Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

1990


Viele Prominente sterben
an den Folgen ihrer Aids-
erkrankung, darunter
Keith Haring (1990),
Freddie Mercury (1991),
Rudolf Nurejew (1993).


1996

Eine Kombinations-
therapie von Medi-
kamenten hält das
Virus erstmals in
Schach.

1999

Erste große HIV-Impf-
studie am Menschen
in Thailand, sie scheitert
wie etliche andere.
Bis heute gibt es keine
wirksame Impfung.

2007

Der »Berliner Patient«
Timothy Brown gilt
als erster von HIV
geheilter Mensch.

2008

Nobelpreis für Françoise
Barré-Sinoussi und Luc
Montagnier für ihre
Arbeiten über das HI-
Virus. Robert Gallo wird
nicht berücksichtigt.

2016 / 2019

EU-weite Zulassung eines
Vorbeugemedikaments gegen
HIV-Infektion. 2019 über-
nehmen die Krankenkassen
in Deutschland die Kosten der
Präexpositionsprophylaxe (PrEP).

Dort hindert es das Virus daran, sich zu
vermehren. Ohne Vermehrung keine In-
fektion.
In Deutschland wurden in dieser Deka-
de um die 3000 neue Infektionen im Jahr
registriert, während in anderen Staaten
die Zahl der HIV-Neuinfektionen um bis
zu 40 Prozent sank. In London, wo seit
2015 Risikogruppen Zugang zu dem Mittel
haben, gingen die HIV-Neuinfektionen
massiv zurück. Die wichtigste Londoner
HIV-Klinik, 56 Dean Street, meldete sogar
einen Rückgang der HIV-Infektionen um
80 Prozent.
Seit dem 1. September übernehmen hier
die gesetzlichen Krankenkassen die Kos-
ten für die Medikamente. Zumindest wenn
ein erhöhtes Ansteckungsrisiko besteht,
wie bei Männern, die Sex mit Männern
haben.
Studien gehen davon aus, dass das Mit-
tel bei korrekter Einnahme das Risiko, sich
mit HIV anzustecken, um bis zu 99 Pro-
zent reduzieren kann. »Korrektes Einnah-
meverhalten« bedeutet laut ärztlicher Leit-
linien in Deutschland: eine Pille pro Tag.
In den USA wird mittlerweile auch die
sogenannte PrEP on demand emp fohlen,
sie funktioniert nach dem Schema 2-1-1:
zwei Pillen 24 Stunden bis spätestens zwei
Stunden vor dem Sex und jeweils eine an
den beiden folgenden Tagen.
Die französische Langzeitstudie Préve-
nir beobachtet seit 2017 rund 3000 Schwu-
le, die die PrEP benutzen. 51 Prozent neh-
men sie täglich, 49 Prozent nach Bedarf.
In einem Zeitraum von mehr als zwei Jah-
ren gab es lediglich zwei Neuinfektionen –
bei Teilnehmern, die die Pille nicht konti-
nuierlich genommen hatten.
Auch die Nebenwirkungen gelten als
überschaubar. Zwar kann die PrEP zu Nie-
renschäden oder Problemen mit der Kno-
chendichte führen. Die Teilnahme an der
Prévenir-Studie haben indes nur drei Pro-
banden wegen Beschwerden abgebrochen,
sie klagten über Magen-Darm-Symptome.
Auch Weinberger hatte nie Probleme
mit der Pille. Er empfinde die PrEP als Be-
freiung, sie habe ihm die »Restangst vor
HIV genommen«, die er nie ganz los -
geworden sei. »Sie hat sich tief in meine
Psyche gegraben.« Wochenlang habe er
früher Panik gehabt, wenn er entgegen
aller Vernunft doch mal aufs Kondom ver-
zichtete oder es gerissen sei. »Diese stän-


dige, lauernde Angst ist weg. Ich hätte nicht
damit gerechnet, das noch zu erleben.«
Doch was für die einen eine Befreiung
bedeutet, ist für andere eine Verführung
zur Verantwortungslosigkeit. Nicht jeder
Schwule sehnt sich nach den Siebzigerjah-
ren zurück, als Sex unter Männern einfach
nur Spaß bedeutete, den man gern und viel
hatte, mit wechselnden Partnern. Dieses
Bild passt vielen nicht, die sich heute in
der bürgerlichen Mitte angekommen füh-
len. Für sie ist der Verzicht aufs Kondom
ein Tabubruch, ein Abschied von der Ver-
nunft. Das Trauma Aids sitzt tief.
Sex war damals zur tödlichen Gefahr ge-
worden. Millionen starben; es traf vor allem
schwule Männer. Die gesellschaft liche Äch-

tung wuchs. Es gab keine Chance auf Hei-
lung, es gab nur das Kondom. Auf Plakaten,
im Radio, im Fernsehen, allgegenwärtig war
der Slogan: »Kondome schützen.« Das
Gummi wurde zur einzig wirksamen Waffe
gegen einen übermächtigen Gegner. Das
hieß auch: Wer es nicht benutzte, galt als
Gefahr für sich selbst und andere.
»Diese Vorstellung hat sich ins Bewusst-
sein der Schwulen gebrannt«, sagt Dirk
Sander von der Deutschen Aidshilfe in
Berlin. »Das hat auch mit uns zu tun.« Der
Verein gründete sich 1983 als Aktivisten-
grüppchen; später wurde er zum öffentlich
geförderten Dachverband, der von Berlin
aus die Arbeit von 130 regionalen Organi-
sationen in Deutschland koordiniert.

Zu den Hauptaufgaben der Aidshilfe ge-
hörte es viele Jahre lang, Menschen vom
Kondom zu überzeugen. »Auch für uns
war es ein Lernprozess, dass das heute
nicht mehr so ist«, sagt Sander.
Erst seit etwa zwei Jahren empfiehlt die
Aidshilfe die PrEP als wirksame Präven -
tionsmethode. In der Szene hat das Ge-
wicht; für viele schwule Männer ist die
Aidshilfe immer noch eine Art Kirche:
Hier wird gesagt, was richtig ist und was
nicht. Und dass diese Kirche, die einst das
Kondom heiligsprach, plötzlich verkünde-
te, dass es unter gewissen Umständen auch
ohne gehe – das hat viele Jünger verstört.
»Wir stecken dafür viel Prügel ein«, sagt
Sander. Jedes Mal, wenn in einem Social-

Media-Post über die PrEP informiert wer-
de, gingen flugs die Beschimpfungen los.
Die Kondomfans erklären PrEP-User zu
Schlampen, umgekehrt werden Kondom-
nutzer als gestrig deklariert.
»Ich wünschte, man könnte die Debatte
um Moral aus dieser Diskussion raushal-
ten«, sagt Sander. Für die Aidshilfe gehe
es nur darum, dass es heute eine zusätz -
liche Präventionsmethode gibt. »Wir er-
reichen damit Menschen, die sich vorher
nicht geschützt haben.«
Sander kann verstehen, dass Menschen
der PrEP gegenüber skeptisch sind. Es
gebe, sagt er, gute Argumente dagegen. So
kann, wer ohne Kondom unterwegs ist,
weiterhin Krankheiten wie Syphilis oder

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 115


Werbung in Frankreich: Warum sollten gesunde Menschen Medikamente nehmen?
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