Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
770 000

7,9 Millionen 37,9
Millionen

jährliche HIV-Neuinfektionen

jährliche
Aidstote

1,7
Mio.

1,9
Mio.

1999
2,9 Mio.

1990 2018

290 000

Gesamtzahl der HIV-Infizierten weltweit

Globale Seuche


1990

Angaben sind geschätzt, Quelle: UNAIDS

2000 2010

2005
1,7
Mio.

2018

Tripper bekommen. Und warum sollten
gesunde Menschen ohne Not Medikamen-
te einnehmen?
»Am Ende steht aber«, sagt Sander,
»dass wir hier ein Mittel haben, das
Neu infektionen mit HIV verhindert –
und wer sich damit schützen will, verdient
genauso viel Wertschätzung wie jemand,
der Kondome benutzt.« Das Motto der
neuen Kampagne der Deutschen Aids -
hilfe laute deshalb: »Meine Wahl. Dein
Respekt.«
Viele Kondomnutzer stellen sich aller-
dings die Frage, ob ihre bevorzugte Ver-
hütungsmethode auf Dauer von den Me-
dikamenten verdrängt wird. Schätzungen
zufolge gibt es heute weltweit rund
400 000 PrEP-Nutzer.
Wie viele es in Deutschland sind, weiß
niemand genau. Die Deutsche Aidshilfe
geht von 5000 bis 10 000 Menschen aus;
Axel Baumgarten von der Dagnä (Deut-
sche Arbeitsgemeinschaft niedergelasse-
ner Ärzte in der Versorgung HIV-Infizier-
ter) glaubt, dass es mittlerweile 15 000 sein
könnten. Beide Institutionen halten diese
Zahlen für ziemlich niedrig angesichts von
mindestens 900 000 Männern, die mit
Männern schlafen.
Dass die PrEP hier noch nicht so weit
verbreitet ist, könnte damit zu tun haben,
dass sie so lange sehr teuer war. Zudem
durfte das Präparat Truvada des Herstel-
lers Gilead früher nur zur Behandlung
einer bestehenden HIV-Infektion verwen-
det werden. Dabei hatte die amerikanische
Arzneimittelbehörde schon 2012 die PrEP
als Präventionsmittel zugelassen.
Es folgten Länder wie Frankreich, Israel
und Indien. In Deutschland brauchte
man noch bis 2016 einen Arzt, der bereit
war, Truvada auch zur Vorbeugung zu
verschreiben, auf Privatrezept. Bei einem
Preis von 800 Euro für die Monats -
packung war das nur etwas für die Reichen
unter den Präventionswilligen.
Erst seit die Kosten für eine PrEP auch
in der Bundesrepublik vor zwei Jahren auf
50 Euro im Monat fielen, ist das Mittel für
viele Schwule hier zum Thema geworden.
Mit der Kostenübernahme durch die Kran-
kenkasse könnte sich die Nutzerzahl laut
Dagnä-Schätzung verdoppeln.
Armin Eifler, 57, ist davon wenig begeis-
tert, obwohl er selbst homosexuell ist. »Ich
frage mich, warum die Allgemeinheit für
das Sexleben anderer bezahlen soll«, sagt
Eifler, Leiter einer Rettungswache. »Viagra
gibt es ja auch nicht umsonst.«
Eifler ist Rheinländer, ein freundlicher
Typ, aber auch einer derjenigen, die in den
Onlineforen der Aidshilfe scharfe Kom-
mentare gegen die PrEP hinterlassen. »Ich
will niemanden beleidigen«, sagt er. »Wer
das unbedingt nehmen will, soll es tun –
aber bitte auf eigene Kosten.« Ihn störe
der Hype, der darum gemacht wird.


Für Eifler selbst kommt die PrEP wegen
einer Vorerkrankung nicht infrage; er sei
aber generell skeptisch gegenüber Heils-
versprechen der Pharmaindustrie. »Ich
habe erst vor einem Jahr von der PrEP
gehört«, sagt er. »Da tauchte das Wort
immer häufiger in den Profilen bei den
Datingapps auf, bei Grindr und bei
Romeo.«
Sex ohne Kondom könne er sich aber
nur mit festem Partner vorstellen, bei ma-
ximalem gegenseitigen Vertrauen, sagt Eif-
ler, so sei es bei ihm immer gewesen. »Und
wenn ich mal nicht in einer Beziehung bin,
dann nehme ich eben ein Gummi.« Das
könne doch nicht so schwer sein. »Viel-
leicht würde ich das anders sehen, wenn
ich heute 30 wäre«, räumt er ein. »Aber
die PrEP erscheint mir wie ein Freifahrt-
schein für kopfloses Rumgebumse.«

Das mit dem Freifahrtschein hört Chris-
tiane Cordes oft. Die Infektiologin führt
eine der größten HIV-Schwerpunktpraxen
in Berlin, im Bezirk Friedrichshain. 80 Pro-
zent ihrer Patienten seien schwul, schätzt
Cordes, im Wartezimmer sitzen viele jun-
ge bärtige Männer, die man sonst in der
Warteschlange vorm Berghain verortet.
»Man muss die Wirklichkeit sehen, wie sie
ist«, sagt Cordes. »Mit dem Satz ›Nehmt
beim Feiern keine Drogen, und vergesst
die Kondome nicht‹ kommt man heute in
der HIV-Prävention nicht weit.«
Anfangs war die Ärztin auch skeptisch,
als sie von der PrEP hörte. Irgendwann
hätten dann aber die Studien für sich ge-
sprochen – zumal das Gummi nicht mehr
in allen Risikogruppen zuverlässig zum
Einsatz komme.
Natürlich mache sie sich Sorgen, sagt
Cordes, dass mit zunehmendem Kondom-
verzicht andere sexuell übertragbare
Krankheiten an Bedeutung gewinnen.
Tatsächlich registriert das Robert Koch-
Institut seit 2010 kontinuierlich steigende
Syphiliszahlen in Deutschland – zuletzt
ging die Zahl um 4,2 Prozent hoch auf
7476 Fälle pro Jahr. Experten rechnen mit
einem weiteren Anstieg durch die zuneh-
mende Verbreitung der PrEP, besonders
im Zuge der Kostenübernahme durch die
Krankenkassen.
Allerdings vermuten viele Mediziner
einen weiteren Grund für die höheren Fall-
zahlen: Die Menschen lassen sich einfach
häufiger testen als früher.
Es gehe auch darum, wie gut sich eine
Krankheit bekämpfen lasse, sagt Cordes.
»Klar, eine Syphilis kann gefährlich wer-
den, aber man muss festhalten, dass eine
HIV-Infektion um ein Vielfaches gefähr -
licher ist. Denn die lässt sich mittlerweile
zwar gut behandeln, aber nach wie vor
nicht heilen.«
Abgesehen davon bieten Kondome kei-
nen allumfassenden Schutz, da sich etwa
Syphilis oder Gonorrhoe auch auf oralem
Weg leicht verbreiten. Und laut Cordes
sind die meisten PrEP-Nutzer über die Ge-
fahren außergewöhnlich gut auf geklärt,
und das sei schon viel wert. »Die Männer,
die mich nach der PrEP fragen, wissen,
was sie tun«, sagt sie. Sie seien bereit, alle
drei Monate in die Praxis zu kommen und
sich auf alle infrage kommenden Krank-
heiten testen zu lassen. »Ich finde, das ist
das Gegenteil von Verantwortungslosig-
keit.«
Das sieht Thomas Weinberger ähnlich.
Außerdem habe er den Kondomen ja nicht
abgeschworen. »Wenn ich mit jemandem
Sex haben möchte, der lieber ein Kondom
benutzt, dann mache ich das natürlich«,
sagt er. Nur weil es mittlerweile ohne gehe,
mache das ja nicht weniger Spaß als
früher. Daniel Sander

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SANDRA STEIN / DER SPIEGEL
PrEP-Gegner Eifler
»Viagra gibt es ja auch nicht umsonst«

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
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