Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
FOTO: FLORIAN PELJAK

U


nd wieder ist es das Geld, das
am Ende die große Koalition
zusammenhält. Schon vor
knapp zwei Jahren hatten
CDU, CSU und SPD ganze
Nächte zu reden, bis sie sich auf ein Pro-
gramm zum Regieren einigen konnten.
Schließlich gelang es dank des finanziel-
len Kitts von 46 Milliarden Euro. In der
Nacht zum Freitag brauchte es sogar
mehr als 50 Milliarden Euro, bis sich CDU,
CSU und SPD auf ein großes Klimaschutz-
paket verständigen konnten. Jetzt steht
die Frage im Raum, was es taugt.
Dass es für die Koalition teuer werden
würde, war von Beginn an klar. Noch in
der letzten Verhandlungsnacht summier-
ten sich die Widersprüche zwischen den
Regierungspartnern auf 70 Seiten. Zu-
gleich war der Einigungsdruck enorm. Es
war ja nicht nur vorgesehen, Maßnahmen
zu beschließen, damit die drittgrößte
Volkswirtschaft weltweit die eigenen Kli-
maziele erreicht. Sondern die große Koali-
tion hatte auch das eigene Überleben an
das Klimaschutzpaket geknüpft. Wenn es
nicht gelänge, einen großen Wurf zu ma-
chen, habe man den Anspruch aufs Weiter-
regieren verwirkt, hatte Vizekanzler Olaf
Scholz gesagt. Wobei das natürlich auch
an die Adresse seiner SPD gerichtet war,
die gerade eine neue Parteispitze sucht
und über den Verbleib in der Koalition
streitet. Scholz, der sich selbst als Partei-
chef bewirbt, sendete das Signal: Genos-
sen, wir machen jetzt ein ambitioniertes
Gesetz und müssen dann weiterregieren,
um es umzusetzen.
Auch die Union ist daran interessiert,
dass es erst einmal ohne Verwerfungen
weitergeht. Widerspruch aus ihren Rei-
hen gab es jedenfalls nicht. Im Gegenteil;
bemerkenswert waren die Zugeständnis-
se. Die CSU, bisher vom Anspruch beseelt,
nichts verbieten, aber alles anreizen zu
wollen, stimmte plötzlich Verboten zu,


wie sie die SPD gefordert hatte. Noch über-
raschender: Die Union ist bereit, verdeck-
te Steuererhöhungen in Kauf zu nehmen.
Denn nichts anderes ist der Einstiegspreis
für den Handel mit Emissionsrechten für
Gebäude und Verkehr. Für die Anhänger
der Union mag das auf den ersten Blick er-
nüchternd sein, aber hier lohnt ein zwei-
ter Blick. Indem die Unionsparteien ein
wenig über ihre eigenen Schatten sprin-
gen, öffnen sie sich auch Bündnissen mit
Partnern, die viel weiter gehen wollen.
Andererseits, und das ist die schlechte
Nachricht, sollte man sich nicht der Illusi-
on hingeben, dass dieses Klimapaket den
Aufbruch in eine kohlenstoffarme Zu-
kunft markiert. Im Unterschied zur Wis-
senschaft befasse sich Politik damit, Mög-
lichkeiten auszuloten, hat Angela Merkel
selbst die Tragweite der beschlossenen
Maßnahmen umschrieben. Sie sind keine
reine Lehre, sondern nur das, was die Koa-
lition den Bürgern zumuten will. Und zwi-
schen beidem klafft eine große Lücke.
Zugleich ist eine große Chance vertan.
Das Klimapaket steht nicht in einer Reihe
mit den großen Aufbrüchen in der jünge-
ren Geschichte; etwa der Neuen Ostpolitik
von Willy Brandt oder der Arbeitsmarkt-
Agenda von Gerhard Schröder. Damals wa-
ren die Regierungsspitzen mutig genug,
auch bei schwindenden Mehrheiten für ih-
re Überzeugungen zu streiten.
Die große Koalition hat diesen An-
spruch nicht. Das Klimaschutzpaket
zeigt, das hier ein Zweckbündnis regiert,
das Kompromisse sucht, die niemandem
wehtun. Obwohl alle Parteien wissen,
dass das Klima nur zu retten ist, wenn so-
fort und deutlich Kohlendioxid reduziert
wird, was am besten über den Preis geht,
haben sie ein gigantisches 50-Milliarden-
Euro-Paket voller Klein-Klein geschnürt.
Es ist paradox: Das Paket steht dem Auf-
bruch jetzt eher im Wege. Aber es verlän-
gert die Laufzeit der großen Koalition.

Neulich wurde Clemens Baumgärtner bei-
nahe ein bisschen lyrisch: „Wenn man
zum Eingang der Wiesn kommt, dann um-
wehen einen schon lange vorher der Duft
der gebrannten Mandeln, der Geruch des
Steckerlfischs, und das Bier schmeckt
man auch schon ein bisschen.“ Der
Münchner Referent für Arbeit und Wirt-
schaft sagte das im Saal des Stadtmuse-
ums. Der Landesverband der bayerischen
Marktkaufleute und Schausteller hatte ei-
nen neuen Preis gestiftet für „Gelebte bay-
erische Volksfestkultur“, und die Stadt
München war natürlich die erste Preisträ-
gerin. Schließlich entscheidet für viele in
der Branche der Verlauf des Münchner
Oktoberfests, ob sie ein gutes oder ein
schlechtes Geschäftsjahr hatten.
Der 43-jährige CSU-Mann ist so etwas
wie der oberste Chef der Schausteller,
Marktkaufleute und Wirte auf der Wiesn.
Denn das 1810 erstmals zur Heirat des bay-
erischen Königs Ludwig I. mit der Prinzes-
sin Therese von Sachsen-Hildburghau-
sen abgehaltene Oktoberfest ist seit 1819
auch ganz offiziell eine Veranstaltung der
Stadt München. Innerhalb der Stadtver-
waltung ist das Referat für Arbeit und
Wirtschaft für die Wiesn zuständig, und
Clemens Baumgärtner ist vor einem
knappen Jahr zum Referenten gewählt
worden.
Mit Baumgärtner hatten damals weni-
ge gerechnet. Der Posten des Wirtschafts-
referenten gilt – eben wegen der sehr
öffentlichkeitswirksamen Zuständigkeit
für das Oktoberfest – als Sprungbrett für
höhere Aufgaben. Und der Wirtschaftsan-
walt Baumgärtner hatte zuvor keine gro-
ße Parteikarriere hingelegt, sondern war
22 Jahre lang lediglich Mitglied eines
Stadtviertelgremiums gewesen, zuletzt

immerhin dessen Vorsitzender. Die
Münchner CSU ist aber im Stadtrat nicht
unbedingt gut bestückt mit Polittalenten;
sie regiert die Stadt zwar mit, in einer Ko-
operation mit der SPD, hat sich in den ver-
gangenen sechs Jahren aber eher selbst
zerlegt: Mehrere Stadträte haben die Frak-
tion inzwischen verlassen.
Anfangs rätselten die Wiesnwirte und
Schausteller noch: Was ist der Neue für ei-
ner? Ist er ein Scharfmacher, oder lässt er
sich den Schneid abkaufen? Es stellte sich
bald heraus: weder noch. Clemens Baum-
gärtner ist ein Gemütsmensch mit einem
gesunden Humor, der sich ungern aus der

Ruhe bringen lässt. Schon bei seiner Be-
werbungsrede hat er gesagt, „der Zusam-
menhalt in der Gesellschaft“ sei ihm wich-
tig. Das gelte auch für den Umgang mit
Flüchtlingen: „Wir sollten die Migration
nutzen, um Arbeitskräfte zu gewinnen.“
Auch für die Münchner CSU, die eher groß-
städtisch auftritt, waren das damals unge-
wohnte Töne. Was an ihm konservativ ist,
beschreibt er so: „Ich bin ein Freund von
Kontinuität und Überraschungen eher ab-
geneigt.“ Mit anderen Aussagen hielt er
sich anfangs zurück. „Ich will mir erst al-
les genau ansehen, bevor ich entscheide“,
sagte er. Man müsse mit den Leuten re-
den, dann aber auch klare Kante zeigen,
notfalls gegen alle Widerstände.
Bisher blieb ihm das weitgehend er-
spart. Die härteste Auseinandersetzung,
die er zu bestehen hatte, war eine kleine
verbale Reiberei mit dem Chef des Cann-
statter Wasen, Silvio Döllinger. Der hatte
sich erlaubt, über die unmoderne Wiesn
mit ihren „Holzhallen“ zu lästern, wo man
in Stuttgart doch längst mit LED-Bild-
schirmen arbeite. Baumgärtner ließ ihn
kühl abblitzen. „Mit dem Original“ könne
Stuttgart halt leider nicht mithalten, das
könne er dem Kollegen schon mal zeigen:
„Ich lade ihn gerne dazu ein.“
Mit dem amtierenden Münchner Ober-
bürgermeister Dieter Reiter (SPD), der
selbst einmal Wirtschaftsreferent und
Wiesn-Chef gewesen ist, hat er zumin-
dest eines gemeinsam: „Wir fahren beide
ungern viel zu schnelle Fahrgeschäfte.“
Zu seinen Favoriten auf dem Oktoberfest,
meinte er, gehörten dann doch eher
Marktstände wie die Bonbonmanufaktur
im historischen Teil des Festgeländes:
„Die und Zuckerwatte, das ist eher meine
Abteilung.“ franz kotteder

von anna reuß

L


ange mochte die Welt nicht richtig
hinsehen. Wenn am Montag die EU-
Innenminister in Malta über die Ver-
teilung von Flüchtlingen beraten, bahnt
sich weiter südlich längst die nächste Ka-
tastrophe an. Es herrscht Chaos in der Sa-
helregion – dem kargen Streifen am
Rand der Sahara. In Mali und Burkina Fa-
so hat der Staat die Kontrolle über Teile
des Landes verloren, 2018 zählte die Regi-
on fast eine halbe Million Binnenvertrie-
bene – und wer kann, kommt nach Euro-
pa. Dass die westafrikanische Staatenge-
meinschaft Ecowas für den Kampf gegen
den Terrorismus nun eine Milliarde Dol-
lar frei macht, ist eine Selbstschutzmaß-
nahme: Die Terroristen breiten sich seit
Jahren scheinbar ungehindert aus und
reißen auch bislang stabile Staaten mit in
den Sog. Andere, wie etwa Senegal, die
noch kein großes Sicherheitsproblem ha-
ben, fürchten, dass ihre porösen Grenzen
zu Mali ihnen bald eines bescheren.
Im Auswärtigen Amt in Berlin und sei-
nem Pariser Pendant am Quai d’Orsay ist
angekommen, dass der Sahel Hilfe
braucht. Auch die Kanzlerin erklärte,
dass der Kampf gegen den Terrorismus
in Europas Verantwortung liege. Alleine
in den vergangenen drei Jahren war Ange-
la Merkel acht Mal in der Region. Die EU,
angeführt von Frankreich und Deutsch-
land, hat einiges in die Stabilität inves-
tiert. Bislang brachte dies allerdings
kaum etwas. Vieles wurde angestoßen,
aber nicht zu Ende gedacht und gebracht.
Die Bemühungen sind durchaus beein-
druckend. Die deutsch-französische „Sa-
hel-Initiative“ sieht vor, Mali, Burkina Fa-
so und Niger zu stärken und die Armeen
besser auszurüsten. Das ist nötig, greift
aber zu kurz: Der Ansatz geht über militä-
risches Engagement kaum hinaus und be-
rücksichtigt anderes zu wenig, etwa, dass

die Staaten politisch unbeständig sind
und seit der Unabhängigkeit zusammen
20 Militärputsche erlebten oder dass fast
keine Weltregion vom Klimawandel so
hart getroffen wird wie der Sahel, wo
80 Prozent der Menschen von weniger
als zwei Euro am Tag leben. Die EU sollte
darauf hinarbeiten, deren Lebensbedin-
gungen zu verbessern und Zugang zu
Wasser und Weideflächen zu sichern.

Der Terrorismus lähmt diese Staaten.
Merkel hat also durchaus recht: Entwick-
lung ohne Sicherheit ist unmöglich. Aller-
dings wird die Sicherheitslage in Mali,
dem Zentrum der Krise, immer schlech-
ter, weil die Machtstrukturen nicht einbe-
zogen werden. Das Friedensabkommen
von Algier sah in Nordmali eine Einbin-
dung der lokalen Eliten in staatliche Insti-
tutionen vor. Stattdessen wurden wichti-
ge Akteure außen isoliert, sodass sich eth-
nische Konflikte zur gewaltigen Sicher-
heitsbedrohung entwickelten. Mali ist
dem Staatszerfall nahe und Refugium für
Islamisten aus ganz Westafrika.
Noch findet dieser Konflikt in einem to-
ten Winkel der Welt statt. Doch schon
jetzt macht Mali als nächstes Afghanis-
tan von sich reden: Die Gesellschaft ist er-
schöpft von gefühlt endlosen Militärein-
sätzen, die unpopuläre Regierungen stüt-
zen sollen. Das ist gefährlich. Die folgenlo-
se Intervention der Europäer wird von
den Menschen als Imperialismus, die
Franzosen werden wieder als Kolonialher-
ren wahrgenommen. Kehrt die EU diese
Dynamik nicht um, geraten in der Sahelzo-
ne mehr Regierungen ins Taumeln, und
die Ideologien der Extremisten findet ih-
ren Weg in die Köpfe der Verzweifelten.

von annette ramelsberger

S


eit dem Mord an dem Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke
wird darüber diskutiert, ob das Kes-
seltreiben gegen Personen des öffentli-
chen Lebens dazu führt, dass Gewalttäter
ihre Hassfantasien leichter in die Tat um-
setzen. Ob aus Worten also Taten werden.
Zur Erinnerung: Der CDU-Politiker Lüb-
cke wurde im Netz von Rechtsextremen
über Jahre als lohnendes Ziel markiert, es
wurde dazu aufgerufen, sich an ihm zu
rächen. Nur deshalb, weil er Schreihälsen
erklärt hatte, sie könnten das Land verlas-
sen, wenn sie Werte wie Mitleid und Soli-
darität nicht schätzen. Dann trat ein
Rechtsradikaler auf seine Terrasse und
schoß ihm in den Kopf.
Nach diesem Mord brach ein Sturzbach
von Klagen los. Bürgermeister, Abgeord-
nete, Landräte berichteten darüber, wie
sehr sie unter Drohungen und Beleidigun-
gen leiden, die wirken wie langsam wir-
kendes Gift: Erst schieben es die Betroffe-
nen noch weg, irgendwann aber dringt
das Gift in die Seele. Viele halten das nicht
aus und ziehen sich aus ihren Ämtern zu-
rück. Sie fühlen sich alleingelassen. Denn
ihre Anzeigen werden oft nicht verfolgt,
Verfahren eingestellt, die Täter dürfen
sich sicher fühlen. Die Angegriffenen ste-
hen allein an der Front gegen die zuneh-
mende Barbarei.
Wenn es für das Versagen des Rechts-
staats an dieser Front eines Beweises be-
durft hätte, dann hat ihn das Landgericht
Berlin nun erbracht: Es wies eine Klage
der Grünen-Politikerin Renate Künast ab,
die Facebook verpflichten wollte, die Na-
men von 22 Personen herauszugeben, die
sie beleidigt hatten. Sie sei ein „Stück
Scheiße“, ein „altes grünes Drecks-
schwein“, „geisteskrank“, eine „Schlam-
pe“, „Sondermüll“, „gehirnamputiert“.
Und man empfahl sie öffentlich zur Verge-

waltigung: „Knatter sie doch mal so rich-
tig durch, bis sie wieder normal wird.“
Das Landgericht Berlin hält diese sexis-
tischen Gewaltaufrufe für zulässige Kritik
an einer Politikerin. Die drei Berufsrichter
(ein Mann, zwei Frauen) erklärten, hier
werde mit dem Stilmittel der Polemik Kri-
tik geäußert. Es gebe einen „Sachzusam-
menhang“ mit einer Aussage von Künast.
Diese Aussage aber ist 33 Jahre alt, sie fiel
in einer Debatte über die Strafbarkeit von
Sex mit Kindern, sie wurde falsch wieder-
gegeben, denn Künast hatte solche Prakti-
ken nie gutgeheißen. Für die Richter lie-
gen diese wüsten Reaktionen auf ein ver-
fälschtes Zitat dennoch in den Grenzen
der Meinungsfreiheit.

Das Mindeste, was man dazu sagen
kann: Dieses Gericht hat seine gesell-
schaftliche Aufgabe verfehlt. Es hat keine
Brandmauer eingezogen zwischen dem
Müll, der aus dem Netz schwappt, und
dem notwendigen, kritischen Diskurs. Es
setzt den Persönlichkeitsschutz von Politi-
kern auf null. Gegen sie darf man hetzen,
wüten, ihre Worte verdrehen. Dieser Be-
schluss zeugt von einer Verachtung der
politischen Klasse. Wer soll sich da noch
für dieses Land engagieren wollen?
Das Satireportal „Der Postillon“ hat die
Maßstäbe des Gerichts kurzerhand auf
die Richter selbst angewandt: „Drecksfot-
zenrichter fällen geisteskrankes Urteil ge-
gen Renate Künast, das Justizia wie eine
Schlampe aussehen lässt, die auf den Son-
dermüll gehört.“ Natürlich ist das sati-
risch überspitzt und ironisch gemeint.
Aber vermutlich gilt das als Beleidigung –
es geht ja gegen Juristen und nicht gegen
Politiker.

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MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Ferdos Forudastan; Detlef Esslinger
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INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
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KOALITION


Klein-Klein


von cerstin gammelin


W


undersames, ja Wunder-
bares ist passiert seit dem
vorigen Sommer. Ein
16-jähriges, sehr ernsthaf-
tes Mädchen aus Schwe-
den ist nach den Ferien freitags nicht
mehr zur Schule gegangen, um gegen die
Ignoranz gegenüber dem Klimawandel zu
protestieren. Nicht ein Jahr später sind
weltweit Millionen Menschen auf der Stra-
ße statt bei der Arbeit. Bayerns CSU-Minis-
terpräsident Markus Söder redet grüner
als die Grünen, die Koalition in Berlin
stellt ein Klimarettungspaket vor. In New
York laden die Vereinten Nationen zum
Klimagipfel, und Greta Thunberg, die Pro-
phetin wider Willen aus Schweden, wird
den Mächtigen zurufen: Bekehrt euch!
Viele Jahre haben War-
nungen vor der Erderwär-
mung folgenloses Kopfni-
cken bewirkt. Jetzt ist die
Erweckungsbewegung
da, ausgelöst von einem
Mädchen mit strengen
Zöpfen, das freitags nicht
mehr zur Schule ging.
Eine säkulare Klimareli-
gion sei da entstanden, sa-
gen vor allem jene, denen
das alles zu weit geht, die
gar behaupten, es gäbe
kein Problem mit dem Kli-
ma – und wer in der Welt
nasse Füße bekomme, sol-
le halt die Beine hochzie-
hen. Das ist infam, weil es
die Erkenntnis der Wissen-
schaftler, dass die Erd-
erwärmung menschenge-
macht und menschheits-
gefährdend ist, in den Be-
reich des Irrationalen ver-
lagert: Kann man glauben
oder nicht, was die Klima-
pfaffen predigen. Es gibt aber trotzdem ei-
ne säkularreligiöse Dimension der Klima-
proteste, die man diskutieren kann.
Dieser Protest nährt sich ja nicht nur
aus der Rationalität, sondern auch aus
apokalyptischer Angstlust, die aus jedem
heißen Sommertag den Weltuntergang
herausliest, in jeder herrenlosen Plastiktü-
te ein Menetekel sieht und in jeder Grill-
party den Feueratem des Gottseibeiuns
zu spüren glaubt. Sie hat ihre eigenen Ri-
tuale und Bußübungen entwickelt, mit
Kleidung, kratziger als das Kamelhaar,
mit dem einst Johannes sich in der Wüste
bedeckte, mit strengerer Fastenspeise als
die Heuschrecken, die er aß. Der Klima-
streik lebt auch von der Erlösungshoff-
nung, die Summe der Bekenntnisse möge
zur CO2-Reduktion führen und zur neuen
Harmonie zwischen Mensch und Natur.
Das ist verständlich. In den Klimapro-
testen lebt die Sehnsucht nach der Auflö-
sung jener Lebenswidersprüche, in denen
jeder steckt, der nicht entweder als Ere-
mit sein Gemüse selber zieht oder einen
„Fuck you, Greta“-Aufkleber aufs dicke
Auto klebt und das Gaspedal durchtritt.
Für alle anderen beginnen die Ambivalen-
zen beim Aufstehen. Warm duschen? Das
Müsli aus der Plastikverpackung essen?


Mit der Bahn zur Arbeit, auch wenn es ei-
ne Stunde Beziehungszeit kostet? Das Le-
ben des Durchschnittsklimaretters ist
strukturell ungenügend, weil er in ein
Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ein-
gebunden ist, dessen Freiheit und Lebens-
qualität an den Ressourcenverbrauch ge-
koppelt ist, keine Spende an den Klima-
fonds macht das wett. Wie gut tut es da,
für einen Tag zu bekennen: Wir meinen es
ernst – und das noch in einer fröhlichen
Gemeinde der Gleichgesinnten.
Die Ritualisierung des Protests hat ihre
Gefahren, angefangen bei der Aufteilung
der Welt in Erlöste und Verdammte. Man-
che der Einteilungen haben auch mit dem
zu tun, was die Schwarmmeinung für sozi-
aladäquat hält: SUVs sind böse, der sprit-
fressende alte VW-Bus ist
süß; Kreuzfahrten sind
schlimm, der Flug zur Öko-
Safari nach Tansania ist
cool. Wer noch Billig-
fleisch und Plastikzeugs
kauft, soll sich was schä-
men – dabei lebt eine Al-
leinerziehende, die sich
weder Biomarkt noch Ur-
laub leisten kann, nur die
nötigste Kleidung kauft
und die alte Karre immer
weiter fährt, klimafreund-
licher als viele Ökobeweg-
te. Manche Ablehnung,
die den Streikenden ent-
gegenschlägt, entspringt
dem Gefühl, dass hier mit
gewisser Arroganz der fei-
ne Unterschied demons-
triert wird.
Andererseits: Ohne vi-
sionären Eifer gibt es kei-
ne Bewegung, ohne Über-
zeugte, die den Teufel an
die Wand malen, damit
endlich was passiert. Die Vorstellung,
dass Rationalität alleine zur Veränderung
führt, ist irrational. Es brachte die Angst
vorm Waldsterben den Katalysator ins Au-
to und die Schwefelfilter in die Fabriken,
die Furcht vorm weltweiten Hautkrebs
durchs Ozonloch das FCKW-Verbot – so
vernünftig wie wirksam. Und die Klima-
frage erfordert tatsächlich eine Wertent-
scheidung. Es gilt, jetzt Geld auszugeben,
Regeln und Strukturen zu schaffen, Frei-
heiten zu beschneiden und Opfer zu ver-
langen, damit später, vielleicht, die Kata-
strophe abgewendet werden kann. Wer
im reichen Deutschland lebt, über 35 Jah-
re alt ist und ausreichend ignorant, kann
sagen: Für mich reicht es, die Zeche sollen
die anderen zahlen. Sollen sie das? Das ist
das Bekenntnis, das die „Fridays for Futu-
re“-Bewegung einfordert.
Deshalb ist es gut, dass Gretas Follower
laut sind und ziemlich moralisch. Sie brau-
chen aber, was jede bekenntnisgetriebene
Bewegung braucht: den Zweifel und die
Wertschätzung des Halbgläubigen. Und
die Erkenntnis, dass es kein Leben ohne
Klimasünde gibt, ohne die Verschwen-
dung im rechten Maß zur rechten Zeit. Je-
der kann was tun fürs Klima. Aber nie-
mand muss die Welt im Alleingang retten.

Am Freitag stach der deut-
sche Forschungseisbrecher
Polarsternin See, zur größ-
ten Arktisexpedition, die es
je gab. Das Schiff wird nach
Norden vorstoßen, ins Packeis hinein,
um sich eine Scholle zum Andocken zu su-
chen. Zusammen mit dem Eis wird es
sich am Nordpol vorübertreiben lassen.
Am Nordpol gibt es kein Land, nur das
Polarmeer. Im Winter gefriert das Eis
auch in den niedrigeren Breitengraden
zu Schollen, die im Durchmesser mehre-
re Kilometer lang sein können und 16 Mil-
lionen Quadratkilometer des Meeres be-
decken. Es ist Treibeis, das vor allem von
den starken Winden angetrieben wird.
Wenn die Eisschollen so zusammenwach-
sen, dass mehr als 80 Prozent der Wasser-
oberfläche eisbedeckt sind, spricht man
von Packeis, es kann drei bis vier Meter
dick sein. Es gibt auch Presseisrücken,
das sind Verwerfungen, Miniaturgebirge,
dort wo zwei Schollen aneinanderstoßen,
die bis zu 20 Meter unter die Wasserober-
fläche reichen können. Das arktische Eis
ist durch die Klimaerwärmung dünner ge-
worden, in der Zentralarktis ist es aber
noch immer so dick, dass auch die größ-
ten Eisbrecher nicht durchstoßen kön-
nen. Also lässt sich diePolarsternvon der
Drift des Packeises huckepack nehmen.
Der norwegische Polarforscher Fridtjof
Nansen war der Erste, der 1893 mit dem
SchiffFramdie Eisdrift nutzte. ttt

4 MEINUNG Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


SAHEL-REGION

Das nächste Afghanistan


Europamacht in Mali und
anderen afrikanischen
Ländern gefährliche Fehler

BELEIDIGUNGEN

Allein gegen die Barbarei


Notlandung sz-zeichnung: luismurschetz

KLIMADEBATTE


Religion und Ratio


von matthias drobinski


AKTUELLES LEXIKON


Packeis


PROFIL


Clemens


Baumgärtner


CSU-Politiker
und neuer Chef
des Oktoberfests

Ein Berliner Gericht rechtfertigt
übelste Attacken mit der
Meinungsfreiheit. Das ist fatal

In den Protesten
der Jugend stecken
auch Angstlust und
Erlösungsglaube.
Sie helfen beim
Schutz der Umwelt,
doch sie sollten sich
dem Zweifel
öffnen. Sonst droht
Haltung in Arroganz
umzukippen
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