Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
von anna hoben

U


nd dann stehen sie auf einem
Dach und staunen. Ein
Schwimmbad auf einem Haus,
das passt vielleicht zu einem
Luxuswohngebäude, aber zu ei-
nem Haus mit geförderten Mietwohnun-
gen – wo gibt es denn so was? So was gibt
es in der Seestadt Aspern in Wien, und der
großzügige Dachpool verfehlt seine Wir-
kung nicht bei den Münchnern, die an die-
sem Tag raus nach „Transdanubien“ gefah-
ren sind, wie man hier sagt – von der präch-
tigen Innenstadt auf die andere Donausei-
te. Dazu die Ausblicke: auf das Neubauge-
biet, mit seinem künstlich angelegten See,
seiner vielfältigen Architektur, seinen
Farbtupfern und begrünten Dächern. Auf
Wien, bis zu den Hügelausläufern des Wie-
nerwalds. Der Start der Besichtigungstour
in der Seestadt ist schlau gewählt.
Wien, die Wunderstadt: So heißt es oft,
wenn über Wohnen und Stadtplanung dort
berichtet wird. Mehr als 30 Frauen und
Männer von der Stadtspitze, aus dem Stadt-
rat und dem Planungsreferat, von der städ-
tischen Wohnungsbaugesellschaft GWG
und vom bayerischen Bauministerium ha-
ben sich aufgemacht, um zu schauen, wie
es wirklich ist – und was München von der
österreichischen Hauptstadt lernen kann.
Denn die Herausforderungen ähneln sich:
Beide Städte wachsen rasant, Wohnraum
ist knapp. Man habe ja nun nicht nur viel
über Wien gelernt, „sondern auch über uns
daheim“, wird Stadtbaurätin Elisabeth
Merk am Ende sagen. Sie sei gespannt, wel-
che Arbeitsaufträge die Stadträte nun in
Anträge gießen.
Das Programm ist dicht. Im Wiener Rat-
haus haben sie zum Auftakt einiges ge-
hört über den Gemeindebau und die För-
derpolitik der Stadt. Sie haben sich an das
etwas andere Vokabular gewöhnt: Erbbau-
recht etwa heißt in Österreich schlicht
Baurecht. Die hiesige Lokalbaukommissi-
on, die oberste Baugenehmigungsbehör-
de, wird dort in charmanter Direktheit
Baupolizei genannt. In Simmering haben
sie sich angeschaut, wie Mietwohnungen
energetisch saniert werden – dies ge-
schieht im Zuge des EU-Stadterneue-
rungsprojekts „Smarter Together“, in
Wien „Gemeinsam g’scheiter“ genannt.
Wien hatte sich zusammen mit München
und Lyon dafür beworben, das Münchner
Partnerprojekt wird in Neuaubing umge-
setzt. Sie werden einen Bildungscampus
besichtigen und das Sonnwendviertel,
das in den vergangenen Jahren auf ehema-
ligen Bahnflächen in der Nähe des Haupt-


bahnhofs entstanden ist. Und nun, am
zweiten Tag, geht es raus in die Seestadt
Aspern. Dort entsteht ein neues Stadtvier-
tel, etwa von der Größe Freihams. Unge-
fähr 7000 Menschen leben dort bereits,
bis zu 25 000 sollen es irgendwann sein.
Das ist der interessanteste Teil der Reise,
finden die Münchner – denn das Wiener
Modell mit den vielen städtischen Ge-
meindebauten kann man zwar beneiden,
man wird es aber zu Hause natürlich nicht
auf die Schnelle kopieren können.
Für die Seestadt Aspern ließ die Stadt
als erstes eine U-Bahn bauen – eine halbe
Stunde braucht man damit in die Innen-
stadt. Damit aus der Seestadt keine Schlaf-
stadt wird, sollen auch bis zu 20 000 Ar-

beitsplätze entstehen. Was den Münch-
nern auffällt, und keineswegs negativ: wie
dicht hier gebaut worden ist. Im Gegenteil:
Hohe Dichte gehe mit hoher Qualität ein-
her, finden die Besucher, und das Viertel
wirke lebendig. Am Vormittag ist ein älte-
res Paar mit Nordic-Walking-Stöcken un-
terwegs, ein Schwimmer zieht Bahnen im
See, ein fahrerloser Elektrobus im Testbe-
trieb fährt auf der „Sonnenallee“ am Reise-
bus der Münchner vorbei. Mütter mit Kin-
derwagen treffen sich im Café am zentra-
len Hannah-Arendt-Platz. Hier am Stadt-
rand hat man eine gute Gelegenheit gese-
hen, all die Frauen zu verewigen, die sonst
bei den Wiener Straßennamen bisher
kaum berücksichtigt worden sind. Die See-

stadt Aspern ist weiblich, vom Zaha-Hadid-
Platz bis zum Trude-Mally-Weg.
Die Lebendigkeit des neuen Stadtvier-
tels hat vor allem mit den gewerblich ge-
nutzten Erdgeschosszonen zu tun. Wor-
über etwa in der Messestadt Riem oft ge-
klagt wird, dafür hat Wien einen guten
Weg gefunden. „Es wird in der Seestadt
hoffentlich nie ein Einkaufszentrum ge-
ben“, sagt Gabriele Plank auf dem Haus-
dach neben dem Pool. Sie wohnt in Aspern,
arbeitet dort und sitzt im Bezirksrat, dem
lokalpolitischen Gremium. Statt einer
Mall gibt es in der Seestadt eine „gemanag-
te Einkaufsstraße“, dort liegen viele kleine
Geschäfte nebeneinander. Durch eine spe-
zielle Konstruktion – die Geschäfte sind

Untermieter der Einkaufsstraßengesell-
schaft und werden teils subventioniert –
kann die Stadt die Mischung mitbestim-
men. Wettbüros oder Spielhallen will man
eher nicht haben, stattdessen gibt es einen
Friseur, ein Reisebüro, auf Wunsch der Be-
wohner ein Wollgeschäft, bald eine Droge-
rie und einen Hörakustiker.
Im Grunde, sagt Plank, sei es in der See-
stadt wie in einem Dorf. Man grüße einan-
der, „wer das nicht tut, ist entweder kein
Seestädter oder ein Ungustl“. Ach ja, ihre
97 Quadratmeter große Genossenschafts-
wohnung mit Terrasse und Garten kostet
sie und ihren Mann 1090 Euro warm. Zu Be-
ginn mussten sie 15 000 Euro einzahlen. Es
bauen viele gemeinnützige Bauträger,
40 Prozent der Wohnungen in der Seestadt
sind gefördert. Es entstehen aber auch eini-
ge Eigentumswohnungen. Was denn so ei-
ne koste, will ein Stadtrat wissen. 500 000
Euro für 100 Quadratmeter – geht ja noch,
finden die Münchner Gäste.
Und, was nehmen sie nun mit aus der
Seestadt Aspern, für neue Münchner Stadt-
viertel wie in Freiham oder auf dem Areal
der ehemaligen Bayernkaserne? Die Selbst-
verständlichkeit, mit der auf den Autover-
kehr wenig Rücksicht genommen wird,
sagt Christian Amlong, Geschäftsführer
der GWG. Seine Kollegin Gerda Peter
pflichtet ihm bei: „Wir bauen lieber Woh-
nungen als Parkplätze.“ In der Seestadt
liegt der Schlüssel bei 0,35 Stellplätzen pro
Wohnung, in der ökologischen Mustersied-
lung im Münchner Prinz-Eugen-Park be-
trägt er 0,8. Münchens Dritte Bürgermeis-
terin Christine Strobl ist vor allem begeis-
tert von der Vielfalt der Architektur. Dage-
gen sähen die Neubaugebiete in München
schon sehr eintönig aus. Und dann die Farb-
akzente: Hier ein Haus mit knallig blauen
Kacheln, da rote Balkone, dort eine gelbe
Wand. Hingucker, an denen das Auge hän-
gen bleibt. Ein Highlight im Wortsinn ist
das 84 Meter hohe Holzhochhaus HoHo,
das gerade fertig wird und künftig Büros
und ein Hotel beherbergen wird. Das benö-
tigte Holz sei innerhalb von einer Stunde
und 17 Minuten in Österreichs Wäldern
nachgewachsen, erläutert der Architekt
Rüdiger Lainer. Ein spannendes Projekt
für die Münchner, angesichts der Pläne, elf


  • allerdings deutlich niedrigere – Holz-
    hochhäuser in der Messestadt Riem zu er-
    richten. Im Herbst will Stadtbaurätin Elisa-
    beth Merk dazu eine Machbarkeitsstudie
    in Auftrag geben. Sie ist auch angetan von
    einem „Pop-up-Dorm“, einem temporären
    Studentenwohnheim in Holz-Modulbau-
    weise, das als Zwischennutzung in der See-
    stadt aufgestellt wurde und weiterwan-


dern wird, wenn das Grundstück verkauft
ist und bebaut wird. Hätte man in Riem
auch gut machen können, findet Merk. Bis
zu fünfmal kann das Wohnheim ab- und
wieder aufgebaut werden. Günstig sind die
Mieten dort allerdings nicht: Für zehn Qua-
dratmeter bezahlen die Studenten dort
360 Euro warm. Eine „Blaupause für Frei-
ham“ könne Aspern sein, findet der CSU-
Stadtrat Johann Sauerer. Belebte Erdge-
schosszonen müsse man dort auch hinbe-
kommen, „sonst stirbt das Stadtviertel“.
Auch die fahrerlosen Busse gefallen ihm.
Es sei eine Überlegung wert, die S-Bahn-
Stationen auf diese Weise zu verbinden,
bis irgendwann die U-Bahn nach Freiham
fährt. SPD-Planungssprecherin Heide Rie-
ke beschäftigen vor allem die Ausschrei-
bungsverfahren für Grundstücke. „Wir
schaffen uns oft zu viele Bindungen“, die
Stadt lege vorab oft schon zu viel fest.
Durch offenere Ausschreibungen könne
man vielleicht mehr gestalterische Vielfalt
hinbekommen, glaubt sie.

Immer wieder wundern sich die Münch-
ner auch. Darüber etwa, wie günstig in
Wien offenbar gebaut werden kann, für
2000 Euro pro Quadratmeter anstatt für
mindestens 3000, wie in München üblich.
Manch einer kann sich das nur so erklären,
dass die Kosten unterschiedlich berechnet
werden. Sie wundern sich, dass auf den
Straßen kaum Fahrradfahrer zu sehen
sind. Ja, räumen die Herren im Wiener Rat-
haus ein, in dieser Hinsicht sei man noch
Entwicklungsland. Was die Münchner je-
doch am meisten erstaunt, ist, dass die
Stadt Wien selbst heute eher wenig baut.
4000 städtische Wohnungen entstehen
zwischen 2017 und 2020, in der Seestadt
Aspern ist nur ein Prozent der entstehen-
den Einheiten kommunal. Aber Wien kann
sich eben auch noch ein bisschen auf sei-
nen 220 000 Vorteilen ausruhen: So viele
Wohnungen gehören der Stadt.

Ja, sie seien schon zufrieden, antworten
dieMieterinnen, die am späten Nachmit-
tag im Karl-Seitz-Hof im Wiener Bezirk
Floridsdorf zusammensitzen und rat-
schen, auf die Frage von Münchens Bürger-
meisterin Christine Strobl. Es komme halt
auch auf die Kategorie an. C, das bedeute:
niedrige Miete, dafür ist die Wohnung un-
saniert. 85 Quadratmeter für 445 Euro
kalt, dafür habe sie allerdings selbst ein
Bad einbauen müssen, erzählt eine Miete-
rin. Ihre Nachbarin bezahlt etwas mehr für
eine Wohnung, die halb so groß ist, dafür
aber komplett saniert – Kategorie A. Unge-
fähr zehn Euro kalt pro Quadratmeter, für
die Besucher aus München klingt das im-
mer noch ziemlich gut.
Superblocks, so nennen sie in Wien die
Gemeindebauten vom Kaliber des Karl-


Seitz-Hofs: Knapp 1200 Wohnungen gibt es
darin. Auf dem Weg dorthin spielt jemand
von der Münchner Delegation zur Einstim-
mung auf Youtube das Lied „Die Blume aus
dem Gemeindebau“ von Wolfgang Ambros
ab. Vor 100 Jahren, in der Zeit des sogenann-
ten Roten Wiens, legte die Stadt den Grund-
stein für das, wofür Wien mittlerweile in
der ganzen Welt bewundert wird – wäh-
rend die Münchner Delegation in Wien weil-
te, erläuterte die Wohnbaustadträtin Ka-
thrin Gaál das „Vienna Model of Social Hou-
sing“ bei einer Tagung in Washington, D.C.
Damals also, Anfang des 20. Jahrhunderts,
waren die Wohnverhältnisse der Arbeiter
in Wien katastrophal, die Bevölkerung
wuchs und wuchs. Also begann die Stadt, in
großem Stil Wohnungen zu bauen; sie sah
das als ihre politische Aufgabe.

65 000 Einheiten entstanden bis 1934,
nach 1945 wurde weiter gebaut. Heute sind
es 220 000 (in München: 73 500). Dazu
kommen weitere 200 000 geförderte oder
genossenschaftliche Wohnungen. 62 Pro-
zent aller Wiener wohnen laut der Stadt in
kommunalen oder geförderten Wohnun-
gen. Doch auf dem freien Markt steigen die
Mietpreise enorm, weil Wien heute zu den
am stärksten wachsenden Städten Euro-
pas gehört und auch dort die Nachfrage das
Angebot weit übersteigt. Sie liegen mittler-
weile oft bei 15 Euro pro Quadratmeter.
Das ist auch Thema im Wahlkampf. „Woh-
nen darf kein Luxus sein“, steht auf Wahl-
plakaten der SPÖ. Weil Wien zugleich ein
Bundesland ist, sind die politischen Mög-
lichkeiten, gegen explodierende Mieten
vorzugehen, dort ungleich größer als in

München. Ende 2018 machte die rot-grüne
Regierung Furore, als sie eine neue Bauord-
nung beschloss, die Investoren vor-
schreibt, bei größeren Neubauprojekten
zwei Drittel Sozialwohnungen mit einer

Kaltmiete von fünf Euro pro Quadratme-
tern zu bauen. Man bekämpfe damit die
Hauptursache der Kostenexplosion, näm-
lich die Spekulation mit Grund und Boden,
sagte Wohnbaustadträtin Gaál damals.
Die Einkommensgrenzen für eine geför-
derte Wohnung sind hoch, ein alleinstehen-
der Mieter darf bis zu 46 450 Euro netto im

Jahr verdienen, bei drei Personen sind es
78 330 Euro. Wer die Grenzen irgendwann
überschreitet, muss die Wohnung trotz-
dem nicht verlassen. Und wer einmal das
Glück hatte, eine solche zu ergattern, zieht
freiwillig ohnehin nicht mehr aus. So wie
die Mieterinnen im Karl-Seitz-Hof. Im Ge-
meindebau zu wohnen, das ist für sie
selbstverständlich, sodass sie sich eher
wundern über das große Interesse der Be-
sucher aus dem Nachbarland. Sie selbst in-
teressieren sich vielmehr für das Münch-
ner Oktoberfest, das sie immer schon mal
besuchen wollten. „Ist das wirklich so, dass
da alle überall feiern, in der ganzen Stadt?“
Dann staunen sie über den Bierpreis. Fast
zwölf Euro für eine Mass? Da bekäme man
in mancher Wiener Gemeindewohnung
schon zwei Quadratmeter. anna hoben

Wunderstadt Wien


So heißt es oft, wenn über Wohnen und Stadtplanung dort berichtet wird. Was kann München von der österreichischen Metropole lernen?
Viel – auch wenn sich nicht alles einfach kopieren lässt. Ein Besuch

Der Segen der Superblocks


Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Wohnverhältnisse vieler Menschen katastrophal. Die Stadt begann, im großen Stil zu bauen. Davon profitieren die Wiener bis heute


Die Münchner wundern sich
über diewenigen Radfahrer,
hier hat Wien Nachholbedarf

Wer eine geförderte Wohnung
ergattert hat,zieht
freiwillig nicht mehr aus

EXKURSION


München wächst rasant, das stellt die Politik vor große Herausforderungen. Doch auch andere Städte boomen.


Eine Delegationvon der Isar reiste nun an die Donau, um sich dort Anregungen zu holen


1200 Wohnungen gibt es im Karl-Seitz-
Hof im Bezirk Floridsdorf. FOTO: A. HOBEN

In der Seestadt Aspern bewundern die Münchner Gäste Dachpool und Aussicht (ganz oben, Mitte links).
Später besichtigensie das Holzhochhaus HoHo (Mitte rechts) und sehen auf einer Karte am Boden, wie der
Stadtteil noch wächst. Ein Architekturliebling: das rote Haus im Sonnwendviertel.FOTOS: ANNA HOBEN


R2 THEMA DES TAGES Samstag/Sonntag, 21./22.September 2019, Nr. 219 DEFGH

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