Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

A


m Abend des 28. Januar 2015
nimmt die ungewöhnliche Kri-
minellenkarriere von Heiko K.
eine verheerende Wende. Er hat
am Nachmittag seine Frau be-
sucht, die in der Nähe von Neuwied wohnt,
und fährt nun wieder zurück zur Justizvoll-
zugsanstalt in Diez, einer Nachbarstadt
von Limburg. Heiko K., damals 44 Jahre
alt, war zu 21 Monaten Freiheitsstrafe ver-
urteilt worden, wegen Fahrens ohne Fahr-
erlaubnis. Davon hat er 15 Monate abgeses-
sen. Wenige Wochen nach seiner Inhaftie-
rung hat man ihn in den offenen Vollzug
verlegt. Von den JVA-Beamten, die zu die-
ser Zeit für Heiko K. zuständig sind, wird er
als „redseliger, freundlicher und rationa-
ler Gefangener“ eingeschätzt. Er habe sei-
ne Verfehlung eingesehen, sei bereit, sein
Verhalten zu ändern. Diese Einschätzung
wird später die Justiz beschäftigen, bis in
die Gegenwart: Der Bundesgerichtshof ver-
handelt dazu am kommenden Mittwoch.
Offener Vollzug, das bedeutet für Heiko
K., er kann den Kontakt zur Familie pfle-
gen und außerhalb der Anstalt einer gere-
gelten Arbeit nachgehen. Eine Zeitarbeits-
firma vermittelt ihn als Produktionshelfer
weiter. In den Augen der Vollzugsbeamten
ist er ein Mustergefangener, als er am
28.Januar 2015 mit seinem roten VW Pas-
sat auf der Autobahn A3 Richtung Frank-
furt den Elzer Berg hinabfährt. Das Pro-
blem: Er fährt wieder ohne Fahrerlaubnis.
Ein spätsommerlicher Morgen in Zwei-
brücken. Die Sonne strahlt auf die roten
Ziegelmauern der Justizvollzugsanstalt.
Das Gefängnis wirkt wie ein Klotz, der aus
der Umgebung mit ihren geduckten Wohn-
häusern herausragt. Bis zu 500 Häftlinge
sitzen hier. Heiko K. wurde aus Diez hier-
her verlegt, eine Konsequenz seiner Fahrt
Anfang 2015. Er hat ein Treffen erst abge-
lehnt, er wollte die Vergangenheit hinter
sich lassen. Dann überlegte er es sich an-
ders. Vielleicht könne er dazu beitragen,
dass anderen Menschen ein Schicksal wie
seines erspart bleibt, schrieb er mit ordent-
licher Druckschrift in einem einseitigen
Brief. Auch die JVA gab ihren Segen, das Ge-
spräch könne im Büro der stellvertreten-
den Anstaltsleiterin stattfinden.


Wer Eingangsschleuse und Passkontrol-
le hinter sich gelassen hat, fühlt sich auf
dem Weg durch die Flure des Verwaltungs-
trakts der JVA nicht anders als in einem
halbwegs modernen Behördengebäude.
Büros mit den üblichen Zweckmöbeln, die
an diesem Tag von der Sonne hell erleuch-
tet werden. Nur der Vollzugsbeamte und
die schweren Türen, die er immer wieder
aufsperrt, erinnern daran, wo man ist.
Sandra Gauf, die stellvertretende An-
staltsleiterin, ist eine Frau mit pfälzischem
Dialekt und großer Brille, die oft und fröh-
lich lacht und dabei so gar nicht dem Kli-
schee des grimmigen Gefängnisdirektors
entspricht. Sie greift zum Telefon und teilt
mit, der Häftling Heiko K. könne jetzt zuge-
führt werden. „Sehen Sie, da kommt er
schon“, sagt sie und deutet aus dem Fens-
ter. Heiko K. erscheint, begleitet von einem
uniformierten JVA-Mitarbeiter, in einem
verglasten Übergang, der Verwaltung und
Häftlingstrakt miteinander verbindet.
Dann steht er im Büro. Gauf begrüßt ihn,
stellt einen Kaffee vor ihn auf den Tisch.
Dann arbeitet sie weiter.


Heiko K. trägt eine blaue Latzhose, ein
beigefarbenes T-Shirt, dunkles kurz ge-
schorenes Haar. Sein Mund wird von
einem dichten Bart umrahmt. Er kommt
gerade von der Arbeit in der Schuhmache-
rei. In Zweibrücken werden Schuhe für Ge-
fangene in Rheinland-Pfalz gefertigt. Hei-
ko K. hat Schuhmacher gelernt und war als
Fachkraft in der JVA Zweibrücken durch-
aus willkommen. Außerdem gehört er zu
den Austeilern, also jenen Insassen, die
den Gefangenen das Essen in die Zellen
bringen. Er ist betont höflich, bedankt sich
mit einem Kopfnicken für den Kaffee. Wie
schon bei früheren Haftaufenthalten ist er
ein vorbildlicher Gefangener, es gibt kei-
nen Anlass zu Beanstandungen.
In Freiheit gelang ihm das weniger.
Ein Autofahrer-Portal im Internet be-
zeichnet den Elzer Berg als bekanntesten
Berg Deutschlands nach der Zugspitze.
Nach einer Serie schwerer Unfälle wurde
dort in den Siebzigerjahren eine Radaranla-
ge installiert, die auslöst, sobald ein Auto
schneller als 100 km/h fährt. Hunderttau-
sende Verkehrssünder hat sie geblitzt,
auch den Sänger Campino von denToten
Hosen, den Schauspieler Raimund Harms-
torf, den argentinischen Fußballtrainer Cé-
sar Luis Menotti, wie dieBild-Zeitung be-
richtete. Kaum bekannt ist, dass die Polizei
vor einigen Jahren dort auch ein automati-
sches Lesegerät für Kfz-Kennzeichen in-
stalliert hat. Das wird Heiko K. zum Ver-
hängnis. Er hat das Lesegerät schon in den
Tagen zuvor passiert, immer etwa um die-
selbe Zeit, gegen 19 Uhr. An seinem Auto
war ein Kennzeichen befestigt, das laut Po-
lizei als gestohlen gemeldet war. So steht
es in den Gerichtsunterlagen.
„Das ist falsch“, sagt Heiko K. jetzt, drei-
einhalb Jahre später. Das Nummernschild
sei nicht gestohlen gewesen. „So was fin-
det man auf dem Schrottplatz“, sagt er. „Da
sind dann neue Plaketten draufgemacht
worden.“ Er redet ruhig, die Arme ver-
schränkt. Manchmal beugt er sich leicht
nach vorne, wenn er etwas erklärt. Manch-
mal will er auch nichts sagen, etwa zur Fra-
ge, woher denn die Plaketten stammten
und wer sie draufgemacht hat. Dann schüt-
telt er nur den Kopf.
Die Polizei hat das Nummernschild je-
denfalls zum Anlass genommen, um sich
am Abend des 28. Januar 2015 am Elzer
Berg zu postieren und den Wagen von Hei-
ko K. abzupassen. Es ist dunkel, die Fahr-
bahn nass. Als Heiko K. an den Polizisten
vorbeifährt, setzen sich die Einsatzfahrzeu-
ge in Bewegung. Ein Wagen, sagt Heiko K.,
überholt ihn, auf dem Dach leuchtet ein Si-
gnal: „Bitte folgen“. Zwei weitere Polizei-
fahrzeuge tauchen auf, eines hinter ihm,
das andere links von ihm. Die Beamten hat-
ten vor dem Einsatz besprochen, ihn auf
einen Parkplatz kurz hinter der Ausfahrt
Limburg Nord zu lotsen und dort seine Pa-
piere zu prüfen. Heiko K. drosselt zunächst
die Geschwindigkeit. Die Polizisten haben
den Eindruck, er wolle sich ihren Anwei-
sungen fügen. Plötzlich beschleunigt er,
schert nach rechts aus, fährt über einen
Grünstreifen und biegt in die Abfahrt Lim-
burg Nord. Es gelingt ihm, zwei Polizeifahr-
zeuge abzuschütteln. Sie haben die Aus-
fahrt schon passiert und müssen auf dem
Standstreifen zurücksetzen.
Warum hat er sich nicht kontrollieren
lassen? Panik, sagt Heiko K., man könne
gar nicht beschreiben, was einem da im
Kopf vorgehe. Ein Polizeiwagen habe ver-
sucht, ihn zu rammen. Also habe er ver-
sucht zu entkommen. Er habe gedacht:
„Mist, jetzt haben sie mich. Wieder in den

Knast.“ Seine Vollzugslockerungen stan-
den auf dem Spiel, eine weitere Verurtei-
lung drohte, außerdem, sagte Heiko K. vor
Gericht, habe seine Frau zu verstehen gege-
ben, dass ihre Ehe beendet sei, sollte er
noch mal mit dem Gesetz in Konflikt kom-
men. Heiko K. spricht auch über Privates
eher nüchtern und distanziert, als ginge es
nicht um sein eigenes Leben. Das Gericht
jedenfalls fand seine Erklärungen nicht
überzeugend.
Heiko K. versucht also an dem Abend,
auch den dritten Einsatzwagen abzuhän-
gen. Statt auf der Abfahrt rechts Richtung
Limburg zu fahren, wechselt er auf die lin-
ke Seite, entgegen der Fahrtrichtung. Die
Spur führt auf die Bundesstraße 49, wo
Heiko K. seine Geisterfahrt mit Tempo 100
bis 120 fortsetzt. Es handelt sich um eine
zweispurige Fahrbahn, Heiko K. zieht zu-
nächst auf die Überholspur, immer noch
folgt ihm ein Polizeifahrzeug.

Laut Gerichtsunterlagen kommt Heiko
K. „die Zeugin Y.“ entgegen, die gerade auf
die rechte Spur wechseln will. Als sie den
Wagen von Heiko K. bemerkt, unternimmt
sie „eine Vollbremsung, so dass das Anti-
blockiersystem ihres Fahrzeugs an-
sprang“. Dann begegnen Heiko K. „die Zeu-
gin M.“, daneben ein weiteres Fahrzeug.
Die Zeugin M. fährt scharf rechts Richtung
Standspur, wo sie dann abbremst. Das an-
dere Fahrzeug bremst ebenfalls ab und
steuert an die Mittelleitplanke. Heiko K.
passiert „die derart gebildete Gasse, kaum
dass sie entstanden war, mit unverminder-
ter Geschwindigkeit“.
Einige Hundert Meter danach wechselt
Heiko K. auf die Standspur. „Ich wollte die
entgegenkommenden Fahrer nicht gefähr-
den“, sagt er. Laut Gerichtsunterlagen aber
kommen ihm fünf weitere Zeugen entge-
gen, eine Fahrerin reißt ihr Lenkrad her-
um, ein anderer wechselt „zur Sicherheit“
auf die Überholspur. „Kurz vor Strecken-
kilometer 1.650“, heißt es in den Unter-
lagen, leitet Heiko K. dann einen Spurwech-
sel ein, Richtung Überholspur.
Er habe die Standspur verlassen wollen,
erklärt er später. Ein anderes Auto sei ihm
auf dem Einfahrtsstreifen von einem Park-
platz entgegengekommen. Er habe eine
Kollision vermeiden wollen. „Die Straße

geht an der Stelle bergauf, auf eine Kuppe“,
deshalb habe er den Kleinwagen nicht gese-
hen, der von der anderen Seite der Kuppe
gekommen sei. Auf der Kuppe „hat man
sich dann getroffen“. So sagt er das.
Der entgegenkommende Wagen wird
23 Meter zurückgeschleudert und über-
schlägt sich. Die Insassin, eine 21-jährige
Frau, stirbt noch am Unfallort. Heiko K.
kommt mit einer Unterschenkelfraktur
und Prellungen davon, er bleibt bei Be-
wusstsein. Ein Polizist, der ihm gefolgt
war, läuft zu seinem Wagen und schreit ihn
an: „Für die Scheiße, die du hier gebaut
hast, müsste man dir eigentlich in die Fres-
se hauen.“ Das alles geht aus Unterlagen
des Landgerichts Limburg hervor.
Michael Sagebiel, Leiter der Staatsan-
waltschaft Limburg, war der Ankläger im
Prozess gegen Heiko K., er plädierte auf
Mord. Das Gericht folgte ihm und verurteil-
te Heiko K. zu einer lebenslangen Freiheits-
strafe. Auch mit mehr als drei Jahren Ab-
stand denkt Sagebiel nicht anders über
den Fall. Er verweist auf die illegalen Stra-
ßenrennen, die zuletzt in verschiedenen
Städten Deutschlands Empörung auslös-
ten, weil wiederholt Unbeteiligte starben.
„Ich verstehe nicht, warum das nicht öfter
zu einer Mordverurteilung führt.“ Wer mit
160 Sachen durch die Stadt rase, nehme
„billigend den Tod von Menschen in Kauf“.
Dasselbe müsse sich Heiko K. vorwerfen
lassen, „er war nachts unterwegs, bei re-
gennasser Fahrbahn, in entgegengesetzter
Richtung“. Heiko K. distanziert sich von
den Rasern in den Städten. Er sagt, er habe
sich, gerade weil er ohne Fahrerlaubnis un-
terwegs war, immer an jede Verkehrsregel
gehalten, um nur nicht aufzufallen.
Staatsanwalt Sagebiel lässt es nicht bei
der Mordanklage bewenden. Noch im Ver-
fahren gegen Heiko K. kündigt er an, auch
gegen die Vollzugsbeamten zu ermitteln,
die dessen Hafterleichterungen geneh-
migt hatten. Er sei entsetzt gewesen, sagt
er, als er das Vorstrafenregister von Heiko
K. sah. „Ich habe mich sofort gefragt, wie
konnten die dem Freigang geben?“
Heiko K., auch das führte das Landge-
richt Limburg lang und breit aus, war wäh-
rend seiner tödlichen Geisterfahrt nicht
zum ersten Mal ohne Führerschein unter-
wegs. Schon 1986 wurde er erwischt, als
16-Jähriger. Mit 17 verbüßte er wegen des-
selben Delikts eine Woche Jugendarrest.
Kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag
krachte er mit dem Wagen seiner Mutter in
ein anderes Auto und beging Fahrerflucht.
So ging es weiter, in Abständen von zwei
bis fünf Jahren stand er vor Gericht. Er be-
ging auch Diebstähle, vor allem als er jün-
ger war. Ende 1990 brach er zusammen
mit einem Freund 55 Autos auf – innerhalb
eines Monats. Sie unternahmen damit
Spritztouren, ließen die Autos dann „teil-
weise an beliebigen Orten stehen, teilweise
versenkten sie diese im R.“, so steht es in
den Gerichtsunterlagen. Heiko K. wohnte
damals in einem Dorf nahe dem Rheinufer.
Auch eine Musikkassette hat er mal ge-
klaut. Der Titel: „König der Landstraße,
Folge 2“. Vor allem aber fuhr er Auto, ohne
Führerschein.
22 Mal wurde er deswegen verurteilt
zwischen seinem 17. und 44. Lebensjahr,
zu insgesamt 14 Jahren Haft, teilweise auf
Bewährung. Weil er in dieser Zeit mehr-
mals umzog, befassten sich verschiedene
Gericht mit ihm. Mehrere davon wiesen
auf seine Unbelehrbarkeit hin. Schon 1989
heißt es in einem Urteil: „Der Angeklagte
setzt sich seit einigen Jahren konsequent
über das Verbot des Fahrens ohne Fahr-

erlaubnis hinweg.“ Im Herbst 2002 dann:
„Der Angeklagte ist offensichtlich nicht be-
reit, sich an Regeln und Normen zu halten.“
Und Anfang 2005: Der Angeklagte habe
„eine ausgesprochen verfestigte Neigung
zum Fahren ohne Fahrerlaubnis“.
Heiko K. sagt, ein Freund der Mutter ha-
be ihn zum Autofahren angestiftet. Dieser
Freund habe Kinder nie gemocht und ge-
hofft, der damals 13-Jährige werde sich zu
Tode rasen. Später, die Mutter hatte sich
da längst von dem Mann getrennt, habe er
das Auto benutzt, um zur Arbeit zu fahren.
Die Familie wohnte auf dem Land, der Bus
hielt dort nur dreimal am Tag. Also fuhr er
mit dem Auto zur Arbeit. „Ich wollte doch
auf keinen Fall meine Arbeit verlieren“,
sagt er. Heute wisse er, dass er sich natür-
lich nicht ans Steuer hätte setzen dürfen.
Im Lauf der Jahre habe er verschiedene
Partnerinnen gehabt, die er mitversorgen
musste. Das bedeutete für ihn: weiter arbei-
ten, weiter Auto fahren. Auch seine Frau,
die er mit 38 heiratete, wollte, dass er mit
ihr zum Einkaufen fährt. „Obwohl sie ge-
nau wusste, dass ich keine Fahrerlaubnis
hatte“, und dann sagt er, was er immer
sagt: „Aber natürlich hätte ich mich nie ans
Steuer setzen dürfen.“
An Einsicht hat es Heiko K. nie gefehlt.
In fast allen Urteilen gegen ihn wurde zu
seinen Gunsten ausgelegt, dass er seine
Schuld bereue. Staatsanwalt Sagebiel warf
genau das den angeklagten Vollzugsbeam-
ten vor: Sie hätten die Einlassungen von
Heiko K. „völlig unkritisch übernommen“.
Der habe in der Vergangenheit auf diese
Weise immer wieder Hafterleichterungen
erreicht. In der Praxis hätten seine Einsich-
ten „nachprüfbar zu keinerlei Verhaltens-
änderungen“ geführt.
Am 7. Juni 2018 spricht das Landgericht
Limburg zwei Vollzugsbeamte, die für die
Hafterleichterungen von Heiko K. mit ver-
antwortlich waren, wegen fahrlässiger Tö-
tung schuldig. Sie hätten pflichtwidrig ge-
handelt, ihre Prognose sei falsch gewesen.
Aus der Gefangenenakte sei ersichtlich ge-
wesen, dass von Heiko K. „mit hoher Wahr-
scheinlichkeit weitere Taten zu erwarten
waren“. Der Tod der 21-jährigen Frau wäre
„durch pflichtgemäßes Verhalten“ der bei-
den Angeklagten „vermeidbar gewesen“.
René Müller ist Vorsitzender des Bun-
des der Strafvollzugsbediensteten, der Ge-
werkschaft für JVA-Mitarbeiter. Er kennt
das Urteil. „Katastrophe“, sagt er. Wenn es
durch den BGH nicht aufgehoben werde,
könne er seinen Mitgliedern nicht mehr
raten, Gefangenen Vollzugslockerungen
zu gewähren. „Es handelt sich doch um Pro-
gnosen, die da ausgestellt werden.“ Die Kol-
legen könnten nicht in die Zukunft schau-
en, ob die Gefangenen wirklich straffrei
bleiben. Die Entscheidung des Landge-
richts Limburg hat bundesweit in den Haft-
anstalten Diskussionen ausgelöst. Nicht
wenige Juristen befürchten das Ende des
offenen Vollzugs in Deutschland.
„Käse“, sagt Staatsanwalt Sagebiel,
wenn er das hört. Wenn ein Chirurg bei ei-
ner Operation einen Fehler mache und des-
halb vor Gericht verurteilt werde, „dann hö-
ren die anderen Chirurgen doch auch nicht
mit dem Operieren auf“. Aber: Chirurgen le-
ben davon, Patienten zu operieren. Voll-

zugsbeamte dagegen können sich eine
Menge Scherereien sparen und das Leben
leichter machen, wenn sie Gefangene
nicht in den offenen Vollzug entlassen.
Erst recht, wenn der BGH das Urteil aus
Limburg bestätigen sollte.
Wäre der schreckliche Unfall, bei dem
die junge Frau starb, nicht zu vermeiden ge-
wesen, lange bevor Heiko K. von der JVA
Diez aufbrach? Wenn er viel früher schon
den Führerschein gemacht hätte? Und
nicht das Gefühl gehabt hätte, vor einer Po-
lizeikontrolle fliehen zu müssen? „Genau
das haben die Staatsanwälte und Richter
verhindert, die mich immer nur wegge-
sperrt haben“, sagt Heiko K. Zum ersten
Mal erhebt sich jetzt seine Stimme, Wut
wird spürbar und das Gefühl, ungerecht be-
handelt worden zu sein. Die Gerichte hät-
ten ja nicht nur Haftstrafen gegen ihn ver-
hängt, sondern ihm auch untersagt, den
Führerschein zu machen.
Weil er immer wieder erwischt und ver-
urteilt wurde, war es ihm seit der Volljährig-
keit fast durchgehend gerichtlich unter-
sagt, den Führerschein zu machen. Dabei
wurde bereits 1989 in einem Urteil ange-
regt, der damals 18-jährige Heiko K. solle
„möglichst schnell eine Fahrerlaubnis er-
werben, sodass er dann aus dem kriminel-
len Teufelskreis heraustreten kann“. Die
Voraussetzungen dafür seien nach Über-
zeugung des Gerichts durchaus gegeben.

Der Lüneburger Sozialwissenschaftler
und Jurist Bernd Maelicke ist 78 Jahre alt,
er hat sich ein Leben lang mit einem The-
ma beschäftigt, das in der Öffentlichkeit
auf konstantes Desinteresse stößt: der Re-
sozialisierung von Gefangenen. In seinem
kürzlich aktualisierten Buch „Das Knast-
Dilemma“ fasste er seine jahrzehntelan-
gen Erfahrungen zusammen. Die Gesell-
schaft, die Politik, die Medien – alle seien
auf den „vermeintlichen Königsweg“ fi-
xiert, schreibt er, das Wegsperren des
Täters. Völlig übersehen werde, dass fast
alle Verurteilten „irgendwann mal wieder
entlassen“ würden.
Angesprochen auf den Fall Heiko K.,
sagt Maelicke: Man hätte dem Mann einen
Bewährungshelfer zuordnen müssen, mit
der Auflage, den Führerschein zu machen.
Stattdessen habe man ihm genau das ver-
boten, und damit das Problem verschärft,
statt es zu lösen. Für Maelicke wirft der
Fall natürlich die Frage auf: Wenn es der
Justiz schon nicht gelingt, einen wie Heiko
K. wieder in die Gesellschaft einzuglie-
dern, was passiert dann erst mit den
Schwerverbrechern?
Heiko K. sagt, er habe in seinem Haft-
raum einen kleinen Schrein eingerichtet,
mit einem Foto des Unfalls und einem Ro-
senkranz darum. Er bete für die Frau, die
er totgefahren hat. Nie wieder wolle er sich
ans Steuer setzen, beteuert er, zu sehr be-
laste es ihn, für den Tod eines Menschen
verantwortlich zu sein. Dass die Vollzugs-
beamten verurteilt worden seien, finde er
ungerecht. „Die Beamten können über-
haupt nichts dafür, dass die Frau starb.
Schuld war ich.“
Heiko K. wird den Rest seiner Haftzeit in
der JVA Zweibrücken verbringen. Es ist
übrigens die einzige Haftanstalt Deutsch-
lands, in der auch Gefangene im geschlos-
senen Vollzug den Führerschein machen
können.

Neben der Spur


22 Malohne Führerschein erwischt:


Beim letzten Mal fährt Heiko K. eine Frau tot.


Wie konnte es so weit kommen?


von rainer stadler


Heiko K. 2015 vor Gericht in Limburg.
Damalswurdeer wegen Mordes verur-
teilt. FOTO: SASCHA DITSCHER / RHEIN-ZEITUNG

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 HF2 DIE SEITE DREI 3


Die Polizei wollte
Heiko K. stoppen, da flüchtete
er und raste in den
Wagen einer 21-Jährigen.
FOTO: BASTIAN KIENITZ / MAURITIUS IMAGES

Wenn man ihm erlaubt hätte,
den Führerschein zu machen,
wäre alles anders gekommen?

Immer wieder hat er gesagt,
dass er seine Schuld bereue.
Dann stieg er wieder ins Auto

Er war immer ein vorbildlicher


Gefangener. In Freiheit


war er weniger vorbildlich

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