Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
109

Medizin

»Waren die Schwangeren


beim Zahnarzt?«


Annette Queißer-Wah-
rendorf, 65, Oberärztin
am Zentrum für Kinder-
und Jugendmedizin des
Uniklinikums Mainz und
Leiterin des dortigen
Geburtenregisters, über
die drei Babys mit
Handfehlbildungen, die zwischen Juni
und September in einem Gelsenkirchener
Krankenhaus geboren worden sind

SPIEGEL:Haben Sie eine solch auffällige
Häufung von Handfehlbildungen wie jetzt
in Gelsenkirchen schon einmal erlebt?
Queißer-Wahrendorf:Für mich ist das ein
Déjà-vu-Erlebnis. 1994 wurde in England
entlang der Nordseeküste eine Reihe
von Kindern mit Hand- und Armfehlbil-
dungen geboren. Auch in Norddeutsch-
land gab es damals einige Fälle. Wir
haben über eine Selbsthilfeorganisation
betroffene deutsche Familien aufgespürt
und versucht, mithilfe von detaillierten
Fragebögen herauszufinden, ob es irgend-
welche Auffälligkeiten in der Schwanger-
schaft gab. Dabei kam heraus: Viele
Mütter hatten in der frühen Schwanger-
schaft Zahnschmerzen gehabt.
SPIEGEL:Zahnschmerzen?
Queißer-Wahrendorf:Ja, das klingt erst
einmal merkwürdig. Wir haben dann aber
die Erlaubnis eingeholt, bei den Zahnärz-
ten nachfragen zu dürfen – und das Ergeb-
nis war interessant: Viele der betroffenen

Mütter hatten quecksilberhaltige Amal-
gamfüllungen in ihren Zähnen gehabt, die
erneuert werden mussten. Dabei gelangt
immer etwas Quecksilber in den Körper,
das möglicherweise, genau wissen wir
das nicht, einem Embryo in einem frühen
Entwicklungsstadium schaden kann.
SPIEGEL:Sollte auch in Gelsenkirchen
nach Amalgamfüllungen gefragt werden?
Queißer-Wahrendorf:Man sollte auf
jeden Fall nachfragen, ob die Frauen zu
Beginn der Schwangerschaft beim Zahn-
arzt gewesen sind, auch wenn Amalgam
heute viel weniger verwendet wird als vor
25 Jahren.
SPIEGEL:Welche Ursachen für eine Hand-
fehlbildung gibt es denn noch?
Queißer-Wahrendorf:Die häufigste
bekannte Ursache ist eine sogenannte
Amnionschnürfurche: Eine eingerissene
Eihaut in der Gebärmutter schnürt mecha-
nisch einen Finger oder Arm des Kindes
ab, sodass er sich nicht weiterentwickeln
kann. Auch bei einem Diabetes der Mut-
ter und nach einer Chorionzottenbiopsie
ist das Risiko für solche Fehlbildungen
erhöht. Und als es in Frankreich vor eini-
gen Jahren zu einer auffälligen Häufung
von Handfehlbildungen kam, hatte man
Pestizide im Verdacht.
SPIEGEL:Könnten die drei Fälle in Gel-
senkirchen auch eine rein zufällige statis -
tische Häufung sein?
Queißer-Wahrendorf:Natürlich könnte
das so sein. Man muss jetzt in allen
Geburtskliniken der Region, am besten
sogar bundesweit mit epidemiologischer
Expertise nachforschen, wie viele
Kinder mit Handfehlbildungen in den
letzten Jahren zur Welt gekommen sind.

Als nächsten Schritt müssten die Mütter
detailliert, fast kriminalistisch über die
Schwangerschaft befragt werden. Beson-
ders kompliziert wird es, wenn mehrere
Faktoren zusammengewirkt haben.
SPIEGEL:Unterstützen Sie die Forderung
nach einem bundesweiten Fehlbildungs -
register?
Queißer-Wahrendorf:Allein die Fehlbil-
dungen zu registrieren reicht für eine
Ursachenforschung nicht aus. Dafür
braucht man Informationen über die
gesunden Kinder. Es müssten in verschie-
denen Regionen Deutschlands Register
eingerichtet werden, die umfangreiche
Informationen über etwa fünf bis zehn
Prozent aller Geburten sammeln. Leider
ist man davon weit entfernt. VH

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019

BILD13 / CHRISTIAN FISCHER FÜR BILD
Kind mit Handfehlbildung

Geht es noch absurder? Indien hat soeben ein umfassendes
Verbot für E-Zigaretten verhängt. Das nur mäßig bedenkliche
Dampfen zog offenbar den ganzen Zorn des Staates auf sich –
keinen Anlass zum Einschreiten sieht die Regierung bei den rund
hundert Millionen Tabakrauchern im Land. Sie dürfen sich wei-
terhin so gut wie ungehindert schweren Schaden zufügen. Indien
gehört zu den größten Tabakproduzenten der Welt.
Das ist der vorläufige Höhepunkt einer beispiellosen Konfu -
sion ums Dampfen. Auch die USA haben bereits ein Verbot der
aromatisierten Flüssigkeiten angekündigt, die in E-Zigaretten
zum Einsatz kommen. Dort waren unlängst plötzlich Hunderte
Dampfer erkrankt, vor allem junge Leute; sieben starben. Nach
jetzigem Stand haben die meisten Geschädigten ein Gemisch
inhaliert, das mit Cannabisöl gepanscht war – ein klassischer Fall
von verunglücktem Drogenmissbrauch. Das ist tragisch, aber es
kann eben passieren. Nicht einmal bei Teegeschirr ist der bestim-

mungsgemäße Gebrauch jederzeit garantiert. Wer will, kann sich
im Tässchen ein giftiges Teufelszeug mit berauschender Wirkung
anrühren. Aber würde deshalb jemand vor dem Teetrinken war-
nen? Und das Schlürfen von Assam und Darjeeling als unkalku-
lierbares Gesundheitsrisiko dämonisieren?
Bislang gilt: Wer sein Dampfgerät mit Liquids aus dem Fach-
handel füllt, geht nur minimale Risiken ein. In Deutschland sind
die Substanzen, die in den USA wohl zu den Erkrankungen führ-
ten, ohnehin verboten. Hier gibt es also keinen Grund zur Auf -
regung – schon gar nicht angesichts der rund 120 000 Mitbürger,
die jedes Jahr verfrüht an den Folgen der Tabaksucht sterben.
Für viele ausstiegswillige Raucher hat sich die Dampferei als
hilfreich erwiesen. Sie können ihr Nikotin auf weniger schädliche
Weise konsumieren – oder ganz von der Sucht loskommen. Ein
Jammer, dass der Ruf der E-Zigarette, nach Jahren des Schlecht-
redens, nun fast ruiniert ist. Manfred Dworschak

Kommentar

Dämonen des Dampfens


Die Verteufelung der E-Zigarette nimmt surreale Züge an.
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