Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

E


s gibt Rote Listen für gefährdete
Tiere, Pflanzen und Pilze. Rote Lis-
ten für Organisationen und Partei-
en gibt es noch nicht. Gäbe es sie,
die Gewerkschaft Verdi wäre dort aufge-
führt, die SPD auch. Früher war das Rot
die Farbe des kämpferischen Selbstbe-
wusstseins, heute gilt sie als farbige Mar-
kierung für anhaltende Gefährdung. Die
Gewerkschaft Verdi ist zwar noch immer
groß, hat aber Schwindsucht. Von den
2,8 Millionen Mitgliedern, die sie 2001 bei
ihrer Gründung, beim großen Gewerk-
schaftszusammenschluss hatte, hat Verdi
seitdem ein Drittel verloren.
In diesen 18 Jahren hat Frank Bsirske
die Gewerkschaft geführt. Bsirske ist der
Wachtelkönig der Gewerkschaften. Er ist
ein seltenes Exemplar: Deutschlands
dienstältester Gewerkschaftschef, der ein-
zige mit grünem Parteibuch; mit unver-
kennbarer Stimme, klassenkämpferisch,
aber freundlich. Den Mitgliederschwund
hat er nicht aufhalten können. In der kom-
menden Woche, auf dem Verdi-Bundes-
kongress in Leipzig, tritt Frank Bsirske,
jetzt 67 Jahre alt, zurück, sein bisheriger
Stellvertreter wird der Nachfolger. Es en-
det nicht nur eine Ära Bsirske. Für die Ge-
werkschaftsbewegung insgesamt ist eine
Zeit zu Ende, in der das Wort Solidarität
identitätsstiftende Bedeutung hatte.
Die Digitalisierung verändert alles, sie
verändert den gesamten Wertschöpfungs-
prozess, sie verändert die Erfindung und
die Entwicklung, das Marketing, den Ein-
kauf, die Produktion und den Vertrieb,
den Verkauf und die Entsorgung. Arbeits-
verhältnisse werden völlig neu organi-
siert, Erwerbsarbeit findet immer häufi-
ger außerhalb eines Betriebes statt. Im-
mer mehr Aufgaben werden an Leihar-
beitsfirmen und rechtlich Selbständige
ausgelagert, die Grenzen zwischen dem Ar-
beitnehmer- und dem Selbständigensta-
tus werden fließend. In der bisherigen
Welt der Gewerkschaften bleibt so kaum
ein Stein auf dem anderen.
Gewerkschafter sagen, dass man sich
dem digitalen Wandel nicht ausliefern dür-
fe, sondern ihn in die richtige Richtung len-
ken müsse. Wie geht das? Insgeheim hat
so mancher Funktionär Angst, dass das
gar nicht geht. Es funktioniert jedenfalls
nicht mit ein bisschen Bastelei an der Ar-
beitszeitverordnung. Wenn die fahrerlose
Mobilität kommt, werden Taxi- und Bus-
fahrer, Lieferanten, Lkw- und Gabelstapel-
fahrer ihre Arbeit verlieren. Im Bereich
der Dienstleistung wird künstliche Intelli-
genz massenhaft die Arbeit von Büroange-
stellten übernehmen. Es ist die Zeit des
großen Umbruchs. Schon immer gab es Er-
findungen, die den Menschen ihre bisheri-
ge Arbeit wegnahmen. Der mechanische
Webstuhl ersetzte die Werkstatt zu Hause;
an die Stelle der Arbeit im eigenen Haus


traten das Fließband in der Fabrik und
dann der Industrieroboter. Die Großfami-
lie wurde von der Kleinfamilie abgelöst, es
entstand die Arbeiterfamilie, deren Leben
sich nach den Bedürfnissen von Arbeit
und Kapital auszurichten hatte. Vater,
Mutter, Kinder; die Kleinfamilie war nun
die neue Normalfamilie, und normal wa-
ren auch die elenden Arbeits-und Produk-
tionsbedingungen. Damit beginnt die gro-
ße Geschichte der Gewerkschaften und
die Geschichte der Arbeitersolidarität.

Die Brüderlichkeit (die die Schwester-
lichkeit noch nicht an ihrer Seite hatte)
war zunächst das schwächste Glied in der
Trias der Aufklärung gewesen. Freiheit –
klar; Gleichheit – klar; aber Brüderlich-
keit? Das war zunächst nur eine morali-
sche Forderung, eine gefühlte Verbunden-
heit. Das änderte sich in der Industriege-
sellschaft: Die diffuse Brüderlichkeit der
Französischen Revolution verdichtete
sich zur konkreten Solidarität der Proleta-
rier, die auf der Basis gemeinsam erlitte-
ner Erfahrungen in den Fabriken ent-
stand. Die Arbeiter waren verbunden
durch Ort, Zeit, Routine und Alltag. Das
Fließband wurde zum Symbol verbinden-
der Erfahrung. Die Solidarität der Arbeiter
entstand in der Einheit von Ort, Raum und
Zeit der Arbeit; sie wurde von Gewerk-
schaften organisiert, die das Wort Solidari-
tät in Arbeitsrecht übersetzten. Aus dem
schwachen Brüderlichkeitsbegriff wurde
so ein starker Solidaritätsbegriff. Das war
eine menschheitsgeschichtliche Leistung.
Aber Solidarität ist kein nachwachsen-
der Rohstoff. Sie bleibt nicht einfach da,
wenn sich Arbeitsbedingungen völlig ver-
ändern, wenn es die Gleichartigkeit der
Lebens- und Arbeitsbedingungen und die
gemeinsamen Erfahrungen am gemeinsa-
men Arbeitsort immer weniger gibt.
Deshalb nimmt die Mitgliederzahl der Ge-
werkschaften und die Tarifbindung dra-
matisch ab; deshalb verliert die konkrete

Solidarität ihre bisherige Bedeutung. Es
gibt hier zwei Entwicklungen: Zum einen
entwickelt sie sich wieder zurück zur allge-
meinen Brüderlichkeit, zu einem Wischi-
waschiwort. Zum anderen wird heute Soli-
darität von Rechtsaußen entlang nationa-
ler und völkischer Grenzen neu definiert.
Bei der jüngsten Bundestagswahl haben
15 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder
AfD gewählt (im Osten 22 Prozent). Den Ge-
werkschaften droht also Gefahr von in-
nen, wenn ihre Kritik an den ausbeuteri-
schen Effekten der Globalisierung von ex-
tremen rechtspopulistischen Freund-
Feind-Schemata und Volksgemeinschafts-
denken überlagert wird. Dann färbt sich
Solidarität braun. Der Soziologe Klaus Dör-
re von der Uni Jena sagt dazu: Wenn die Ge-
werkschaften hier auch nur ein wenig
nachgeben, wird es sie zerreißen.
Wie kann eine gute Zukunft der Ge-
werkschaften aussehen? Sie werden sich
zu transnationalen NGOs entwickeln und
sich mit den sozialen Bewegungen verbün-
den müssen; sie werden die Missstände in
der digitalen Arbeitswelt benennen, an-
prangern und abstellen, gegen eine digita-
le Entgrenzung des Lebens antreten müs-
sen. Die digitale Welt braucht eine neue
Konkretion der alten Brüderlichkeit, sie
braucht Utopien. Das ist wichtig für eine
gute Zukunft der demokratischen Gesell-
schaften. Warum? Der Aufstieg des extre-
mistischen Populismus begann, als nach
1990 der Tod der Utopien lauthals verkün-
det worden ist. Weil es noch keine großen
neuen Ideen gibt, suchen die Menschen
im Abfall der Geschichte nach den alten.
Die Gewerkschaften werden den Auf-
stand gegen die Repression durch digitale
Software organisieren müssen. Dann wer-
den sie auch Anziehungskraft für viele
Menschen entwickeln, die den Gewerk-
schaften heute eher fernstehen.

Legen und legen lassen

Heribert Prantl ist
Kolumnistund Autor der
Süddeutschen Zeitung

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 HF2 MEINUNG 5


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Gewerkschaften


DieSolidarität der Arbeiter ist Geschichte. Welche
Zukunft hat sie in der digitalen Arbeitswelt?
Das ist eine Elementarfrage für die Demokratie

VON HERIBERT PRANTL


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Wenn Gewerkschafter
zunehmend AfD wählen, droht
die Solidarität braun zu werden

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