Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
Ein Mann hortete jahrelang Briketts,
in derDDR machte ihn das reich.
Heute sind sie wertlos  Seite 52

A


ls Erstes hört man das Knarren
einer Holztür. Altersschwach.
Nicht in der Lage, den Wind da-
von abzuhalten, das Türblatt
geisterhaft hin und her zu bewe-
gen. Die Scharniere seufzen. Draußen rös-
tet die Sonne ein paar vor Entsetzen zirpen-
de Grillen. Das Windrad quietscht – und
innen kratzt im Dämmer eines Bahnhofs,
der den Eindruck vermittelt, der letzte Zug
sei vor einem Jahrhundert abgefahren,
Kreide über die Tafel. Die Ohren wollen
einem abfallen, man schaudert.
Auch wegen der unrasierten Männer
mit leeren Blicken, die in ihren Staubmän-
teln auf etwas warten. Auf Reisende viel-
leicht, auf Suchende. Das dräuende Unheil
ist inmitten solcher Verlassenheit wie mit
Händen zu greifen – dabei ist die Mundhar-
monika erst später zu hören. Spiel mir das
Lied vom Tod. Morricone natürlich.
Cut. (Wäre man beim Film, würde man
das jetzt sagen.) Man muss zugeben, dass
Frederik Fischer im Gegensatz zu den drei
Banditen, die im Film „Spiel mir das Lied
vom Tod“ von Charles Bronson noch am
Bahnhof erledigt werden, eher auf intelli-
gente Weise freundlich als auf gangsterhaf-
te Art böse wirkt in seiner jugendlich
schmalen Silhouette.


Weißes T-Shirt, Jeans, weiße Sneaker.
Nerd-Hornbrille. Der 38-Jährige wirkt
einerseits wie einer dieser agilen Start-up-
Heroen. Andererseits hat er eine reflektier-
te Gelassenheit, die etwas Nachdenkliches
andeutet. Jedenfalls ist er vital – im Gegen-
satz zu den Staubmänteln, die im Filmklas-
siker bald dort liegen werden, wo sie hinge-
hören. Im Staub. Fischer ist eher aufstre-
bend. Und in gewisser Weise muss man
sogar sagen: Er ist der Mann der Stunde.
Einer, der für das Comeback des ländli-
chen Raumes genauso steht wie für die
Renaissance der Stadt. Einer, der sich bald
Investor nennen könnte, obwohl er einer
ist, der das, was man Wohnimmobilien-
bauträgerbranche nennt (oder Wohnungs-
krisenproduktionsgewerbe), teilweise ab-
schaffen würde. Sollte er Erfolg mit seiner
Erfindung haben.
Es geht um das von ihm mitbegründete
Konzept „Ko-Dorf“. Halb Genossenschaft,
halb Baugruppe. Begrifflich ist das Ko-
Dorf eine Mischung aus dem parodiehaft
umfrisierten Kuhdorf auf dem Land – und


aus dem nicht minder ironisierten urba-
nen Coworking-Konzept samt der zugrun-
de liegenden Sharing-Philosophie. Cowor-
ker teilen sich Arbeitsräume. Beim Woh-
nen lässt sich aber noch mehr teilen: bei-
spielsweise Gästezimmer oder sonstige Be-
reiche, die man gelegentlich, aber eben
nicht immer braucht.
Nimmt man noch eine exzellente Inter-
net- und eine effiziente Nahverkehrsver-
bindung zu Kuh und Co hinzu, ein passen-
des Grundstück in freier Natur (oft sehr
günstig), ein paar Dutzend Mini-Häuser
(meist sehr günstig) sowie großzügig
dimensionierte Gemeinschaftseinrichtun-
gen (von Fall zu Fall günstig), außerdem
eine große Tüte gemeinschaftlicher Sinn-
stiftung, vormals auch bekannt als gute
Nachbarschaft (im Grunde unbezahlbar),
so ergibt sich das, wovon Fischer und mit
ihm viele andere schon lange träumen in
Deutschland.
Eigentlich überall dort, wo das Land an
Schwindsucht und die Stadt an Hybris lei-
det. Fast überall ist das so.
Das Ko-Dorf also, das Fischer-(U.a.)-Pa-
tent: Gemeint ist das vorzugsweise auto-
freie Leben im Umfeld von Menschen, die
zu jung oder zu modern sind, um an die
Kommune 1, Sex mit Rainer Langhans, ver-
staubteAmon-Düll-Platten, verblasste Co-
mandante-Guevara-Poster und antirepres-
siv ausgehängte Klotüren zu glauben. Alte
Kommunarden sind die neuen Siedler also
schon mal nicht, die Fischer organisiert
und zusammenbringt. Gemeinschaftssinn
mit der Liebe zur Individualsphäre: Das
verbindet die Leute schon eher. Jedenfalls
sind es meist Menschen, oft Freiberufler
unterschiedlichen Alters, die aus leidvoller

Erfahrung den Infarkt der sich zu Tode boo-
menden Städte (Wohnen, Mobilität, Infra-
struktur) fürchten und sich nach einer wie-
der natürlicheren, stressärmeren Umge-
bung sehnen. Gleichzeitig sind sie über-
zeugte Urbanisten, die Kommunikation
und Austausch, Anregung und Inspiration
schätzen. Man könnte sie Metropoldörfler
nennen. Oder Provinzler 2.0, die die Pro-
vinz mit urbanen Ideen aufmischen. Aktu-
ell schaffen sie sich alle möglichen Habita-
te. Das Ko-Dorf, das man auch eierlegende
Wollmilchsau nennen kann, ist eine Idee
unter anderen Ideen.
Das Leben in der alteingesessenen Auto-
pendeldoppelhaushälfte am Rande eines
Ortes, zu dem man im Grunde wenig Be-
zug hat, weshalb man der Freiwilligen Feu-
erwehr eher verzweifelt als überzeugt bei-
tritt, erscheint Metropoldörflern naturge-
mäß fremd. Zugleich empfinden die Pro-
vinzler 2.0 das vertraute Leben in der zu
kleinen, zu teuren Wohnung im von Schwa-
ben überrannten Berliner Angesagtstadt-
teil als ziemlich nervig.
Diese Leute sind also tendenziell ver-
rückt. Sie glauben, man könne alles haben:
angenehme Nachbarschaften, Begegnun-
gen rund um die Uhr, urbane Raumqualitä-
ten, günstige Preise, schnelles Internet
und intakte Natur. Mobil ist man sowieso,
aber Autos sind was fürs Museum. Klingt
viel zu ambitioniert. Was aber, wenn diese
Utopie Realität sein könnte? Wäre es dann
nicht vollkommen verrückt, nicht daran zu
glauben?
Das Ko-Dorf ist keine Kuh und kein Ko,
sondern architektonisch, stadträumlich
und wohnsoziologisch betrachtet ein eben-
so futuristischer wie vertrauter Hybrid.

Das Ko-Dorf, als Lösung gedacht für viele
Standorte von München bis Hamburg in
Nahverkehrsentfernung zu den bald patho-
logisch aufgedunsenen Ballungszentren,
wäre die Lösung für die überhitzten Städ-
te. Weil nicht alle Menschen in Städten
leben wollen. Es müssten dann auch nicht
alle in diese Städte ziehen. Und es wäre die
Lösung für das bald unterkühlte, von Land-
flucht bedrohte Land. Weil nicht alle Men-
schen, die nicht in den Städten leben wol-
len, auf dem Land intellektuell veröden
und politisch-ökonomisch marginalisiert
oder zur Heimaterde für Rechtspopulisten
kompostiert werden wollen.
Fischer, der dieses Kuh-Ko-Fabelwesen
aus ländlich-günstigem Wohnraum und
städtisch-intensivem Gedankenraum mit-
erfunden hat, ist an diesem Tag daher nach
Wiesenburg gekommen. Gut einhundert
Kilometer südwestlich von Berlin. Mitten
in der Brandenburg-Prärie, die was vom
Morricone-Setting hat. Knarrende Türen
und zirpende Grillen inklusive. Der Bahn-
hof ist allerdings aus Backstein. Baujahr


  1. Davor steht eine Art Totem. Oder ein
    Marterpfahl. Jedenfalls Kunst.
    Wiesenburg ist ein herrliches, im Grun-
    de ziemlich progressives Kaff, das sich nur
    als „malerisch“ beschreiben lässt. Immer-
    hin wurden für das Jahr 2018 exakt
    4295 Einwohner gemeldet. Viermal mehr
    als noch 1879. Nennt man wohl blühende
    Landschaft. Na ja.


Es gibt hier Supermärkte, zwei Ärzte,
eine Apotheke, einen Laden, in dem man
sehr große Gartenzwerge kaufen kann,
eine Schule und den jungen und anste-
ckend begeisterungsfähigen Bürgermeis-
ter Marco Beckendorf, dem man nur fünf
Minuten zuhören muss, um sofort nach
Wiesenburg und also in Richtung Dagobah
ziehen zu wollen. Also fast. Im „Star-
Wars“-Imperium ist Dagobah ein Sumpf-
planet am Rande der Galaxis und ein per-
fekter Rückzugsort für kluge Köpfe.
Fischer, der Ex-Netznerd, Ex-Metropo-
lenbewohner (der in Berlin, London, Ams-
terdam und San Francisco gelebt hat) steht
zur Begrüßung am Bahnsteig von Wiesen-
burg. Als Realutopist ist ihm das Ko-Dorf
einerseits nach einer Start-up-Karriere in
Berlin, andererseits nach einem Beinahe-
Burn-out in Brandenburg eingefallen. Als
Sehnsuchtsort seiner Stadtlandlust. Nun

will er hier mit Frau und Kind auch selbst
mal wohnen.
Es ist ein heißer Spätsommertag, der
sich kaum unterscheidet vom heißen Früh-
herbsttag. Heute kommen „die Neuen“,
also Pioniere, Siedler, Gründer, Abenteu-
rer oder Realutopisten wie Fischer, die ers-
te Ko-Dorf aktivieren und realisieren wol-
len. Nur ein paar Kilometer von Wiesen-
burg entfernt. Dort, wo auch der Bahnhof
ist, der für die Metropoldörfler eine
Schnellbahn vor der Tür sein könnte.
Von frühestens 4.34 Uhr an und spätes-
tens bis 23.47 Uhr fährt der Regional-
express von hier nach Berlin, wo er nach
61 Minuten in Charlottenburg ankommt.
In München wäre das für jemanden, der im
Osten (Trudering) wohnt und im Westen
(Nymphenburg) arbeitet, praktisch schon
ein Geschwindigkeitsrausch. Die Leute,
die nun aussteigen, es ist 14.24 Uhr, sehen
entspannt angespannt aus. Ihnen zu Ehren
hat sich der Himmel über Wiesenburg als
blauer Seidenschal verkleidet.
Das ernsthaft im Werden befindliche Ko-
Dorf Wiesenburg, das bald gebaut und in
zwei Jahren fertig sein soll, wird dann aus
drei bis vier Dutzend Super-Öko-Minihäu-
sern zwischen 80 Quadratmetern (Typ 1)
und nur 24 Quadratmetern (Typ 3) beste-
hen. Die Leute, die heute zusammenkom-
men, wollen das Areal sehen, auf dem es ge-
baut wird. Manche hier wirken wie der jun-
ge Harry Potter auf der Suche nach Bahn-
steig Neundreiviertel. Neugier und Unsi-
cherheit liegen in der Luft. Man begrüßt
sich und überlegt, ob das Gegenüber schon
die neue Nachbarschaft sein könnte. Man
freut sich auf etwas Magisches und weiß
noch nicht, ob man dem Zauber schon
ganz trauen will. Es gibt auch welche, die
schon die ersten Häuser für sich reserviert
und eingezahlt haben in das Projekt.
Alle, die Fast- und die Schon-Entschlos-
senen, werden jetzt von Fischer sowie vom
aus München angereisten Architekten Pa-
tric Meier und dessen Partnerin Katrin Fri-
sche, die wie Meier ebenfalls Mitbegründe-
rin des Ko-Dorfs ist, zu einer grandiosen
Ruine geführt. Zum Ex-DDR-Sägewerk
direkt am Morricone-Bahnhof. Die Stim-
mung ist sofort die eines heiteren Klassen-
ausflugs. In der Ruine sieht man gleich,
was der Osten dem Westen kulturell zu ver-
danken hat. Der Kalender „Mensch und Na-
tur“, der im aufgelassenen Büro noch im-
mer auf dem staubigen Boden liegt und die
Augustfrau des Jahres 1990 auf einem wei-
ßen Gaul zeigt, ist ein Busenkalender.
Im ehemaligen Sägewerk erläutert der
Architekt den Coworking-Umbau. Als er

vom Glasfaserkabel spricht, leuchten die
Gesichter wie unterm Weihnachtsbaum.
Die Interessierten, sie heißen Sabine, Fini,
Nicole, Felix, Ariane oder Anikorm, sind
jung, mittelalt oder immer noch mittelalt,
haben Kinder oder auch nicht, sind Indivi-
dualisten oder Kollektivisten – und arbei-
ten oft im Freelance-Bereich. Ein schnelles
Netz ist das, was man jetzt auf dem Land
braucht, wo es absurderweise selten instal-
liert wird in Deutschland. Jede Klamm in
Südtirol ist besser erschlossen.

Vom Netzdorado in spe, vormals DDR-
Sägewerk mit BRD-Kalender, geht es am
Park vorbei Richtung Schloss. Denn so et-
was Schönes gibt es auch wieder in der zu-
vor klassenlosen Gesellschaft. Der Marsch
dauert eine halbe Stunde. Manche gehen
barfuß. Dieser Klassenausflug muss den
angestammten Wiesenburgern ein biss-
chen vorkommen wie eine Szene aus „Som-
mer in Orange“. In dieser Filmkomödie von
Marcus H. Rosenmüller zieht eine Kreuz-
berger Sannyasin-Kommune in das ober-
bayerische (und auch sonst fiktive) Tal-
bichl. Der Clash der Zivilisationen ist somit
programmiert.
Nicht so in der Realität, wo man schon
an den Auslagen der örtlichen Sparkasse in
Wiesenburg erkennt („großzügiges Sanie-
rungsprojekt mit Scheune für Künstler
oder Großfamilien: 89 000 Euro“), dass Zu-
zügler nicht ganz unwillkommen sind. Die
Dörfer Brandenburgs prosperieren mitun-
ter nicht trotz Berlin, sondern wegen der
Berliner, die hierher übersiedeln.
In den Buchhandlungen trifft man übri-
gens zunehmend auf die verschriftlichen
Erkenntnisse von Ex-Stadtmenschen, die
sich nun lustigerweise auf fremdem Ter-
rain befinden. So launig und allmählich
öde das auch ist (wie oft kann man sich mit
den ansässig süßen Ferkeln anfreunden
und mit ansässig eigenartigen Handwer-
ken anfeinden?) – das Neue am Ko-Dorf
ist: Dass man urbane Gewohnheiten, Nah-
verkehrsanschluss, Daten-Hyperloop und
eine Gemeinde, die sich während der Bau-
phase formt, als Dörfchen zum Dorf ge-
sellt. Im Modell der Architekten sieht die-
ses Ko-Dorf, das insofern auch ein Co-Dorf
ist, aus wie das der unbesiegbaren Gallier.
Das ist schon mal ein ganz gutes Zeichen.
Man muss jetzt nur noch rausfinden, wo
genau Troubadix einziehen will.

Kohle
FOTO: IMAGO IMAGES

Bischof Curry hat Harry und Meghan
getrautund wurde damit bekannt.
Nun hat er Großes vor  Seite 51 Wer Briefmarken sammelt, lernt auch die Welt kennen.
Doch immerweniger interessieren sich dafür.
Zu Besuch bei treuen Philatelisten  Seite 51

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 49


GESELLSCHAFT


FOTO: IMAGO

Es entstehen drei bis vier
Dutzend Super-Öko-Minihäuser,
die etwas Magisches haben

Die Dörfer Brandenburgs
prosperieren wegen der
Berliner, die hier herziehen

Kanzel
FOTO: IMAGO IMAGES

Klebstoff


Stadt trifft Land:


DasKo-Dorf vereint das Beste


aus beiden Welten


Grün, so weit das Auge reicht: Landschaft in Brandenburg.
Unten: Ausschnitt aus dem Modell für das Ko-Dorf,
das bald in Wiesenburg 100 Kilometer südwestlich von Berlin
gebaut werden soll.FOTO: EUROLUFTBILD/ZB/PA; MODELL: AGMM ARCHITEKTEN

Kein gesellschaftliches Engagement
ohne Liebe. Schauspielerin Nora
Tschirner im Interview  Seite 56

Gutmenschenscheiß


Das Glück


der Prärie


Wo finden geplagte Stadtmenschen


noch einen guten Ort zum Wohnen?


Unterwegs mit hoffnungsvollen


Siedlern in Brandenburg


von gerhard matzig

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