Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
interview: jan stremmel

SZ: Hier auf meinem Zettel stehen zwei
Themen: Liebeund Engagement. Wor-
über möchten Sie lieber sprechen?
Nora Tschirner: Auf jeden Fall Engage-
ment. Wobei das ja eigentlich ein bisschen
das Gleiche ist, oder? Ich finde, wir sollten
dahin kommen, dass bei Liebe immer Enga-
gement mitgemeint ist.
Weil man sich für die Liebe engagieren
muss?
Und weil es Liebe braucht, um sich wirklich
für Dinge zu engagieren.
Sie sind für Liebesfilme bekannt, aber
auch für Ihr Engagement. Neben der
Schauspielerei drehen Sie erfolgreiche
Dokumentarfilme über ernste gesell-
schaftliche Themen.
Oh ja, für mich sind das alles Puzzlestücke
eines großen Masterplans. Und der hat sich
eigentlich nicht geändert, seit ich 16 bin.
Was ist das für ein Plan?
Achtung, das klingt jetzt wahnsinnig platt,
aber es geht für mich im Hinterkopf immer
darum, eine gemütlichere, glücklichere
Welt für so viele Leute wie möglich zu schaf-
fen. Eine Befreiung von einem gepferchten
Leben. Richtig schöner Gutmenschen-
scheiß!(lacht)
Welche Art der Befreiung steckt in Ihrem
neuen Film „Gut gegen Nordwind“?
Ich finde, eine große. Es muss ja nicht im-
mer eine Riesenmessage in allem stecken.
Aber einen guten Liebesfilm im Kino zu se-
hen wirkt tröstend, befreiend, beflügelnd.
Wie eine schöne, lange Umarmung.
Trotzdem stehen Sie relativ selten vor der
Kamera.
Das hat aber mehr damit zu tun, was ich
eben von der Liebe sagte: Ich muss einen
Filmstoff richtig spüren, damit ich zusage.
Und danach dauert es, bis meine Lust auf
Drehen und das Leben am Set wieder aufge-
füllt ist.
Klingt nach einer luxuriösen Situation.
Ist es natürlich total. Daniel Day-Lewis hat
mal erklärt, warum er nur so wenige Filme
dreht: Nicht weil er so viel Energie braucht
für seine krassen Rollen. Sondern weil er
nach jedem Dreh erst mal wieder die Nase
voll von der Schauspielerei hat. Dann zieht
er irgendwo aufs Land und arbeitet drei Jah-
re als Schuster. Ich kann das gut verstehen.


Ist die Schauspielerei Ihr Brotberuf?
Es ist jedenfalls immer eine Mischkalkulati-
on. Ich liebe jeden einzelnen Film, den ich
mache, sonst würde ich ihn nicht drehen.
Andererseits ermöglichen die Kinofilme
mir, mich danach wieder um Dinge zu küm-
mern, die monetär nicht so spannend sind,
die sich aber dafür in einer anderen Wäh-
rung unendlich mehr auszahlen.
Nämlich wie?
Schon wieder so ein platter Satz: durch das
Gefühl, das Leben von Menschen verbes-
sert zu haben. Unser letzter Dokumentar-
film ist jetzt zwei Jahre her, aber ich bekom-
me immer noch Nachrichten von Leuten,
die sagen: Alles habe sich für sie zum Besse-
ren gewendet, seit sie den gesehen haben.
Ich könnte da den ganzen Tag strahlen, das
ist das reinste Glücks-Dauerabo!
In dem Film „Embrace“ geht es um weibli-
che Körperwahrnehmung. Sie waren Ko-
Produzentin und Protagonistin...
...dabei kam ich erst dazu, als das Konzept
schon stand. Ich hatte den Spendenaufruf
für das Crowdfunding auf Facebook gese-
hen und wusste sofort: Das ist es. Den Film
muss ich unterstützen.
Warum?
Weil ich zu viele fantastische, erfolgreiche
Frauen erlebt habe, die in der Schwanger-
schaft völlig hohlgedreht sind. Die ihren
Körper plötzlich nicht mehr attraktiv fan-
den, nur weil er nicht dem entsprach, was
uns die Schönheitsindustrie als Standard
vorspielt.
Die Protagonistindes Films ist eine Austra-
lierin, die nach dem dritten Kindmit Body-
building anfängt, um wieder auszusehen
wie vorher.
Eine Katastrophe. Aber dann merkt sie, wel-
chem Wahnsinn sie da hinterherrennt. Tat-
sächlich fallen ja reihenweise großartige
Frauen in Unglück und Depression, nur
weil sie so aussehen, wie man nach einer Ge-
burt nun mal aussieht. Das Verrückte ist,
dass ihre Partner sie meist genau so vergöt-
tern. Aber sie können das nicht annehmen.
Kennen Sie dieses Gefühl von sich selbst?
Das eher weniger, vor allem weil man sich
in meiner Familie aus optischer Schönheit
nie viel gemacht hat. Aber die Körperwahr-
nehmung ist ja nur die Spitze des Eisbergs.
Grundsätzlich geht es darum, wieso man
oft so unnötig streng mit sich selbst ist.
Und das ist ein Thema, das natürlich auch
mich betrifft.
Der Film sollte eigentlich auf DVD erschei-
nen. Nachdem Sie an Bord waren, landete
er auf Platz eins der Kinocharts.
Weil wir uns im Team die Mühe machten,
alle Kinobetreiber einzeln zu überzeugen,


dass er nicht nur in den Programmkinos
laufen muss. Wir wollten den an den Ladys-
Abenden in den großen Kinoketten zeigen.
Da, wo die Mädels sonst Prosecco trinken
und die Filme sehen, in denen alle durch-
trainiert und perfekt geschminkt sind.
Die Kinos haben das akzeptiert?
Ja. Und seither schreiben mir viele dieser
Frauen, welchen Erweckungsmoment sie
dadurch hatten. Zu sehen, welche Kraft das
entfalten kann, lässt mich nie zynisch
werden.
Hatten Sie mal einen ähnlichen Erwe-
ckungsmoment?
Ja, mit 16, bei meiner Gitarrenlehrerin. Ich
hab ja zehn Jahre klassische Gitarre ge-
lernt, aber nie geübt. Also saß ich da ein-
mal die Woche 40 Minuten und jammerte
über die Schule. Wie ätzend die Hausaufga-
ben sind, wie nervig die Lehrer und so wei-
ter. Die Gitarrenlehrerin hörte sich das an,
nickte und sagte irgendwann, völlig unbe-
eindruckt: „Dann geh doch einfach von der
Schule ab.“ Und ich so: „Was?!“ Und sie:
„Na, ist doch uncool, wenn man an einem
Ort bleibt, den man so blöd findet.“ Das
war für mich ein richtig krasser Moment.
Warum?
Weil mir klar wurde: Du kannst dein Leben
weiter mit Nörgeln verbringen und mit Leu-
ten, die auch immer danebenstehen und al-

les kacke finden. Oder du übernimmst Ver-
antwortung und tust was gegen deine Un-
zufriedenheit. Ich hab mich richtig ge-
schämt.
Weil Sie selbst nicht darauf gekommen
sind?
Weil mir klar wurde, wie mega uncool ich
war. Dass meine Gitarrenlehrerin mir erst
den Spiegel vorhalten musste: Hey, das ist
übrigens dein Leben, du hast es in der
Hand! Ich bin froh, dass mir das so früh im
Leben passiert ist.
Die Schule haben Sie aber dann trotzdem
fertiggemacht.
Klar, um sie zu schmeißen, war ich natür-
lich zu feige. Aber ab diesem Moment war
das meine bewusste Entscheidung. Meine
Noten wurden sofort besser. Und der Drops
mit den Ausreden war dann gelutscht, bis
heute.
Ihre Mutter ist Kulturjournalistin, Ihr
Vater Dokumentarfilmer. Wie haben Sie
sie als Kind erlebt?
Neugierig auf die Welt. Und immer
ganzheitlich engagiert. Wenn mein Vater
monatelang in irgendeinem Krisengebiet
drehte, wo es den Leuten wirklich schlecht
ging, dann kam es nicht selten vor, dass er
nach seiner Rückkehr eine Hilfsorgani-
sation gründete, die die Zustände dort
verbessern sollte.

Etwa am Aralsee, über den er in den Neun-
zigern einen einflussreichen Film drehte.
Damals war ja Umweltschutz noch ein
Luxusthema. Kaum jemand wusste, dass
das Austrocknen dieses Sees eine der größ-
ten von Menschen verursachten Umweltka-
tastrophen überhaupt war.
Was haben Sie von der Arbeit Ihrer Eltern
für sich selbst gelernt?
Dass es sich lohnt, Themen nah an sich ran-
zulassen und selbst mit anzupacken. Ich er-
innere mich an mein liebstes Kinderlied na-
mens „Märchenprinz“ von Gerhard Schö-
ne: dieser allmächtige Prinz, den man sich
manchmal herbeiwünscht, wenn die Welt
gerade scheiße ist – der muss man am En-
de des Tages selbst sein.
Welchen Einfluss hatte Ihre Kindheit in
Ostberlin?
Auf jeden Fall hat die DDR mir einen soli-
den Bullshit-Detektor eingebaut. Für Wer-
bung generell und die Versprechungen der
Schönheitsindustrie im Speziellen. Aber
auch einen starken Solidaritätsgedanken.
Wenn du ständig Kuchen backst für einen
Basar zugunsten armer Kinder in irgendei-
nem Land, setzt dir das viele kleine Anker
in dein Bewusstsein: Wir gehören hier alle
zusammen, egal wo wir leben, wie ein gro-
ßer Schwarm. Das kriegst du nie wieder
aus dem System.

Vor einigen Jahren drehten Sie einen
Dokumentarfilm in Äthiopien, in einer
abgelegenen Frauenklinik.
Ja, dabei ging es um die Prävention von
Geburtsfisteln, eine Krankheit, die es bei
uns gar nicht mehr gibt.
Ein abseitiges Thema. Wie kamen Sie dar-
auf?
Die Regisseurin schrieb mir, weil sie eine
prominente Sprecherin für den Off-Text
suchte. Das fand ich weniger spannend,
aber das Thema umso mehr. Also habe ich
gefragt, ob ich bei dem Film nicht stattdes-
sen Ko-Regie führen und produzieren
kann. Völlig übergriffig. Aber fand sie gut.
Dann sind wir zusammen nach Äthiopien.
Wie war der Dreh?
Beeindruckend, aber für mich persönlich
unangenehm. Ich habe gemerkt: Ich bin
keine Dokumentarfilmerin. Es war un-
glaublich spannend und beglückend, am
Leben dieser Menschen teilzunehmen,
aber abgrundtief unangenehm, ihnen da-
bei eine Kamera ins Gesicht zu halten.
Ihr eigenes Privatleben schirmen Sie
streng ab. Warum eigentlich?
Ich habe früh gemerkt, dass ich so selten
wie möglich eine Projektionsfläche sein
will. Mit 16 hatte ich mal kurz beschlossen,
Model zu werden, warum auch immer.
Nach drei Castings war mir klar: Das ist
furchtbar! Diese Leute gucken dich an wie
eine Puppe, es gibt null echte Verbindung.
Das ist das große Missverständnis, wenn es
um Ruhm geht: Im Mittelpunkt zu stehen
klingt so geil. Nur steht man da halt immer
allein.

Trotzdem sind Sie Moderatorin und
Schauspielerin geworden.
Ja, in wohldosierter Taktung. Aber abseits
davon will ich normaler Teil einer mensch-
lichen Gruppe sein, ganz ohne Sondersta-
tus. In einem kleinen Kreis von Menschen
einer sinnstiftenden Tätigkeit nachgehen


  • das ist für mich die Definition von Glück,
    da läuft mein System rund. Homestorys
    brauche ich dafür nicht.
    Gehen Sie deshalb so selten in Talkshows?
    Ich will mich nur zu Wort melden, wenn ich
    irgendwas zu erzählen habe. Klar könnte
    ich mich jedes Mal irgendwo reinsetzen,
    wenn ich gerade eine Figur in einem Ani-
    mationsfilm synchronisiert habe – aber
    würde das irgendwen interessieren? Also
    sage ich freundlich ab. Und melde mich
    wieder, wenn ich ein Thema habe, über das
    ich wirklich reden will.
    2017 warben Sie für die Nachrichtenseite
    Perspective Daily, ein Start-up, das „kon-
    struktiven Journalismus“ macht. Was ge-
    nau interessierte Sie daran?
    Damals sind viele Leute um mich herum in
    so einem pittoresken Weltschmerz versun-
    ken, ähnlich wie jetzt: Brexit, Trump, ogott-
    ogott, alles geht den Bach runter. Dieses
    Geseufze und Geseiere im Alltag nervt
    mich wahnsinnig. Weil es zu nichts führt.
    Wenn jemand damit anfängt, halte ich mir
    tatsächlich die Ohren zu. BeiPerspective
    Dailyzeigen die Artikel immer gleich mögli-
    che Lösungen auf und regen die eigene
    gesellschaftspolitische Aktivität an. Das
    mag ich grundsätzlich: konstruktiv den-
    ken, statt alles mit folgenloser Negativität
    zu ersticken.
    Wie entscheiden Sie, für welches Thema
    Sie sich engagieren?
    Ich stelle mir die einfache Frage: Was ver-
    sprüht so viel Glück, dass es kein Verlustge-
    schäft für mich ist?
    Was wird das nächste Tschirner-Thema?
    Vielleicht Führungsstil. Ich arbeite zurzeit
    viel mit Pferden und lerne dabei extrem
    viel darüber, wie Gruppen funktionieren.
    Was können wir von Pferden lernen?
    Wie gute Führung funktioniert. Wir Men-
    schen behaupten ja gerne, es gäbe bei Tie-
    ren automatisch eine sogenannte Hackord-
    nung: Der Stärkste und Lauteste führt.
    Aber wenn man das genauer erforscht,
    stimmt das gar nicht. Stattdessen geht es
    um Verantwortung. Es führt das Tier, das
    die Gruppe am besten beschützen kann. Es
    gibt ein tolles Buch des Verhaltensbiologen
    Robert Sapolsky, „Gewalt und Mitgefühl“.
    Der sagt: In einer Affenhorde wäre jemand
    wie Donald Trump schon nach zwei Tagen
    abgesetzt worden.
    Warum?
    Weil seine Dominanz auf Schikane beruht
    und er damit letztlich die Gruppe gefähr-
    det.
    Und was lernen wir nun daraus?
    Dass wir dringend eine neue Führungskul-
    tur brauchen. Das ständige „Wir brauchen
    mehr Frauen in Führungspositionen“ hal-
    te ich für Quatsch. Wir brauchen mehr gu-
    te Leute in Führungspositionen, egal ob
    Männer oder Frauen. Etwas Abrüstung zwi-
    schen den Geschlechtern täte uns gut.
    Und was machen Sie nun aus dem Thema
    Führung? Eine Dokumentation, einen
    Spielfilm, ein Start-up?
    Ich bin gerade noch im Brütprozess. Aber
    ich sage Bescheid.


Nora Tschirnerwurde 1981 in Berlin
geboren.Sie wuchs mit zwei älteren
Brüdern im Stadtteil Pankow auf. Nach
dem Abitur spielte sie von 2001 an die
Hauptrolle in der ARD-Serie „Sternen-
fänger“. Gleichzeitig begann sie, beim
Musiksender MTV zu moderieren, wo
sie schnell für ihre Berliner Schnauze
bekannt wurde. Es folgten Hauptrol-
len in erfolgreichen Kinofilmen wie
„Keinohrhasen“ und „Zweiohrküken“,
seit 2013 ermittelt sie außerdem als
„Tatort“-Kommissarin in Weimar, an
der Seite ihres Ex-MTV-Kollegen Chris-
tian Ulmen. Der Film „Gut gegen Nord-
wind“ läuft aktuell im Kino. Tschirner
lebt in Berlin und hat ein Kind.

FOTO: MARCO JUSTUS SCHÖLER

56 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH


„Ich will mich nur zu Wort
melden, wenn ich
irgendwas zu erzählen habe.“

„Auf jeden Fall hat die DDR
mir einensoliden
Bullshit-Detektor eingebaut.“

NORA TSCHIRNER


ÜBER


ENGAGEMENT


Ein Hotel in Köln. Noch bevor sie sitzt, will Nora Tschirner eines wissen,


wie man ihren neuen Kinofilm fand. Auf die Antwort – „überraschend ernst“ –


folgt ein gespielt empörter Monolog über die weitverbreitete, aber


natürlich völlig falsche Annahme, dass sie fürs Kino nur lustig-romantische


Filme drehe. Dann setzt sie sich und streckt die Chucks unter den Tisch.


Links schwarze Schnürsenkel, rechts weiße


Zur Person

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