Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

D


ie Enthüller verstecken sich in einer
Seitenstraße von Kairo, im sechsten
Stock eines Wohnhauses. Unten an
der Tür verrät kein Klingelschild, wer die
Bewohner sind. Oben holt sich Lina Atta-
lah ihr Frühstück aus der Küche, ein Müsli
mit Früchten. Attalah ist Chefredakteurin
des Onlineportals Mada Masr, zu Deutsch
etwa »die Weite Ägyptens«. Es ist die letz-
te unabhängige Redaktion des Landes.


Attalah sagt, sie frage sich selbst, weshalb
die Behörden ihre Redaktion noch nicht
verboten haben. »Vielleicht ist unsere Zeit
noch nicht gekommen.«
Das große Thema der Morgenkonferenz
ist ein Anschlag, wie so häufig. Diesmal
sind bei einer Explosion 22 Menschen ums
Leben gekommen, 47 wurden verletzt.
Die Behörden sprachen von einem Auto-
unfall, später von Terrorismus. Attalah
und ihre Kollegen überlegen, wie sie damit
umgehen sollen. Am Ende beschließen sie,
das zu tun, was jede Redaktion nach einem
Ereignis dieser Größe tun würde: Sie ver-
suchen, Gesprächspartner ausfindig zu ma-
chen, beginnen mit Recherchen, stellen


kritische Fragen. Allerdings ist Ägypten
kein freies Land. Journalisten geraten im-
mer stärker unter Druck.
Ein Anti-Terror-Gesetz sieht Strafen für
Journalisten vor, die nach Anschlägen in
ihrer Berichterstattung von der Regie-
rungslinie abweichen. Der Alltag von
Mada Masr zeigt, wie der Ausnahmezu-
stand zur Normalität geworden ist. 2011
wurde der Dauerherrscher Hosni Muba-
rak unter dem Jubel von Demonstranten
gestürzt, es folgten zwei Jahre ideologi-
scher Grabenkämpfe, in denen die Mus-
limbrüder dem Land ihre Politik aufdrü-
cken wollten. Schließlich putschte sich der
damalige Generalstabschef Abdel Fattah
el-Sisi an die Macht, wo er bis heute sitzt.
Sisi versprach, für Ordnung und Wohl-
stand zu sorgen, aber das konnte er nicht
einlösen. Ein Drittel der Bevölkerung hat
heute weniger als 1,40 Dollar pro Tag zur
Verfügung. Sisi herrscht so brutal und
autoritär wie wohl kein ägyptischer Präsi-
dent vor ihm. Zehntausende Menschen
wurden inhaftiert, mehr als 15 000 Ägyp-

ter, darunter auch Kinder, wurden vor Mi-
litärgerichte gestellt, deren Entscheidun-
gen nicht angefochten werden können.
Hunderte wurden zum Tode verurteilt.
Unter dem autoritären Mubarak-Re-
gime gab es noch verschiedene, teils kon-
kurrierende Machtzentren: Militär, Polizei,
Bürokraten, Oligarchen und Funktionäre
der Nationaldemokratischen Partei. Sisi
verwandelt das Land zunehmend in eine
militärische Autokratie, streng und hie -
rarchisch.
Lina Attalah ist 37 Jahre alt. Nach ihrem
Journalismusstudium fing sie bei der eng-
lischsprachigen Website einer ägyptischen
Zeitung an, einer Nischenpublikation, für

die junge liberale Ägypter arbeiteten, die
von Demokratie träumten. Doch dann
stellte der Herausgeber die Zeitung ein –
aus finanziellen Gründen und wohl auch,
weil ihm der Eifer der jungen Leute zu ris-
kant erschien. Gemeinsam gründeten sie
Mada Masr.
»Es war die dringende Notwendigkeit,
als Augenzeugen etwas Entscheidendes zu
begleiten, das in unserem Land passierte«,
sagt Attalah. Unter anderem enthüllte die
Redaktion, wie der ägyptische Sicherheits-
apparat das Parlament mit eigenen Leuten
besetzte.
Inzwischen sind von den 24 Gründungs-
mitgliedern nur noch zwei übrig, Attalah
ist eines davon. Die meisten haben sich
aus dem Medienbetrieb zurückgezogen.
»Ich glaube, meist war es Erschöpfung«,
sagt Attalah.
Finanziell hängt die Redaktion von eu-
ropäischen Geldern ab, auch wenn die Ein-
nahmen durch Fördermitgliedschaften
steigen. Allein die Website am Laufen zu
halten ist ein ständiger Kampf: Eigentlich
ist sie in Ägypten seit 2017 gesperrt, man
kann sie mithilfe eines VPN-Zugangs
aufrufen. Aber auch das ist seit vorigem
Jahr strafbar. Seither liefert sich die Re-
daktion ein technisches Wettrennen mit
dem Regime: Die Journalisten arbeiten
mit Mirrorsites, also exakten Kopien ihres
Nachrichtenportals auf anderen Adressen,
die sie über soziale Medien verbreiten.
»Solange wir auf Facebook und Twitter
präsent sind, finden die Menschen uns«,
sagt Attalah.
Mada Masr war eine der ersten Web -
sites, die blockiert wurden, inzwischen
sind schätzungsweise 34 000 Domains ge-
sperrt. Voriges Jahr hat Sisi die Online -
zensur per Gesetz erlaubt und so vage de-
finiert, dass schon Websites gesperrt wer-
den können, die einen missliebigen Bericht
über ihn veröffentlichen.
Trotz der Hürden hat Mada Masr vor
Kurzem enthüllt, wie landwirtschaftlich
genutzte Flächen an Investoren aus Saudi-
Arabien verpachtet werden, damit sie
wasserintensive Pflanzen anbauen kön-
nen, um ihr eigenes Wasser zu sparen. Da-
bei leidet Ägypten selbst unter Wasser-
knappheit. Die Enthüllung zeigte, wie sehr
die Regierung auf das saudische Königs-
haus angewiesen ist. Saudi-Arabien und
die Vereinigten Arabischen Emirate unter-
stützen Ägypten regelmäßig mit hohen
Summen.
Attalah erzählt, dass sie sich oft selbst
die Frage stelle: Ist es das wert? Der Stress,
die Gefahr, in die sie sich täglich begibt,
die 14-stündigen Arbeitstage? »Falls es uns
gelingt, einen Rückzugsraum zu schaffen,
reicht das vielleicht schon aus.«
Raniah Salloum
Mail: [email protected]

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Ausland

Ein bisschen


Freiheit


Ägypten Staatschef Fattah el-Sisi
herrscht immer brutaler
über sein Land. Eine kleine
Onlineredaktion trotzt
der autoritären Führung.

JONATHAN RASHAD / DER SPIEGEL
Journalistin Attalah: Wettrennen mit dem Regime

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
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