Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 133


Nachrufe


Dina Ugorskaja, 46
Sie sei eine »Philosophin am Klavier«, schrieb einmal
ein begeisterter Kritiker. Tatsächlich hat Dina Ugorskaja als
Pianistin jedes Stück ihres Repertoires zunächst bis ins
Detail analysiert, um es dann mit großer emotionaler Kraft
und unglaublicher Virtuosität vorzutragen. Bach und Beet-
hoven, Mozart und Schostakowitsch waren ihre Favoriten.
Sie liebte die Kammermusik, aber auch die große Bühne.
Mit 14 Jahren bestritt sie in ihrer Heimatstadt Leningrad
ihren ersten Auftritt mit Orchester, Beethovens 4. Klavier-
konzert. 1990 verließ sie mit ihren Eltern – dem Pianisten
Anatol Ugorski und der Musikwissenschaftlerin Maja Elik –
die Sowjetunion und zog nach Berlin, nachdem die Familie
von der antisemitischen Organisation Pamjat massiv
bedroht worden war. In Deutschland setzte Ugorskaja ihr
Klavier- und Kompositionsstudium fort, bald schon folgten
Auftritte mit namhaften Orchestern in ganz Europa, CD-
Aufnahmen sowie Aufführungen ihrer eigenen Werke. Seit
2016 lehrte sie als Professorin für Klavier in Wien. Dina
Ugorskaja starb am 17. September in München an Krebs. DY

Rudi Gutendorf, 93
Seine schönste Station als Fußballtrainer sei Ruanda gewe-
sen, sagte er. Die Bundesregierung habe ihn nach dem
Völkermord 1999 dorthin geschickt: »Ich hatte verfeindete
Hutu und Tutsi in der Mannschaft, ihnen habe ich gesagt:
Rache und Wut untereinander haben keinen Zweck, sonst
fliegt ihr hier raus.« Später hätten sie nach einem Sieg
gemeinsam mit den Zuschauern im Stadion gefeiert. Rudi
Gutendorf hatte immer Geschichten zu erzählen: über die
Kraft des Fußballs, über seine Erlebnisse als Trainer, über
sich selbst. Er betreute Mannschaften auf allen Kontinen-
ten, war Pokalsieger in Peru und Meister in Japan, Natio-
naltrainer in China und Simbabwe. Und er trainierte die
Bundesligisten VfB Stuttgart, Schalke 04 und den Hambur-
ger SV, neben vielen anderen. Am Ende kehrte er in seine
Heimat zurück. 2016, damals schon 90 und mit brüchiger
Stimme, kümmerte er sich in seiner 56. Station als Trainer
um eine Mannschaft aus Flüchtlingen in Koblenz. Rudi
Gutendorf starb am 13. September. ULU

György Konrád, 86
Für den Umgang mit Osteu-
ropa empfahl der gelernte
Psychologe aus Ungarn in
einem Gespräch mit dem
SPIEGEL1992 »einen gewis-
sen therapeutischen
Humor«. Im Totalitarismus
zu leben, ohne Schuld auf
sich zu laden, sei »vielleicht
niemandem« möglich gewe-
sen. In seinen Romanen
und Essays spürte der viel-
fach ausgezeichnete Autor
den Verwerfungen des


  1. Jahrhunderts nach; sei-
    ne Sprache war poetisch,
    präzise und immer am Erle-
    ben des Einzelnen orien-
    tiert. Ein großer Teil von
    György Konráds Familie –
    gut situierte jüdisch-ungari-
    sche Patrioten – wurde im
    Holocaust ermordet. Nach
    1956 arbeitete Konrád
    zunächst als Sozialarbeiter
    und Soziologe. Ein Essay
    brachte ihm 1974 eine Ver-
    haftung ein; weltweite Pro-
    teste hatten das Angebot
    zur Ausreise zur Folge, was
    Konrád ablehnte; fortan
    konnte er Reisen in den
    Westen unternehmen. 1997
    wurde der mühelos deutsch
    sprechende Konrád Präsi-
    dent der Berlin-Brandenbur-
    gischen Akademie der
    Künste. Das Berliner Holo-
    caust-Mahnmal empfand er
    als »gnadenlosen oder
    didaktischen Kitsch«; er kri-
    tisierte das Eingreifen der
    Nato in Jugoslawien und
    etablierte die Wahrneh-
    mung Mitteleuropas als viel-
    gestaltigen und traditions-
    reichen politischen Raum.
    »Meine Weltanschauung«,
    heißt es im autobiografi-
    schen Roman »Glück« von
    2003, »ist eine eklektische
    gewesen, an irgendwelche


erlernbaren Lehren wollte
ich mich nicht halten. Um -
herschweifen und Behut-
samkeit, anderntags Korrek-
tur der Übertreibungen.«
György Konrád, dreimal
verheiratet und fünffacher
Vater, starb am 13. Septem-
ber in Budapest. ES

Zine el-Abidine Ben Ali, 83
Solange es Fotos von ihm
gab, trug er sein Haar unna-
türlich dunkel gefärbt. Er
wollte immer jünger sein,
als er war, mit fast 70 wurde
er noch einmal Vater.
23 Jah re lang regierte Zine
el-Abidine Ben Ali Tunesien.
An die Macht hatte sich
der ehe malige Militär 1987
selbst geputscht: Als Pre-
mier ließ er sieben Ärzte

erklären, der amtierende
Staatspräsident Habib Bour-
guiba sei nicht mehr in der
Lage, seine Funktionen aus-
zuüben. Wer damals auf ein
ge rechteres, neues Tunesien
gehofft hatte, wurde ent-
täuscht. Zwar schätzten die
Europäer den neuen Präsi-
denten, weil er die Islamis-
ten im Land bekämpfte,
den Frauen neue Rechte ein-
räumte und das Land wirt-
schaftlich voranbrachte. Zu
Hause aber war der korrup-
te Herrscher, der seine gan-
ze Familie auf Kosten des
tunesischen Volkes berei-
cherte, zutiefst verhasst.
Über 200 Firmen gehörten
dem Ben-Ali-Clan. Im Ara-
bischen Frühling schlug ihm
dieser Hass unverhohlen
entgegen, fluchtartig verließ
er 2011 das Land, um ins
saudi-arabische Exil zu
gehen. Zine el-Abidine Ben
Ali starb am 19. September
in Dschidda. BSA

MARION KOELL / CAVI-MUSIC

BEOWULF SHEEHAN / OPALE / BRIDGEMAN IMAGES

ZOUBEIR SOUISSI / REUTERS
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