Süddeutsche Zeitung - 21.09.2019

(Greg DeLong) #1
von franz kotteder

D


ieses Jahr gibt es auf dem Okto-
berfest eine neue Attraktion,
die mit dem Hilfsbegriff „Fahr-
geschäft“ nur unzureichend
beschrieben wäre. Man fährt
darin in einer Zweiergondel auf Schienen
und auf zwei Etagen durch eine dunkle, völ-
lig schmucklose Blechhalle. Dafür zahlt
man stolze zehn Euro. Für die Fahrt be-
kommt man allerdings eine hochmoderne,
schicke Virtual-Reality-Brille aufgesetzt,
und dank der saust man nicht durch eine
leere Blechhalle, sondern durch fantasti-
sche Welten, wird begleitet von einer
durchgeknallten Eule und bedroht von
schrecklichen Drachen und riesigen Häm-
mern, die unversehens auf einen nieder-
sausen. Man fliegt durch futuristische
Turmlandschaften und durch die Unter-
wasserstadt Atlantis, weicht gerade so ei-
nem Monsterhai aus, um dann durch einen
Zeittunnel ins nächste Abenteuer zu ent-
kommen. Doch, die Abenteuerbahn „Dr.
Archibald – Master of Time“ ist wirklich ei-
ne neue Dimension von Schaustellerei.
Trotz der leeren Hülle hinter der pompö-
sen Fassade.


Aber so ist das eben mit der Wiesn: Sie
ist ein einziges, großes Illusionstheater,
das der Besucher mit einem kleinen biss-
chen Hilfe und kraft seiner eigenen Fanta-
sie wahr werden lassen kann, ja muss. Die
Wiesn funktioniert also fast wie das richti-
ge Leben, das ohne Illusionen ja oft auch
nur eine matte Sache ist. Und manchmal
ist es gerade die Einbildung, welche die
größte Kraft ausübt und jedem Realitäts-
sinn hartnäckig trotzt.
Man soll sich ja nicht selbst loben. Aber
was jetzt als Erstes kommt, erfordert eini-
gen Mut. Denn es wäre denkbar, für diese
Feststellung geteert und gefedert aus der
Stadt gejagt zu werden. Schließlich steht
für beinahe jeden Münchner und für alle,
die dafür gehalten werden wollen, unver-
rückbar fest: Der Preis für die Wiesnmass
ist über alle Maßen so unverschämt hoch,
dass nur ganz, ganz schlechte Menschen
mit grenzenloser Raffgier – sprich: Wiesn-
wirte – in der Lage sind, ihn zu verlangen.
Deshalb ist es auch völlig unverständlich,


warum Jahr für Jahr mehr als sieben Millio-
nen Liter Bier getrunken werden.
Jetzt aber kommt’s: Eigentlich ist Bier
das Billigste, was man auf der Wiesn krie-
gen kann.
Verblüffend, nicht? Aber es ist wirklich
wahr. Für eine Halbe Bier zahlt man in der
Innenstadt mittlerweile im Schnitt um die
4,80 oder 4,90 Euro. Ist’s deutlich günsti-
ger, dann handelt es sich meist nicht um
eine Halbe, sondern um ein 0,4- oder gar
ein 0,3-Liter-Glas. Jedenfalls ist man für
den Liter Bier in der Regel erst mit 9,60 bis
9,80 Euro dabei.

Auf dem Oktoberfest aber beträgt der
Durchschnittspreis für die Mass heuer
11,54 Euro. Das sind über den Daumen ge-
peilt 20 Prozent Aufschlag. Den erklären
die Wirte der großen Zelte unter anderem
mit der Auf- und Abbauzeit von vier Mona-
ten und die dafür fälligen Kosten, mit den
Security-Kräften und der Live-Musik im
Zelt. Alles Dinge, die man in einem norma-
len Wirtshaus natürlich nicht hat und auch
nicht braucht.
Nun vergleiche man diese 20 Prozent
Aufschlag einmal mit den Zuschlägen für
andere Getränke, Speisen oder andere Wa-
ren auf der Wiesn. Ein halbes Brathendl
kostet in München beispielsweise 5,50 im
Straßenverkauf und 7,70 Euro im Lokal
(Wienerwald). Auf dem Oktoberfest steht
es dieses Jahr beispielsweise im Marstall-
Festzelt mit 12,50 Euro auf der Karte,
in der Festhalle Schottenhamel
mit zwölf Euro. Die Liste ließe
sich beliebig fortsetzen: Wo
sonst zahlt man für einen
Teller Rahmschwammerl
19,50 Euro oder für sechs
Rostbratwürstl mit
Kraut mehr als elf Euro?
Außer beim Bier ist fast
alles auf der Wiesn
mehr als 20 Prozent
teurer als in der her-
kömmlichen Gastrono-
mie. Selbst die Schau-
steller kennen ihren
Wiesn-Aufschlag: Die Ein-
trittspreise für die Fahrge-
schäfte sind auf Jahrmärk-
ten in der Provinz deutlich
günstiger als auf dem Oktober-
fest. Und damit ist man noch gar
nicht bei den Kosten für einen Luft-
ballon oder gar für den berühmten Dep-
penhut in Bierfassform, den sich sonst
aber auch nur die allerwenigsten außer-
halb der Theresienwiese kaufen würden.
Ein anderes, wesentlich ernsteres und
heiß umstrittenes Thema ist die Sicherheit
auf dem Oktoberfest. Auf dem Höhepunkt
der Terrorangst, vor drei Jahren, wurde
man permanent gefragt, ob man sich nicht
davor fürchte, auf die Wiesn zu gehen, we-
gen eines möglichen Anschlags. Davor ist
man, ganz klar, niemals sicher. Auf der an-
deren Seite aber ist die Theresienwiese
während des Oktoberfest bestimmt der si-
cherste Ort der ganzen Stadt. 600 Polizis-
ten sind hier an den 16 Tagen im Einsatz,
sie sind nur für die 42 Hektar des Festgelän-
des zuständig. Pro Hektar bedeutet das
rein rechnerisch: Auf einem Quadrat von
100 mal 100 Metern tummeln sich 14,2 Poli-
zeibeamte. Das ist ziemlich viel. Nimmt
man die ungefähr 600 privaten Sicherheits-
kräfte der Stadt noch hinzu und die jeweils
100-120 Security-Leute in den großen Bier-
zelten, dann treiben sich auf den 1,3 Fuß-
ballfeldern, die in etwa einem Hektar ent-
sprechen, deutlich mehr Sicherheitsleute
herum als Fußballer in einem Bundesliga-
stadion an einem Spieltag.
Das spiegelt sich auch in der Sicherheits-
statistik für die Wiesn wider, wenn man in
Betracht zieht, dass sich hier Hunderttau-

sende Menschen auf relativ engem Raum
aufhalten und dass viele von ihnen nur ein-
geschränkt zurechnungsfähig sind. Das
gilt für beinahe alle Delikte, obwohl viele
das nicht glauben wollen. Nach den sexuel-
len Übergriffen und Straftaten in der Sil-
vesternacht 2015 auf der Kölner Domplat-
te behaupteten manche, das sei auf dem
Oktoberfest doch ganz genauso. Dort gebe
es jährlich zehn Vergewaltigungen, die
Dunkelziffer liege gar bei 200. Tatsächlich
liegt die Zahl der von der Polizei ermittel-
ten Fälle wesentlich niedriger: Auf der
Wiesn und im näheren Umfeld sind es zwi-
schen null und vier im Jahr – auch eine Fol-
ge der beinahe lückenlosen Videoüberwa-
chung des Festgeländes. Allerdings sind da-
bei kaum Fälle erfasst, die weiter entfernt
als Folge eines Wiesnbesuchs vorkommen.
Die Zahl der Sexualdelikte ist aber in den
vergangenen Jahren wieder angestiegen,
was auch daran liegt, dass die entsprechen-
den Gesetze drastisch verschärft wurden.
Und durch Alkohol enthemmte Trottel gibt
es natürlich immer noch genug.
Ähnlich verhält es sich mit anderen De-
likten. Taschendiebe gibt es hier zwar nach
wie vor. Aber es dürfte sich bei ihnen nicht
um die hellsten handeln, wenn sie es ausge-
rechnet auf dem Oktoberfest versuchen.
Gewalttaten sind immer noch stark vertre-
ten, gehen aber auch seit Jahren, wenn
nicht Jahrzehnten zurück.
So ließen sich noch viele Beispiele für
die große Illusionsmaschine Oktoberfest
finden. Man lässt sich ja auch gerne mal
vormachen, dass ein freier Fall aus 60 oder
70 Metern Höhe folgenlos bleibt, oder dass
man, wie beim Schichtl, eine lebende Per-
son auf offener Bühne enthaupten kann
und sie danach weitermacht, als wäre
nichts geschehen. Manche glauben gar,
das Kasperlgewand, das am Hauptbahn-
hof oder in manchen Bekleidungsgeschäf-
ten angeboten wird, sei eine original
Münchner Tracht. Dabei hat es historisch
nie eine solche gegeben. Weshalb anständi-
ge Münchner heute immer noch in Jeans
und T-Shirt auf die Wiesn gehen und
deshalb auch niemals blöd angeredet wer-
den dürfen.

Viele, selbst Eingeborene, behaupten üb-
rigens weiter, das Bier dieser oder jener
Brauerei habe im Jahr zuvor ganz anders
geschmeckt. In Wirklichkeit dürfte kaum
ein Mensch in der Lage sein, sich an einen
konkreten Geschmack über ein Jahr hin-
weg zu erinnern – es sei denn, dieser Ge-
schmack war mit einem besonders intensi-
ven Erlebnis verbunden, und wann ist er
das schon? Nicht wenige Wiesn-Besucher
wären ja schon froh, wenn sie noch wüss-
ten, was am Vorabend eigentlich genau ge-
wesen ist. Wie soll man da noch wissen,
wie das Bier vor einem Jahr schmeckte?
Ein weiterer Hinweis auf Realitätsverlust
ist der Glaube, man könne vier Liter Bier
mit hohem Alkoholgehalt in sich hinein-
schütten, ohne dass das Folgen für den
nächsten Tag habe. Freilich: Zwischendrin
blitzt manchmal etwas Erkenntnis auf.
Etwa wenn die Menschen in den Bierzelten
aus voller Kehle singen: „Rätätä, rätätä,
morgen hamma Schädelweh!“
Bei aller Freude am Realitätsverlust: So
ganz auf die Spitze treiben will man ihn
auch auf der Wiesn nicht. Das spürt man
selbst beim Fahrgeschäft Dr. Archibald.
Fast wie aus schlechtem Gewissen haben
die Macher nämlich vor die Fahrt durch
den Cyberspace ein sehr realistisches Kabi-
nett in Gestalt einer dunklen und holzvertä-
felten Bibliothek gesetzt, mit sehr realisti-
schen Menschenpuppen. Und danach
noch einen kleinen Hindernisparcours
über einen Wassergraben. Fast so, als ob
sie der technisch unterstützten Kraft der
Fantasie doch nicht ganz trauten.

Anständige Münchner gehen
heute immer noch in Jeans
und T-Shirt auf die Wiesn

„Rätätä, rätätä, morgen hamma
Schädelweh“: Manchmal blitzt
die bittere Wahrheit auf

Besucher wurden 1985
bei derbisherigen
Rekord-Wiesn gezählt.
Im Schnitt besuchen das
Volksfest auf der
Münchner Theresienwiese
jedes Jahr etwa sechs
Millionen Menschen.
Vor drei Jahren gab es einen
auffälligen Ausreißer nach
unten: Schlechtes
Wetter und Terrorangst
ließen die Besucherzahl
auf 5,6 Millionen sinken.
Um das Wohl der Gäste
kümmern sich rund
13000 Arbeitskräfte
(von denen etwa 8000 als
fest angestellt geführt
werden). Das größte Zelt ist
das Hofbräuzelt, in dem es,
den Biergarten mitgerechnet,
knapp 10000 Sitzplätze gibt.
Alle Zelte zusammen können
gleichzeitig rund 120 000
Menschen bewirten.

7,1


Millionen


Das Günstigste


auf der Wiesn? Das Bier


Alles viel zu teuer, so gut wie alle


in originalgetreuen Trachten, das Ganze eine einzige


wilde Rauferei – kaum ein anderes Ereignis ist so


klischeebeladen wie das Oktoberfest. Bei genauer Betrachtung


aber zeigt sich: Viele Mythen sind einfach nur Mythen


ILLUSTRATION: STEFFEN MACKERT


DEFGH Nr. 219, Samstag/Sonntag, 21./22. September 2019 MÜNCHEN R3


Juan Diego Flórez
Arien und Ouvertüren von Verdi,
Puccini, Bizet, Lehár u.a.
Deutsche Staatsphilharmonie
Rheinland-Pfalz
Jader Bignamini, Leitung

MO · 11.11.19 · 20 Uhr
Philharmonie

DI · 3.12.19 · 20 Uhr · Prinzregententheater

DI · 26.11.19 · 20 Uhr
Allerheiligen-Hofkirche

Mulo
Francel &
Chris Gall
„Mythos“

Beethoven meets Cuba
Klazz Brothers & Cuba Percussion

MO · 25.11.19 · 20 Uhr · Prinzregententheater

FR · 22.11.19 · 20 Uhr
Prinzregententheater

Ron Williams präsentiert
eine Hommage an
The Jackson Five,
Diana Ross and The Supremes,
Stevie Wonder,
The Temptations, Marvin Gaye,
The Four Tops u.v.a.

Der Originalfi lm mit
Live-Orchester

MI · 18.1 2.19 · 20 Uhr
SA · 8.2.20 · 19 Uhr
Philharmonie WELT
PREMIERE

DI · 5.11.19 · 20 Uhr · Philharmonie

Art Garfunkel
„An Evening of
Song and Stories“

SO · 3.11.19 · 11 & 15.30 Uhr
Prinzregententheater
München-Premiere:
Das neue
Kinderprogramm

Willy Astor
Kindischer Ozean 2:
„Der Zoo ist kein logischer Garten“

der
nussknacker

Peter I. Tschaikowsky

& SPECIAL GUESTS
20.-27. 12.19 & 5./6.1.20
PRINZREGENTENTHEATER
MO · 2.12.19 · 20 Uhr
Prinzregententheater

Pepe Romero
I Musici di Roma
Leidenschaftliche Gitarrenklänge
von Avison, Boccherini,
Geminiani und Cordero

SO · 1.12.19 · 20 Uhr
Prinzregententheater

Waltraud Meier
Werke von Mahler, Wagner,
Wolf u.a.
Joseph Breinl, Klavier

SO · 1.12.19 · 15.30 Uhr
Prinzregententheater

Sol Gabetta
Sonaten für Violoncello
und Klavier von Debussy,
Poulenc und Rachmaninow
Bertrand Chamayou, Klavier

Daniel
Müller-Schott
Dvorˇák: „Legenden“ Nr. 1, 6 & 10
Elgar: Cellokonzert e-moll
Brahms: Symphonie Nr. 3
Dresdner Philharmonie
Cristian Ma ̆celaru, Leitung

MO · 25.11.19 · 20 Uhr · Philharmonie

Sheku
Kanneh-Mason
Werke für Cello und Klavier
von Beethoven, Lutosławski,
Barber und Rachmaninow

MO · 11.11.19 · 20 Uhr
Prinzregententheater
Jüdisches Neujahrs-
konzert 5 780
Jewish Chamber Orchestra Munich
mit den Kantoren
Tzudik Greenwald
und David Weinbach
Daniel Grossmann, Leitung

DO · 24.10.19 · 20 Uhr · Prinzregententheater

Sergei Nakariakov
Lazaroff: „Les paysages de Bulgarie“
Tschaikowsky: Rokoko-Variationen op. 3 3
Dvorˇák: Serenade für Streichorchester
Kammerorchester des Symphonie-
orchesters des Bayerischen Rundfunks
Radoslaw Szulc, Leitung

SO · 17. 11.19 · 11 Uhr
Prinzregententheater

SO · 3.11.19 · 20 Uhr
Prinzregententheater

Ein heiterer Abend
mit Christian Ude,
Lizzy Aumeier,
Uli Bauer, Han’s Klaffl,
Angelika Niedetzky
und Christian Springer

Sabine Meyer
Weber: Klarinettenkonzert Nr. 1
Mendelssohn: Konzertstück Nr. 1
Mendelssohn: Auszüge aus
„Ein Sommernachtstraum“ op. 61
Münchner Rundfunkorchester
Ivan Repušic ́, Leitung

SA · 26.10.19 · 20 Uhr
SO · 27. 10.19 · 15.30 Uhr
Prinzregententheater

25.-27. 12.19 · Philharmonie

Ensemble des Budapester Musical- und Operetten-
theaters und die Musical-Stars Oedo Kuipers und
Dorothea Baumann

DI · 22.10.19 · 20 Uhr · Philharmonie
DO · 23.1.20 · 20 Uhr · Philharmonie

SO · 8.12.19 · 15.&18.30 Uhr
Philharmonie

LIVE IN CONCERT

PRESENTATION LICENSED BY

Der komplette Film
mit Symphonieorchester
The Sound of Hollywood
Symphony Orchestra
Benjamin Pope, Leitung
Weitere Termine:
8./9. Februar 2020

Te odor Hélène
Currentzis Grimaud
Ravel: Klavierkonzert G-Dur
Prokofjew: Musik zum Ballett „Romeo und Julia“ op. 64
musicAeterna

DI · 8.10.19 · 20 Uhr · Philharmonie

NDR Elbphilhar monie
Orchester
Schumann: Violinkonzert d-moll
Bruckner: Symphonie Nr. 7
Leonidas Kavakos, Violine · Alan Gilbert, Leitung

DO · 14.11.19 · 20 Uhr · Philharmonie3.-7. Dezember 2019
27.-30. Dezember 2019


  1. & 3. Januar 2020
    19.30 Uhr · Cuvilliés-Theater


Wolfgang Amadeus Mozart
Così fan tutte
im Cuvilliés-Theater
Oper in zwei Akten
Solisten und Orchester der Kammeroper München

Dvorˇák: „Legenden“ Nr. 1, 6 & 10Dvorˇák: „Legenden“ Nr. 1, 6 & 10AvAv

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