Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

U


m kurz nach neun Uhr hatte
ein Kurier die Kündigung des
Vertrags überbracht, mittags
trafen sie sich zum vorerst
letzten Mal, der Milliardär und der Mi -
nister.
Es war der 19. Juni 2019, ein Mittwoch,
und viel hatten sie sich nicht mehr zu
sagen. Ihr gemeinsames Projekt war
tot, einen Tag zuvor gestoppt von den
Richtern des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH). Die Pkw-Maut, so lautete das
Urteil, sei nicht vereinbar mit den Ge -
setzen der Europäischen Union.
Für Klaus-Peter Schulen-
berg, Chef des Ticketdienstes
CTS Eventim, war einer der
größten Deals seines Lebens
geplatzt. Seine Firma gehört
zum Konsortium Autoticket,
das die Maut eintreiben soll-
te. Doch der 68-Jährige, des-
sen Vermögen auf über zwei
Milliarden Euro geschätzt
wird, schien das Ende recht
gelassen zu nehmen.
Anders als Andreas Scheu-
er, der zerknirscht wirkte. So
beschreiben ihn Leute, die
den Minister an diesem Tag
erlebt haben. Er hatte soeben
die wohl größte Katastrophe
seiner Karriere erlebt. Scheu-
er sollte als Bundesverkehrs-
minister das CSU-Prestigepro-
jekt endlich umsetzen. Damit war er nun
gescheitert, und als Folge des Desasters dro-
hen Schadensersatzansprüche in Höhe von
wohl einer halben Milliarde Euro.
Das vertrauliche Treffen fand im Lei-
tungstrakt des Ministeriums statt. Scheuer
hatte seinen Staatssekretär mitgebracht
und den Chef der Leitungsabteilung. An
Schulenbergs Seite saß Georg Kapsch, der
Chef des Technologiekonzerns Kapsch
TrafficCom, mit dem sich Schulenberg für
die Maut zusammengeschlossen hatte,
dazu weitere Vertreter des Konsortiums.
Was besprochen wurde, ist bislang nicht
an die Öffentlichkeit gedrungen, keiner
der beteiligten Manager wollte sich auf
Nachfrage dazu äußern.
Es könnte daran liegen, dass der Ver-
kehrsminister laut Insidern eine unge-
wöhnliche Bitte äußerte: Schulenberg solle


öffentlich erklären, dass auch er den Maut-
vertrag unbedingt bis Ende des Jahres
2018 abgeschlossen haben wollte. Es war
die Bitte, der Öffentlichkeit nicht die Wahr-
heit zu erzählen.
Das bislang unbekannte Treffen im Mi-
nisterium verstärkt den Eindruck, der Ver-
kehrsminister versuche mit aller Macht
und allen Mitteln, die Verantwortung von
sich zu schieben. Scheuer steht unter gro-
ßem Druck, die Opposition im Bundestag
steuert auf einen Untersuchungsausschuss
zu. Woche für Woche kommen neue Un-
gereimtheiten über das Mautprojekt ans

Licht, der Minister aber bleibt hartnäckig
bei seiner Linie, alles richtig gemacht zu
haben. »Wir haben nichts zu verbergen«,
sagte er nach einer Sondersitzung des Ver-
kehrsausschusses am 24. Juli.
Tatsächlich aber war es wohl eher das
Verkehrsministerium, das die Maut gegen
alle Widerstände durchsetzen wollte. Der
Minister wirkte dabei wie ein unbelehr -
barer Geisterfahrer, der selbst dann nicht
abbremste, als der große Crash schon
vorherzusehen war.
Dieser Eindruck zumindest ergibt sich
aus dem Studium vieler Tausend Akten-
seiten. Der SPIEGELhat nicht nur Doku-
mente des Ministeriums zum Mautprojekt
ausgewertet, sondern auch mit zahlreichen
Beratern, Beteiligten im Ministerium, aus
der Politik und der Industrie gesprochen.
Sie alle baten um Anonymität.

Aus den Recherchen lässt sich das ganze
Ausmaß eines Politik- und Verwaltungsver-
sagens rekonstruieren, das einhergeht mit
Selbstüberschätzung und handwerklichen
Fehlern. Vor allem aber verstärkt sich der
Eindruck, die CSU habe das Bundesver-
kehrsministerium in den vergangenen sechs
Jahren für parteitaktische Ziele missbraucht,
mit dem Ergebnis, dass vermutlich die Steu-
erzahler für den entstandenen Schaden auf-
kommen müssen. Der Skandal des Minis-
ters ist damit auch ein Skandal der CSU.
Wenn es so etwas wie einen Geburtsort
des Mammutprojekts gibt, dann ist es
der Alpenhof im bayerischen
Murnau am Staffelsee. Die
Fünf-Sterne-Herberge, von
deren Terrasse man angeblich
den »schönsten Blick auf
Oberbayern« (Eigenwerbung)
hat, liegt im Wahlkreis von
Alexander Dobrindt, dem
Vorgänger Scheuers im Amt
des Bundesverkehrsministers.
Wo einst die Künstler des
Blauen Reiters um Wassily
Kandinsky nach Inspiration
suchten, zog sich Dobrindt,
damals noch CSU-General-
sekretär, mit Getreuen vor
der bayerischen Landtags-
wahl 2013 einige Male zu-
rück. Auch sie feilten an ei-
ner Art Kunstwerk, der bun-
desweiten Maut für Pkw.
Die Wahl war für das Selbstbewusstsein
der Partei entscheidend, wollte man doch
durch reichlich Zugewinne die Schmach
von 2008 vergessen, als die CSU in Bayern
die absolute Mehrheit verloren hatte. Der
Wahltag war auf den 15. September 2013
angesetzt, kurz nach dem Ende der baye-
rischen Schulferien. Ideal für ein Projekt
wie die Maut.
Die Bürger der Freistaats, die gerade in
Italien, Österreich oder der Schweiz viel
Geld für die Nutzung der Autobahnen be-
rappen mussten, sollten ihren Zorn augen-
scheinlich an der Wahlurne abkühlen kön-
nen – durch ein Kreuz für die CSU und
deren Mautidee. Die bald als »Ausländer-
maut« titulierte Idee bediente nicht nur
niedere Instinkte, sondern sollte auch klar-
machen: Deutsche Autofahrer würden
nicht zur Kasse gebeten. So versicherte es

Foto: Hannes Jung für den SPIEGEL 33

Deutschland

Der Geisterfahrer


AffärenVerkehrsminister Andreas Scheuer weist jegliche Verantwortung am Pkw-Maut-Debakel


weit von sich. Zeugenaussagen und Dokumente offenbaren indes, wie der Minister
die Abgabe aus wahltaktischen Gründen durchdrücken wollte – auf Kosten der Steuerzahler.

Ministervorlage vom 14. Januar 2019 (Ausschnitt): »Nichts zu verbergen«
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