Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1

W


enn man vom Kirchhügel
im Dorf Merxleben hin-
über nach Bad Langensal-
za schaut, kann man verste-
hen, warum Thüringen
sich selbst als „das grüne Herz Deutsch-
lands“ preist. Knapp 40 Kilometer nord-
westlich von Erfurt liegt das Tal der Un-
strut, eher ein Flüsschen als ein Fluss, zwi-
schen Merxleben und Langensalza, heute
Bad Langensalza. Man sieht Felder und
Wiesen, so weit das Auge reicht. Im Fluss-
tal stehen kleine Auwälder; von jenem Ufer
aus, das Langensalza zugewandt ist, zieht
sich ein etwas größeres Waldstück einen
lang gestreckten Hügel hinauf. Nach der
Entdeckung von Schwefelquellen gab es
seit 1812 am Rande dieses Waldes eine Rei-
he von Badehäusern; von ihnen ist so gut
wie nichts mehr übrig. Den Namen Bade-
wäldchen hat der Forst trotzdem behalten.
Was heute eine Idylle ist, war am 27. Juni
1866 ein Schlachtfeld. Auf den Hügeln um
die Unstrut herum bekämpften sich die
Truppen zweier Königreiche, die es heute
nicht mehr gibt: Fast die gesamte Armee
des Königreichs Hannover mit, je nach
Zählweise, 17 000 bis 19 000 Soldaten traf
auf einen preußischen Großverband, der
ungefähr 9000 Mann zählte. Hannover
siegte in der Schlacht bei Langensalza, und
es war ein Pyrrhussieg schlimmsten Aus-
maßes.
König Pyrrhus von Epirus hatte
279 v.Chr. die Römer bei Asculum im heuti-
gen Apulien geschlagen. Sein Heer erlitt da-
bei so große Verluste, dass Pyrrhus danach
sinngemäß gesagt haben soll: Noch so ein
Sieg, und wir sind verloren. Immerhin setz-
te Pyrrhus nach Asculum seinen Krieg ge-
gen die Römer noch vier weitere Jahre fort.


Langensalza aber blieb der einzige Sieg
Hannovers gegen die Preußen. Zwei Tage
nach der Schlacht, am 29. Juni 1866, kapi-
tulierte das hannoversche Heer, nachdem
es von überlegenen preußischen Verbän-
den eingekreist worden war. Der Sieg von
Langensalza läutete auch das Ende des Kö-
nigreichs Hannover ein. Nachdem die Preu-
ßen den bald so genannten Deutschen
Krieg mit der Schlacht bei Königgrätz im
heutigen Tschechien am 3. Juli gegen Ös-
terreicher und Sachsen endgültig und na-
hezu triumphal für sich entschieden hat-
ten, annektierten sie am 1. Oktober dessel-
ben Jahres das Königreich Hannover, das
Kurfürstentum Hessen, das Großherzog-
tum Nassau sowie die Freie Stadt Frank-
furt.
Sie alle lagen nördlich der Main-Linie,
sie alle hatten sich im Krieg des Deutschen


Bundes gegen Preußens Hegemonialbe-
strebungen an der Seite Österreichs gegen
Berlin gewandt. Dies besiegelte ihr Schick-
sal; es entstand die preußische Provinz
Hannover, die anderen beiden Feudalstaa-
ten sowie Frankfurt wurden Teil der preu-
ßischen Provinz Hessen-Nassau. Die Ab-
neigung gegen die Preußen war nach 1866
keineswegs eine exklusiv bayerische Ange-
legenheit – auch wenn die Bayern im Deut-
schen Krieg genauso auf der Verliererseite
standen wie Hannover oder Sachsen.
Die Vorgeschichte jenes Tages, an dem
Hannovers Artillerie vom Kirchberg in
Merxleben aus auf die Preußen jenseits
der Unstrut schoss, ist kompliziert und be-
ginnt mit dem Wiener Kongress von 1815.
Nachdem Napoleon die alte Ordnung Euro-
pas einschließlich des mehr und mehr zur
Farce gewordenen Heiligen Römischen Rei-
ches Deutscher Nation umgestürzt hatte,
wollten Monarchen, Fürsten und Herzöge
nebst ihren Kabinetten und Kammerher-
ren nach Napoleons Endniederlage bei Wa-
terloo die feudalstaatliche Ordnung, so-
weit es nur irgend ging, wiederherstellen.
Das Ergebnis war der Deutsche Bund mit
dem Kaiserreich Österreich, vier deut-
schen Königreichen (Bayern, Sachsen, Han-
nover und Württemberg), dem Staat Preu-
ßen (allerdings zunächst ohne die weit öst-
lich gelegenen Provinzen Ost- und West-
preußen) sowie etlichen Herzog- und Fürs-
tentümern und Freien Städten.
Vieles am Deutschen Bund mutet heute
skurril an; zum Beispiel zählte Großbritan-
nien bis 1837 in gewisser Weise zu der euro-
päischen Adelsallianz, weil die Könige von
Hannover bis zu eben jenem Jahr wegen dy-
nastischer Verquickungen in Personaluni-
on auch Könige von Großbritannien wa-
ren. Auch der König von Dänemark war we-
gen seiner Herrschaft über Lauenburg und
Holstein genauso Mitglied im Deutschen
Bund wie der König der Niederlande, der
Luxemburg und später Limburg vertrat. In
den ersten Jahrzehnten war einer der ton-
angebenden Politiker im Bund Österreichs
Kanzler Klemens von Metternich, ein Erz-
reaktionär, der nach den Karlsbader Be-
schlüssen von 1819 alles verfolgen ließ,
was nach Liberalität oder gar Demokratie
roch.
Das Revolutionsjahr von 1848 ließ man-
che Hoffnungen aufkeimen, der Deutsche
Bund oder mindestens wichtige Teile des
Bundes könnten einen neuen Weg einschla-
gen – weg vom Übergewicht der Feudalord-
nungen, hin zu einer stärkeren Beteiligung
wenn nicht des ganzen Volkes, so doch der
bürgerlichen Schichten. Diese Hoffnungen
waren trügerisch, trotz des politischen
Frühlings mit dem Parlament in der Frank-
furter Paulskirche. Truppen von Mitglieds-
staaten des Deutschen Bundes wurden so-
gar einige Male gegen Revolutionäre vor al-
lem in Südwestdeutschland 1848 und 1849

eingesetzt. Letztlich blieb der Bund ein Ga-
rant der alten Ordnung.
Der Bund hatte auch eine eigene Militär-
verfassung. Die Mitglieder stellten insge-
samt zehn Armeekorps, rund 300 000 Sol-
daten. Je drei davon waren österreichische
beziehungsweise preußische Truppen; die
Bayern steuerten ein Armeekorps bei. Die
restlichen drei Korps kamen aus den ande-
ren kleineren Mitgliedsstaaten und -herr-
schaften. Dieses „Bundesheer“ allerdings
war nicht mehr als eine Ansammlung
höchst unterschiedlich ausgebildeter und
ausgerüsteter Truppen unter uneinheitli-
cher Führung. Der Verlauf des Krieges von
1866 bewies dann auch, dass die Preußen
in nahezu allen Belangen überlegen waren.

Die letzten Jahre des Deutschen Bundes
begannen, als der dänische König Fried-
rich VII. 1863 mit einer neuen Verfassung
eine stärkere Bindung der ihm unterste-
henden Herzogtümer Schleswig, Holstein
und Lauenburg an die dänische Krone
durchsetzen wollte. Der Deutsche Bund be-
schloss die sogenannte Bundesexekution,
also den Einsatz militärischer Mittel, ge-
gen Dänemark. Holstein und Lauenburg
sollten von Truppen aus Österreich, Preu-
ßen, Hannover und Sachsen besetzt wer-
den. Nach einigen Monaten der Verhand-
lungen, aber auch mancher Uneinigkeit im
Bund sowie dem Tod des dänischen Königs

und der Thronbesteigung seines Nachfol-
gers Christian IX. marschierten zu Weih-
nachten 1863 Bundestruppen ohne größe-
ren Widerstand in Holstein und Lauenburg
ein. Im Januar 1864 stellten Preußen und
Österreich Dänemark dann ein Ultima-
tum, die neue Verfassung außer Kraft zu
setzen und sich aus Schleswig zurückzuzie-
hen. Die mittleren und kleinen Staaten des
Deutschen Bundes protestierten gegen die-
ses Vorgehen der „Supermächte“; aller-
dings hatten Wien und Berlin bereits zuvor
erklärt, sie würden so handeln, wie sie woll-
ten, unabhängig vom Deutschen Bund.
Im Februar 1864 griffen Preußen und
Österreicher Dänemark an; den Bundestag
in Frankfurt oder die Proteste von Königen
und Herzögen ignorierten sie dabei. Im
April 1864 fand die Entscheidungsschlacht
statt; die Preußen überwanden das bedeu-
tendste Festungswerk der Dänen nahe der
Stadt Düppel, die Düppeler Schanzen. Im
Mai kam es noch zu einem wiederum denk-
würdigen Seegefecht vor dem damals briti-
schen Helgoland, wo die dänische Flotte ge-
gen preußische Schiffe sowie einen star-
ken Verband der österreichischen Marine
kämpfte. Auch das hört sich heute sehr selt-
sam an: die österreichische Marine bei Hel-
goland. Im Juli 1864 jedenfalls unterzeich-
neten die Dänen den Waffenstillstand.
Schon vor dem Dänemark-Krieg wurde
immer deutlicher, dass die Rivalität zwi-
schen den zwei deutschen Führungsmäch-
ten Österreich und Preußen erhebliches
Konfliktpotenzial barg. Preußens König
Wilhelm berief 1862 Otto von Bismarck
zum Ministerpräsidenten. Unter Bismarck

setzte sich Berlin jenes Ziel, das es mit der
Ausrufung Wilhelms zum Deutschen Kai-
ser im Spiegelsaal von Versailles am 18. Ja-
nuar 1871 nach drei Kriegen erreicht hatte:
die Dominanz Preußens in einem deut-
schen Reich ohne Österreich.
Bismarck wollte die Vormachtstellung
Preußens auch durch eine Reform des
Deutschen Bundes vorantreiben. Im Juni
1866 legten die Preußen einen Reformplan
vor, der im Prinzip aus dem Deutschen
Bund einen Bundesstaat mit einem gewähl-
ten nationalen Parlament machen sollte –
allerdings ohne die k. u. k. Monarchie. Der
Plan stieß nicht nur in Wien, sondern auch
bei anderen Mitgliedern des Deutschen
Bundes auf Skepsis und Ablehnung. Im
Mittelpunkt dabei standen die Furcht vor
der Übermacht Preußens und die Sorge
vor allem der kleineren Staaten und Herr-
schaften, sie könnten in so einem preußi-
schen Deutschland auf kurz oder lang ihre
Souveränität verlieren. Genauso kam es
dann auch nach 1866 und 1871.
Ebenfalls im Juni 1866 nahm Berlin eine
politische Entscheidung Wiens zum An-
lass, in dem seit dem dänischen Krieg von
den Österreichern verwalteten Holstein
einzumarschieren (die Preußen verwalte-
ten nach 1864 Schleswig). Die Österreicher
wiederum hielten Preußens Vorstoß für ei-
ne Verletzung der Statuten des Deutschen
Bundes und beantragten die Mobilisie-
rung der Bundestruppen gegen Preußen.
Dies spaltete den Bund; etliche Mitglieder
schlugen sich auf die Seite Preußens, ande-
re, darunter Bayern, Sachsen und auch
Hannover, stimmten für Österreich. Bis-
marck erklärte daraufhin, der Deutsche
Bund bestehe nicht mehr, weil Österreich
die Regeln für eine Bundesexekution nicht
eingehalten habe. Damit hatte Preußen je-
nen Krieg, auf den Bismarck hingearbeitet
hatte.
Dies alles gehört zum Vorlauf jenes Ta-
ges im Juni 1866, an dem Langensalza für
ein paar Stunden unversehens in die Nähe
des Zentrums der deutschen Geschichte
rückte. Hannovers letzter König Georg V.
und seine Berater wussten sehr wohl, dass
ihre Armee den Preußen nicht würde stand-
halten können. Die Preußen wussten das
auch, weswegen sie sofort Hannover und
seine Ländereien besetzten, während die
hannoversche Armee nach Süden auswich
in der vagen Hoffnung, sich dort mit ande-
ren Bundestruppen, den Hessen und vor al-
lem den Bayern, vereinigen zu können. Dar-
aus wurde nichts. Einerseits waren die Ver-
bündeten sehr zögerlich, sie wollten in ers-
ter Linie ihre eigenen Grenzen schützen
und nicht zu weit nach Norden marschie-
ren. Während bei Waterloo die Preußen
Wellington zu Hilfe gekommen waren, wa-
ren bei Langensalza die Bayern und die
Hessen weit, weit weg. Zum anderen hat-
ten die Preußen im Juni 1866 mehrere star-

ke Armeekolonnen in Marsch gesetzt, die
in jedem Fall den Hannoveranern überle-
gen waren. Als der Krieg begann, stand das
Schicksal Hannovers fest.
Am 27. Juni hatten die preußischen
Armeekolonnen die Hannoveraner in Thü-
ringen bereits von Westen, Osten und Nor-
den her eingeschlossen. Ein zahlenmäßig
nicht so starkes Kontingent unter dem
preußischen Generalmajor Eduard von
Flies sollte den Abmarsch der Hannovera-
ner in Richtung Süden verhindern. Es rück-
te auf Langensalza und in Richtung der
Unstrut vor. Weil die Preußen dort auf die
hannoversche Armee trafen, ließ Flies an-
greifen. So entstand die Schlacht von Lan-
gensalza.
Hannovers Infanterie drängte die Preu-
ßen unter erheblichen Verlusten aus dem
Tal der Unstrut zurück und in das Bade-
wäldchen hinein. Die Preußen waren zwar
zahlenmäßig unterlegen, benutzten aber
bereits ein mit Zündnadelpatronen schie-
ßendes Hinterlader-Gewehr. Mit dieser
Waffe schossen die Soldaten deutlich
schneller als die Hannoveraner, die fast al-
le noch mit Vorderladern ausgerüstet wa-

ren. Dies lässt sich auch an den Verlustzah-
len erkennen. Obwohl die Hannoveraner
die Preußen aus Langensalza vertrieben,
sie also militärisch gesehen besiegten,
hatten sie rund 400 Gefallene und etwa
1500 Verwundete zu beklagen. Bei den
Preußen kamen knapp 200 Mann um, etwa
630 wurden verwundet. Man erinnere sich
an Pyrrhus: Nach einem solchen Sieg gab es
für Hannover nichts mehr zu gewinnen.
Von alledem ist heute nicht mehr viel zu
sehen im grünen Tal der Unstrut. Bad Lan-
gensalza ist ein hübsches Fachwerkstädt-
chen mit einem seit Jahren geschlossenen
Museum. An der Brücke über die Unstrut
und oben bei der Kirche von Merxleben,
die damals als Lazarett diente, stehen et-
was versteckt ein paar Informationstafeln.
Auf dem Merxlebener Kirchhof sieht man
mehr oder weniger verwitterte Grabsteine
von Hannoveranern. In einem Massengrab
sind 200 von ihnen beerdigt; sie seien,
heißt es auf dem Stein, „treu ihrem Könige
und Vaterlande“ am 27. Juni 1866 gefallen.
Man blickt vom Friedhof auf den grünen
Hügel, wo an jenem Tag die Kanonen eines
Vaterlandes standen, das es seit Langem
nicht mehr gibt und das von einem König
regiert wurde, der seine Tage im Wiener
Exil beschloss. Ach ja, ein paar Jahrzehnte
nach dem Tag von Langensalza gab es
auch das mächtige Preußen nicht mehr.
Bis es allerdings so weit war, starben noch
etliche Millionen.

Wie bei


Pyrrhus


Einst Schlachtfeld, heute Idylle:


Bei Langensalza kämpften


1866 Preußen und Hannover –


es ging um die Vormacht


in Deutschland. Ein Ortsbesuch


von kurt kister


Für einen einzigen Tag
stand Langensalza
imZentrum der Geschichte

Ein paar verwitterte Grabsteine
erinnern an das Sterben
und an die Vergänglichkeit

Ein Sieg mit maximalem


Schaden: Das Königreich


Hannover fällt an Preußen


„Von und auf dem Langensalzaer Schlachtfelde. Nach Mittheilungen von Augenzeugen und nach der Natur aufgenommen von A. Sundblad“: zeitgenössische Darstellung (1866) der Schlacht von Langensalza aus
derGartenlaube. Der Bericht enthält auch eine Szene des Unwillens am innerdeutschen Krieg. Ein preußischer Landwehrmann hatte auf einer Patrouille nicht auf die feindlichen Soldaten geschossen, „,weil mir‘,
entgegnete er treuherzig, ‚der Hannoveraner zurief: Bruder, schieß nicht! Komm, wir wollen einmal trinken!‘ Darauf hätten sie sich die Hände gereicht und miteinander getrunken.“FOTO: PUBLIC DOMAIN

DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 HISTORIEGESELLSCHAFT 55

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