Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Hunderttausende Zivilisten zu Flüchtlin-
gen gemacht und führt dazu, dass Kinder
an Unterernährung sterben. Nun ist Sau-
di-Arabiens engster Verbündeter, die Ver-
einigten Arabischen Emirate, mit seinen
Truppen auf dem Rückzug, vor allem weil
sie ihre Ziele, die Häfen und die Stadt
Aden zu dominieren, erreicht haben. Ganz
anders MbS, er steckt im Jemen in einem
Sumpf, aus dem er nicht herauskommt.
Und jetzt haben die Huthis auch noch be-
hauptet, sie hätten die Raffinerie mit ihren
Drohnen angegriffen – was ihnen aber
kaum jemand glaubt.
MbS weiß, dass er handeln muss, will
er nicht schwach und verwundbar erschei-
nen. Doch er weiß nicht, wie. Saudi-Ara-
bien verfügt selbst nicht annähernd über
genügend gut ausgebildete Streitkräfte, um
es mit Iran aufnehmen zu können, zumal


die Luftwaffe, das Rückgrat des Militärs,
im Jemeneinsatz gebunden ist. So ist MbS
auf Gedeih und Verderb Donald Trump
ausgeliefert. »Saudi-Arabien will Iran bis
auf den letzten amerikanischen Mann be-
kämpfen«, frotzelte der frühere US-Ver-
teidigungsminister Robert Gates.
Dass die saudi-arabische Ölindustrie
verletzlich ist, war den Sicherheitskräften
bewusst. Allerdings rechneten sie eher mit
einem Angriff auf Tanker im Exporthafen
Ras Tanura oder in der Straße von Hor-
mus, der strategisch wichtigen Meerenge;
dort transportieren Schiffe ein Fünftel des
Rohöls, das die Welt verbraucht. Sie ist
gleichsam die Schlagader des globalen
Energiesystems – die nächtliche Attacke
indes zielte mitten ins Herz.
In der angegriffenen Raffinerie in Ab-
kaik verarbeitet der staatliche Konzern

Saudi Aramco rund 70 Prozent der na -
tionalen Ölproduktion, sie ist die welt-
größte Anlage ihrer Art. Das zweite An-
griffsziel, das Vorkommen in Khurais,
gehört in die Kategorie der sogenannten
Elefantenfelder, der mächtigsten Lager-
stätten der Welt.
Mit den präzisen Attacken ist es gelun-
gen, den Fluss von täglich 5,7 Millionen
Barrel abrupt zu stoppen. Auf einen
Schlag fehlt nun etwa jedes 18. Fass Öl,
das die Menschheit am Tag verbraucht.
»Was ein Risikoszenario war, ist Wirklich-
keit geworden«, sagt der Washingtoner
Energieexperte Daniel Yergin, Vizepräsi-
dent der Analysefirma IHS Markit. Nie
zuvor hat ein einzelnes Ereignis dem glo-
balen Ölmarkt solche Mengen entziehen
können. Selbst im Herbst 1973, in der ers-
ten großen Ölpreiskrise, nahmen die ara-
bischen Ölförderer unter Führung Saudi-
Arabiens nur rund 4,3 Millionen Barrel
täglich aus dem Markt, damals freilich mit
voller Absicht.

Über Jahrzehnte warendie USA auf sau-
disches Öl angewiesen. Die Grundlage für
die Zusammenarbeit legte Präsident
Franklin D. Roosevelt, der sich im Februar
1945 mit König Abdulasis Ibn Saud auf
dem Kreuzer USS »Quincy« im Suezkanal
traf und den Vereinigten Staaten Zugang
zu den mächtigsten Ölfeldern am Golf
sicherte.
Doch aus dieser Abhängigkeit haben sich
die USA gelöst. Durch den fulminanten
Durchbruch der Fracking-Technologie


  • ökologisch umstritten, ökonomisch hoch-
    ergiebig – spielen nun die USA auch als
    Anbieter eine führende Rolle im globalen
    Energiegeschäft. Das Land fördert täglich
    12,1 Millionen Barrel, es ist die Nummer
    eins vor Russland (10,7 Millionen) und
    Saudi-Arabien (9,9 Millionen).
    Als am Montag die Börsen schlossen, ge-
    hörten amerikanische Förderspezialisten
    zu den größten Gewinnern; die Aktie von
    Hess stieg um 11,2 Prozent, das Papier von
    Apache um 16,9 Prozent. Sie profitieren
    vom Anstieg des Preises für Rohöl, jetzt
    lohnt es sich für sie, die Produktion hoch-
    zufahren. Kurzfristig profitieren die USA
    also sogar von dem Angriff auf die saudi-
    sche Ölindustrie. Wofür also sollen ameri-
    kanische Soldaten ihr Leben riskieren?
    Die Frage ist nun, wie lange es dauern
    wird, bis Saudi Aramco die Anlagen repa-
    riert hat und das Öl in vollem Umfang
    fließt. Schon Ende September werde alles
    wieder wie gewohnt laufen, versicherte
    das Unternehmen eilig. Die IHS-Markit-
    Fachleute jedoch halten eine Pause von
    ein bis vier Monaten für das wahrschein-
    lichste Szenario.
    So lange müssten Verbraucherstaaten
    und Förderländer ihre Reserven anzapfen,
    um die Angebotslücke zu schließen. In


DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 21


THE NEW YORK TIMES / REDUX /LAIF

US GOVERNMENT / REUTERS
US-Präsident Trump mit Berater O’Brien, zerstörte Ölanlagen: Politik ohne Prinzipien
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