich an,
peitschten sich auf. Ich schaute und ver-
stand, was ich zu gern vergesse: Mit denen
ist kein Reden mehr. Die Annahmen dieser
Leute, in deren Gesellschaft ich aufge-
wachsen bin, sind vollkommen falsch. Sie
setzen sich selbst ins Recht und leben in ei-
ner Welt voller Feinde. An diesem Abend
verabschiedete ich mich von diesen Leu-
ten, verabschiedete mich aus deren Gesell-
schaft, um diesen Abschied dann noch ein-
mal ein bisschen zu vergessen. Ich lebe lie-
ber mit der Annahme einer in Vielfalt kon-
zipierten, vom Austausch lebenden Ge-
meinschaft, als dass ich ausschließe.

Die, die ich für mich nun ausgeschlos-
sen habe, die ich von Kompetenteren be-
gleitet wissen möchte, die ich nicht ernst
nehme, weil sie menschenfeindliche, ein-
engende Schlüsse ziehen, deren Macht ich
jedoch nicht unterschätze, und die ich
fürchte – diese von mir Ausgeschlossenen
sind ein großer Teil der Gegenwart Sach-
sens. Sie sind rigoros und gefährlich. Ich
beschuldige sie der Zerrüttung von Bil-
dung, Kultur, Frieden und Diversität. Sie
sind Beschädiger und fürchten zugleich
mehr Dinge, als irgendwer fürchten kann.
Ihre Taten und Sabotagen in der Gegen-
wart zu beschreiben widerstrebt mir. Den-
noch ist es wichtig, dass jede Behinderung
demokratischer Arbeit, jede nervige Anfra-
ge dokumentiert wird. Es wird wichtig
sein, zwischen erfassungswürdiger Diffa-
mierung und Nerverei zu unterscheiden.
Philipp Ruch fragt in „Schluss mit der
Geduld“: Wofür bist du bereit zu sterben?
Vor lauter Schreck möchte ich die Frage
umformulieren und antworte: Ich will da-
für leben, dass jenen Nationalisten und
Rassisten, die bereitwillig glauben, sie lä-
gen richtig, wenn sie diskriminieren und
andere verdrängen, die eigenen Überzeu-
gungen und Taten zu Hindernissen wer-
den. Ich will Liebe und Bewegungsfreiheit
leben und gelebt sehen.
Viele Grüße also von einer Sächsin aus
Sachsen. Das Wetter ist heute fantastisch
und das Essen ist gut.
P.S.: Wollen Sie nicht die demokrati-
schen sächsischen Vereine, die vor Ort al-
les geben, um der AfD standzuhalten, ganz
Kir-Royal-mäßig zuscheißen mit Geld?
Das wäre nicht die Rettung, aber doch eine
signifikant feine Geste. Oder, um es mit
Rio Reiser zu sagen: „Der Traum ist aus.
Aber ich werde alles geben, dass er Wirk-
lichkeit wird.“ Vielen Dank im Voraus.

Heike Geißlerwurde 1977 in Riesa geboren. Ihr De-
bütroman „Rosa“ erschien 2002 (DVA), ihr Buch
„Saisonarbeit“übereinen prekären Job im Lager
von Amazon 2014 bei Spector Books.

Ich bin nach wie


vor dafür, dass mit allen


gesprochen wird,


aber ich kann das nicht


mehr leisten.“


Kurz vor ihrem Untergang war die DDR
noch einmal sehr erfolgreich. Und zwar
im Ausland, in Klagenfurt. Autoren, die
der DDR-Literatur zugerechnet wurden,
gewannen die vier letzten Ingeborg-Bach-
mann-Wettbewerbe vor dem Fall der
Mauer. Die Ostberlinerin Katja Lange-
Müller, Siegerin des Jahres 1986, lebte da
zwar seit zwei Jahren in Westberlin, und
Wolfgang Hilbig, Sieger im Sommer
1989, hatte bereits 1985 mit einem Reise-
Visum die DDR verlassen, aber das imagi-
näre Trikot ihrer Herkunft war ihnen
geblieben. Angela Krauss war 1988 aus
Leipzig angereist, Uwe Saeger 1987 aus
Uckermünde.
Das Literarische Colloquium Berlin
und die Österreichische Botschaft warfen
in ihrer gemeinsamen zweitägigen Veran-
staltung „Klagenfurt revisited“ dreißig
Jahre nach dem Mauerfall einen Blick zu-
rück auf diese eigentümliche Serie.

Rasch wurde klar, dass sie erst im Rück-
blick als solche erscheint und dass ihr we-
der eine List der Geschichte noch ein kul-
turpolitisches Kalkül der jeweiligen Jury
zugrunde lag, sondern der gewöhnliche
Gang der Dinge. Thomas Wegmann von
der Universität Innsbruck, der das Presse-
echo ausgewertet hat, zeigte in einer Blü-
tenlese von Zitaten, wie sich die Zäsuren
überlagerten. Ebenso viel Aufmerksam-
keit wie die DDR-Autoren fand der medi-
enkritisch debattierte Einzug der Fern-
sehkameras in Klagenfurt, und über-
haupt firmierte der Wettbewerb zwar un-
ter dem allumfassenden Titel „Tage der
deutschsprachigen Literatur“, aber der
Proporz der Herkunftsländer wurde all-
seits aufmerksam registriert.
Sigrid Löffler, Jurorin des Jahres 1987,
damals, in der Zeit der Waldheim-Affäre,
tief in den publizistischen Kampf gegen
die Legende verstrickt, Österreich sei das
erste Opfer Hitlers gewesen, sah den Wett-
bewerb zumal auf der Jurorenebene
durch die Bundesdeutschen dominiert,
denen gegenüber die Teilnehmer aus der
DDR als natürliche Bündnispartner der
kleineren Länder, Österreichs und der
Schweiz, erscheinen konnten.
Auf der Jury-Seite saß 1987 wie Sigrid
Löffler die Schriftstellerin Helga Schu-
bert aus der DDR, nicht eben eine Vertrau-
ensperson der kulturpolitischen Behör-
den ihres Staates. Man hatte ihr als zwei-
ten nach Klagenfurt entsandten Juror
Werner Liersch an die Seite gestellt, ei-
nen engen Vertrauten von Hermann
Kant, dem Vorsitzenden des Schriftstel-
lerverbandes. Helga Schubert hat nach
1989/90 in ihre Stasi-Akte Einblick ge-
nommen und berichtete nicht nur über
die Manöver, mit denen ihr eine ersehnte
Teilnahme am Wettbewerb 1980 unter-
sagt wurde, sondern auch über eine Hin-
tergrundvoraussetzung der Ausreisege-
nehmigungen nach 1986. Sie bestand dar-
in, dass Marcel Reich-Ranicki, Grün-
dungsfigur des Wettbewerbs seit 1977, im
Jahr 1986 seine Tätigkeit als Jury-Spre-
cher beendet hatte. An seine Stelle trat Pe-
ter Demetz, in Prag geborener Literatur-
professor aus Yale. „Der bekannte Anti-
Kommunist Reich-Ranicki“ war aus
Sicht der DDR-Behörden Beleg für den
Auftrag des Klagenfurter Wettbewerbs,
DDR-Autoren zu manipulieren und ge-
gen ihren Staat in Stellung zu bringen.
Mit seinem Abgang wurde das rivalisie-
rende Interesse an einer kulturpoliti-
schen Profilierung der DDR auf internati-
onalem Terrain stärker. Die Presseschau
von Thomas Wegmann zeigte, dass aber
in der DDR – wie generell über den Bach-
mann-Wettbewerb – auch über die Erfol-
ge von Angela Krauss und Uwe Saeger al-
lenfalls in kargen Meldungen so knapp
wie möglich berichtet wurde.
Das erschien plausibel, als Angela
Krauss und Uwe Saeger im LCB am Wann-
see gemeinsam mit Katja Lange-Müller
noch einmal ihre Siegertexte lasen. Es
gab darin wenig Aufbruch und Zukunft,
eher Abbrüche und Untergeher, sei es in
Gestalt des eigenen Vaters in „Der
Dienst“ bei Angela Krauss, sei es in Ge-
stalt eines Genossen, der beim Staatsfei-
ertag auf der Ehrenbühne steht in „Ohne
Behinderung, ohne falsche Bewegung ...“
bei Uwe Saeger. Die Ausweglosigkeit bei-
der Texte wurde durch den Kontrast zum
sprachspielerisch-antiautoritären Ton in
Katja Lange-Müllers Groteske „Kaspar
Mauser – Die Feigheit vorm Freund“
nicht geringer. Hätte auch noch der 2007
verstorbene Wolfgang Hilbig seine gran-
diose Erinnerung an einen Jungen vorge-
tragen, der er selbst war und den das pani-
sche Gefühl des Verlassenseins in die
„gottlose Beschäftigung des Schreibens
treibt“, die Dämonen aus der DDR wären
vollständig gewesen.
Wenn Volker Hage, bundesrepublika-
nischer Kritiker und Bachmann-Juror
von 1988 bis 1994, auf den Ernst der DDR-
Literatur in der Vorwendezeit und die
Spielformen im Westen zurückblickte,
zeichnete sich ein Wahrnehmungsmus-
ter ab, das in den Neunzigerjahren an Ein-
fluss gewinnen sollte, die Opposition zwi-
schen ostdeutschem „Pathos“ und west-
deutscher „Ironie“. Was aber, wenn die
Siegertexte von damals in die Gegenwart
zurückkehrten? Sie hätten, sagte die aktu-
elle Bachmann-Jurorin Insa Wilke, „im
heutigen Klagenfurt keine Chance“. Of-
fen blieb, ob dies ein Urteil über die Texte
oder die Kritik war. lothar müller

Eins, zwei, drei


Überraschend kam das nicht: Nach den Landtagswahlen im Osten, bei denen fast jeder Dritte die AfD gewählt hat, weicht der


Schock einer neuen Entschlossenheit, zu handeln und nicht auf die Sabotagen der Rechten einzugehen.Von Heike Geißler


Ich bin ein bisschen spät dran


mit dem Anwenden der


Demokratie. Ich war geschockt


Es wird wichtig sein, zwischen
Diffamierung und
Nerverei zu unterscheiden

Letzte Ausfahrt


Klagenfurt


Wie Autoren aus der DDR den
Bachmann-Wettbewerb gewannen

Wie wäre es, wenn die
Siegertexte von damals an den
Wörthersee zurückkehrten?

18 FEUILLETON LITERATUR HF2 Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


„Der 1. September 2018 hat mich erschüttert“ schreibt die Schriftstellerin Heike Geißler über den sogenannten Trauermarsch der Rechten in Chemnitz. Seit diesem Tag habe man über den Ausgang der Landtagswah-
len Bescheid wissen können. FOTO: REUTERS

Free download pdf