Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
Kepel:Sehr viel wird von der Generalver-
sammlung der Uno in diesen Tagen abhän-
gen, bei der ja fast alle Staats- und Regie-
rungschefs vertreten sein werden. Der Wes-
ten muss das Gespräch mit den Ländern
am Persischen Golf suchen und vor allem
Russland einbeziehen. Russland hat so-
wohl auf Iran großen Einfluss, ist aber auch
mit Saudi-Arabien ständig im Gespräch,
um seine Ölpreispolitik abzustimmen.
SPIEGEL: Vor wenigen Wochen noch hat
der französische Präsident vor und beim
G-7-Gipfel in Biarritz alles dafür getan, eine
Annäherung mit Iran möglich zu machen,
und sogar ein Treffen zwischen Donald
Trump und Irans Präsidenten Hassan Roha-
ni in Aussicht gestellt. War das zu ehrgeizig
oder zu naiv von Emmanuel Macron?
Kepel:Weder – noch. Wer sagt uns, dass
ein solches Treffen nicht doch noch irgend-
wann zustande kommt? Es ist ohnehin der
einzige Weg, im Gespräch zu bleiben. Ich
denke, Macron wird den Kurs von Biarritz
weiter fortsetzen. Und angesichts, sagen
wir mal, einer gewissen Schwäche Angela
Merkels und des Zusammenbruchs der
Politik in Großbritannien ist er auch der
Einzige in Europa, der dazu noch die poli-
tische Kraft hat.
SPIEGEL: Sie kritisieren in Ihrer Analyse
die Unkenntnis des Westens über die ara-
bische Welt. Hätte man den Kampf der
Dschihadisten früher einhegen können?
Kepel:Vielleicht, wahrscheinlich. Nehmen
Sie den Arabischen Frühling: Da haben
wir vor allem den demokratischen Auf-
bruch gesehen, aber nicht den destabilisie-
renden Faktor, der mit ihm einherging. Ich
habe das aber im Übrigen auch nicht ge -
sehen. Wir waren alle zu enthusiastisch.
SPIEGEL: Und haben die Gefahren dieser
Revolutionen unterschätzt?
Kepel:Unbedingt, die arabischen Revolu-
tionen haben etablierte Ordnungen, auto-
ritäre Regime hinweggefegt, und wir alle
dachten, dass sie stark genug seien für das,
was danach kommt. Aber paradoxerweise
haben diese Aufstände dem »Islamischen
Staat« geholfen zu prosperieren.
SPIEGEL: Inwiefern?
Kepel:Weil die alte autoritäre Ordnung
nicht durch eine neue Ordnung ersetzt
wurde. Nehmen Sie Tunesien: Anfang
2011 wurden dort politische Gefangene
entlassen, darunter radikalste Dschiha -
disten. Sie hatten alle irgendwelche Cou-
sins an der Côte d’Azur, zu denen sie ge-
fahren sind. Niemand hat sich um sie oder
ihre Überwachung damals gekümmert.
In Frankreich haben sie sich ein neues
Netzwerk geschaffen – was das Attentat
von Nizza im Juli 2016 erklärt. Diese
dritte Generation von Dschihadisten hat
eindeutig vom Zusammenbruch der alten
Regime profitiert. Eine andere Konse-

* Mit der Redakteurin Britta Sandberg in Paris.

quenz war eine Vertiefung der Kluft
zwischen Sunniten und Schiiten. Die Is-
lamisten in Tunesien sind schnell zu
Kämpfern gegen die schiitische Domi-
nanz geworden. Dabei gibt es in Tunesien
seit dem 10. Jahrhundert keine Schiiten
mehr. Sie waren einfach das neue Feind-
bild.
SPIEGEL: Wie schätzen Sie die Lage heute
ein? Wird es nach Rakka eine vierte Ge-
neration von Dschihadisten geben?
Kepel:Ich weiß es nicht. Jene, die zurzeit
in den Gefängnissen sitzen, haben ihre
Meinung nicht geändert, aber sie haben
noch keinen neuen Modus Operandi ge-
funden. Ich bin mir sicher, die Verän -
derungen in Saudi-Arabien werden ent-
scheidend sein. Der gesunkene Ölpreis
hat viel verändert. Weder der Staat noch
private Geschäftsmänner finanzieren
noch islamistische Kreise wie zuvor, aus
denen sich lange die Kämpfer rekrutier-
ten. Kronprinz Mohammed bin Salman
fährt einen neuen Kurs; mit der Ritz-Carl-

ton-Revolution, wie ich sie nenne, hat er
viele private Financiers des Terrors still-
gelegt.
SPIEGEL: Der Nahe Osten steht also er-
neut an einem Wendepunkt?
Kepel:Ich würde sogar sagen, die Situa -
tion ist vergleichbar mit jener in Europa
im Jahr 1914. Deshalb brauchen wir jetzt
eine europäische Führung, die nicht schlaf-
wandelt, wie Christopher Clark es in sei-
nem Buch zum Ersten Weltkrieg beschrie-
ben hat.
SPIEGEL: Was muss nun passieren?
Kepel:Wir brauchen ein Europa, das eine
abgestimmte, gemeinsame Außenpolitik
betreibt und seine traditionellen Verbin-
dungen zu den Ländern im Nahen und
Mittleren Osten wieder aufnimmt. Wir
müssen diese Länder stabilisieren. Und
dabei unabhängig von den USA agieren,
Iran in Gespräche einbinden und, ach ja,
außerdem mit Russland sprechen, das zu
einem neuen Akteur in dieser Region ge-
worden ist. Dann könnte es gelingen. In-
schallah.
SPIEGEL: Herr Kepel, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.

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Titel

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019

JULIEN PREBEL / DER SPIEGEL
Kepel beim SPIEGEL-Gespräch*
»Wir brauchen eine europäische Führung«

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Falscher Frieden


Die Taliban kontrollieren wieder große
Teile Afghanistans, ihre Macht wächst


Tag für Tag. Und die Menschen, die
unter der Herrschaft der Extremisten


in den Neunzigerjahren am meisten
zu leiden hatten – Intellektuelle,


Frauen, Minderheiten – fürchten nun,
dass alles, was sie sich in den ver -


gangenen Jahren aufgebaut haben,
zunichtegemacht wird, falls die


Taliban doch noch ein Friedens -
abkommen mit den USA schließen


sollten. Die Frage ist: Was macht
US-Präsident Donald Trump?


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