Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

B


eim Leichtathletik-Meeting in
Zürich Ende August läuft Kon-
stanze Klosterhalfen, 22, über
1500 Meter in der letzten Runde
leicht füßig an der Weltrekordhalterin Gen-
zebe Dibaba vorbei. Es geht ein Raunen
durch das Stadion, denn damit hatte nie-
mand gerechnet, dass diese zierliche Frau
aus Deutschland die Wunderläuferin aus
Äthiopien abhängen könnte.
Klosterhalfen kommt als Zweite durchs
Ziel. Nach der Ehrenrunde mit Siegerin
Sifan Hassan aus den Niederlanden tritt
sie vor die Journalisten, die wissen wollen,
woher sie die Kraft für den Schlussspurt
genommen habe. Ihre langen blonden Haa-
re hängen wie ein Vorhang vor dem Ge-
sicht, man sieht ihr keine Erschöpfung an,
sie kichert, und es fällt der Satz: »Ich hätte,
ehrlich gesagt, noch schneller gekonnt.«
In den vergangenen Jahrzehnten gab es
keine deutsche Athletin, die mit den bes-
ten Läuferinnen der Welt mithalten konn-
te. Fachleute hatten dafür Erklärungen pa-
rat. Afrikanerinnen etwa hätten genetische
Vorteile, weshalb hiesige Talente gegen
die Ausdauermaschinen aus Kenia oder
Äthiopien chancenlos seien.
Jetzt ist da Konstanze Klosterhalfen.
Die Studentin aus Bockeroth, einem klei-
nen Ort im Rhein-Sieg-Kreis bei Königs-
winter, brach schon als Jugendliche Rekor-
de. Die Zeiten, die sie jedoch in dieser
Saison läuft, sind atemberaubend und
überfordern inzwischen die Vorstellungs-
kraft mancher Beobachter.
Ende Juli verbesserte Klosterhalfen den
deutschen Rekord über 3000 Meter um
10, Anfang August den über 5000 Meter
um 15 Sekunden. Bei 3 oder 4 Sekunden
hätte wohl niemand etwas gesagt. Aber
15! Wie ist das möglich? Kann das wahr
sein?
Der Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel,
Leiter des Instituts für Biomedizinische
und Pharmazeutische Forschung in Nürn-
berg, formulierte seine Zweifel an Kloster-
halfen am schärfsten und raunte, solche
fulminanten Bestmarken müssten ja ir-
gendwie durch irgendetwas zustande ge-
kommen sein. »Nur durch Training allein
würde ich eher nicht annehmen.«
Wunderkind oder Verführte? Das deut-
sche Lauftalent Konstanze Klosterhalfen
bringt alles mit, um ein neuer deutscher


Sportstar zu werden – wenn es nur nicht
die Debatte um ihr Gewicht und ihre Trai-
ner gäbe. Die Bedenkenträger stoßen sich
an dem Ort ihres Trainings und an der Ver-
gangenheit ihrer Betreuer.
In den vergangenen Wochen bereitete
sie sich im Höhentrainingslager in St. Mo-
ritz auf die Weltmeisterschaft vor, die in
der kommenden Woche in Doha beginnt.
Sie joggte um den See in einem Tempo,
das andere nur mit dem Fahrrad erreichen,
sie trainierte auf der Laufbahn im Ortsteil
St. Moritz-Bad.
Klosterhalfen, Spitzname Koko, stammt
aus einer sportverrückten Familie, ein Bru-
der ist auch Leichtathlet, der andere ein
talentierter Fußballer. Sie tanzte Ballett,

hat mal Handball gespielt, aber ihre große
Leidenschaft sei das Laufen, sagt sie.
Als Elfjährige wechselte sie von ihrem
Heimatverein zu Bayer Leverkusen. Ihre
Eltern – die Mutter ist Lehrerin, der Vater
Rechtsanwalt – fuhren sie fast täglich zum
Training am Olympiastützpunkt. 2016
startete sie in Rio de Janeiro bei den Olym-
pischen Spielen, sie schied als Zehnte des
Vorlaufs aus. Im Jahr darauf wurde sie
U-23-Europameisterin über 1500 Meter.
Im Sommer 2018 stagnierten ihre Leis-
tungen wegen einer Knieverletzung. Klos-
terhalfen wurde ungeduldig, sie beschloss,
ihrer Entwicklung einen neuen Push zu
geben. Im November 2018 zog sie in die
USA, um auf dem Campus ihres Ausrüs-
ters Nike in Portland zu trainieren. Nach
einer mehrmonatigen Testphase wurde sie
im April ins Nike Oregon Project (NOP)
aufgenommen, einer zwölfköpfigen inter-
nationalen Elitelaufgruppe, deren Mitglie-
der mit maximalem finanziellem Aufwand
auf künftige Olympiasiege und Weltrekor-
de gedrillt werden.
Es gibt einige von Firmen gesponserte
Leichtathletikteams in den USA, das NOP,
2001 gegründet, ist das schillerndste und
umstrittenste. Chefcoach Alberto Salazar,

ein früherer Marathonläufer mit Guru -
aura, wurden Dopingpraktiken im Zusam-
menhang mit seinem Schützling, dem
Olympiasieger Mo Farah, vorgeworfen.
Die amerikanische Anti-Doping-Agentur
Usada ermittelt seit 2015 gegen die NOP-
Leitung wegen unerlaubter Medikamen-
tenverabreichung. Eine ehemalige Athle-
tin des Konzernteams hat sich als Kron-
zeugin für ein mögliches Verfahren zur
Verfügung gestellt.
Klosterhalfen sagt, sie habe, bevor sie
sich zum Umzug in die USA entschied, von
den Vorwürfen gegen das NOP gewusst,
aber das hätte ihre Entscheidung nicht be-
einflusst. Es sei noch zu keiner Verurteilung
oder Sanktion gekommen. Sie sei glücklich,
sich endlich als Sportprofi 24 Stunden am
Tag um ihre Form kümmern zu können
und Leute um sich zu haben, die den glei-
chen Ehrgeiz hätten wie sie.
An einem Nachmittag in St. Moritz po-
siert sie auf der Laufbahn für einen Foto-
grafen. Sie macht Dehnübungen und guckt
dabei in die Kamera. Klosterhalfen agiert
routiniert, sie hat mal als Model gearbeitet,
trat bei der Fashion-Week in Berlin auf.
Ihr Trainer Pete Julien beobachtet sie.
Der ehemalige US-Spitzenläufer, ein drah-
tiger Mann mit Stoppelhaarschnitt, sagt,
Klosterhalfen habe ein Talent, das bei Ath-
letinnen aus Europa nur selten vorkomme.
Ihre Fähigkeit, schnell und ausdauernd zu
rennen, sei nicht »gemacht«, sondern eine
genetische Veranlagung. Es stimmten bei
ihr viele Parameter, die Körpergröße, die
langen Beine, die Hebelverhältnisse, das
Zusammenspiel der Muskeln, das geringe
Gewicht, die Schrittlänge, die Lauftechnik.
»Sie läuft ganz leise, das ist auffällig, man
hört ihre Schritte nicht auf der Bahn, es
ist, als ob sie schwebte.«
In das NOP schaffen es ausschließlich
Spitzenathleten. Klosterhalfen sagt, die
Klasse der Kollegen treibe sie an. Sifan
Hassan, die Siegerin in Zürich, gehört auch
zum Team. Sie stammt aus Äthiopien und
ist die WM-Favoritin über 1500 Meter. In
der Anfangsphase beim Training in Port-
land, erzählt Julien, sei Klosterhalfen bei
Testläufen noch weit hinter Hassan herge-
laufen, inzwischen würden die Abstände
immer geringer.
Klosterhalfen hat sich jetzt für den Foto -
grafen mit dem Engadiner Alpenpano -

102 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019


Sport

Laufen gegen den Zweifel


LeichtathletikDarauf hat der deutsche Sport lange gewartet: eine Langstreckenläuferin


mit Weltklasseformat. Konstanze Klosterhalfen hat alles, um ein Star zu werden. Aber sie trainiert
mit Leuten, die unter Dopingverdacht stehen. Wie geht sie mit der Kritik um?

Bei ihr stimmen die
langen Beine, die Hebel-
verhältnisse, das Zusam-
menspiel der Muskeln.
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