Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

SPIEGEL:Herr Bundestagspräsident, zwei
ostdeutsche Landtagswahlen Anfang Sep-
tember, eine weitere im Herbst, dazu fei-
ern wir 30 Jahre Mauerfall, und es gibt
noch ein weiteres Jubiläum: Vor 20 Jahren
ist die Regierung von Bonn nach Berlin
gezogen. Alle drei Ereignisse haben das
Selbstverständnis der Deutschen verän-
dert. Gibt es für Sie einen Zusammenhang
zwischen den Umbrüchen der Wende und
dem Erstarken der Rechtspopulisten?
Schäuble:Es gibt unbestreitbar diese Zu-
sammenhänge. Und ich gehöre auch nicht
zu denjenigen, die glauben, sie hätten im-
mer alles richtig gemacht. Soweit die CDU
in den letzten 40 Jahren auch Dummhei-
ten gemacht haben sollte, war ich dabei.
SPIEGEL:Sie haben als Innenminister der
Bundesrepublik den Einigungsvertrag aus-
gehandelt, die DDR mit abgewickelt. Wel-
che Fehler sehen Sie angesichts der jüngs-
ten Landtagswahlergebnisse?
Schäuble:Zu leicht darf man es sich nicht
machen bei der Fehleranalyse. Ein Vor-
wurf war ja, wir seien nicht vorbereitet ge-
wesen. Ja, wie hätten wir denn auf den
Fall der Mauer vorbereitet sein können?
Was wäre da los gewesen, wenn es gehei-
ßen hätte, die Bundesrepublik habe Pläne
zur Wiedervereinigung! Politik ändert sich
von Moment zu Moment, das hat schon
Bismarck gesagt. Man bereitet etwas vor,
aber dann kommt es ganz anders. Kohl
hat instinktiv richtig gehandelt, ist in
Europa achtsam aufgetreten und hat den
Menschen hier viel Hoffnung gemacht.
Heute könnte man vielleicht sagen, er hat
ihnen zu viel Hoffnung gemacht, aber von
einer spekulativen Rückabwicklung der
Geschichte halte ich nicht viel.
SPIEGEL:Lassen Sie es uns trotzdem noch
einmal versuchen: Hätte es, im Rückblick,
einen dritten Weg geben müssen? Eine
Autonomie der DDR?
Schäuble:Es sind jeden Tag Tausende,
wenn nicht Zehntausende in den Westen
gekommen. Wie hätte das gehen sollen?
Unsere Hauptaufgabe bis zur Währungs-
union war zu verhindern, dass die DDR
leerläuft. Viele wie Oskar Lafontaine und
andere Linke in Deutschland wollten keine
Wiedervereinigung, sie forderten sogar,
die Niederlassungsfreiheit in der Bundes-
republik auszusetzen, damit die Ostdeut-


schen zurückmüssen. Aber was wäre da-
raus für eine Stimmung entstanden, wenn
wir nicht klar gesagt hätten: Das kommt
nicht infrage. Richtig ist: Noch heute ge-
hört zu den Problemen im Osten nicht die
Immigration, sondern die Abwanderung.
Wir haben in den neuen Ländern den nied-
rigsten Bevölkerungsstand seit 1905.
SPIEGEL:Der Einigungsvertrag, den Sie
ausgearbeitet haben, gilt als juristisches
Meisterwerk. Aber sind damals vor lauter
Formalitäten die Fragen der Identität auf
der Strecke geblieben?
Schäuble:Wir hatten in diesen Tagen, Wo-
chen und Monaten so viel zu bedenken.
Die Mauer fiel an einem Donnerstag, und
ich musste damals als Innenminister zuse-
hen, dass wir das Wochenende organisiert
bekommen: Wir mussten genug Bargeld
haben für das Begrüßungsgeld, denn es

war klar, dass da ein paar Millionen Men-
schen kommen. Und wir mussten unsere
Autobahntankstellen mit der Mischung
versorgen, die die DDR-Zweitakter tank-
ten. Wir wollten doch nicht, dass die Tra-
bis liegen bleiben. Ein Hauptproblem war,
es hinzukriegen, dass nicht durch zu viel
Staus in den grenznahen Städten die Stim-
mung kippt. Das Wochenende war ein Fest
der Freude. Aber in den Mühen der Ebene
wird Politik bürokratisch, das ist halt so.
SPIEGEL:Heute setzen sich an vielen
Orten der Welt die autoritären Herrscher
durch, die Patriarchen. Sie scheinen in
einer Atmosphäre der Unabwägbarkeit
Sicherheit zu versprechen. Haben die Wäh-
ler dem damaligen Bundeskanzler Helmut
Kohl auch deswegen die Einheit zugetraut,
weil er rein physisch, als kräftiger, sehr
großer Mann, Sicherheit ausstrahlte?
Schäuble:Ein kleinerer Mann wie ich hät-
te es jedenfalls schwieriger gehabt. Kohls

machtvolles Auftreten hat einiges bewirkt.
Er war ein Elefant mit Samtpfoten, er ist
behutsam vorgegangen. Das Problem mit
den Populisten haben wir heute überall
auf der Welt, in Italien, Schweden, in den
Niederlanden, Spanien. Das Ergebnis der
Landtagswahlen hat also nicht nur etwas
mit der Wiedervereinigung zu tun.
SPIEGEL:Noch einmal zu den Phäno -
typen. Fehlt es Bundeskanzlerin Angela
Merkel an einer beschützenden Ausstrah-
lung, die Kohl auf seine Weise hatte? Sie
ist eine rationale Frau, eher nicht mütter-
lich. Auf den Marktplätzen im Osten ist
sie immer wieder angeschrien worden.
Schäuble:Also in der CDU heißt sie schon
lange »Mutti«, und wenn Sie sich an ihren
berühmten Satz »Wir schaffen das« erin-
nern, der klang doch auch mütterlich. In
Meinungsumfragen hat sie als Person hohe
Zustimmungswerte.
SPIEGEL:Woran liegt es dann, dass die
Stimmung im Osten so schlecht ist?
Schäuble:Kürzlich hat mir bei einer Ver-
anstaltung ein Professor gesagt, es sei so
viel besser geworden in den neuen Län-
dern. Da habe ich ihm geantwortet: Sie
haben in vielerlei Hinsicht recht, aber Sie
sind eben kein Ökonom. Die Ökonomen
und Sozialwissenschaftler wissen, dass es
bei der Frage, wie die Menschen sich füh-
len, nicht zuerst um objektive Werte geht,
sondern darum, wie es ihnen im Vergleich
zum Nachbarn geht. Im Schnitt geht es in
Deutschland allen viel besser als vor 30 Jah -
ren, aber es gibt immer noch Unterschiede
zwischen Ost und West. Und das bewirkt
bei manchen schlechte Stimmung.
SPIEGEL:Sie haben 1991 für den Umzug
von Bonn nach Berlin plädiert. Ihr Plädo -
yer im Parlament hat den Ausschlag für Ber-
lin gegeben. Was hatten Sie gegen Bonn?
Schäuble:Ich habe überhaupt nicht ver-
stehen können, wie man anderer Meinung
sein kann. Überall war doch festgehalten,
dass Bonn nur bis zu einer Wiedervereini-
gung Hauptstadt sein sollte. Und das sollte
dann auf einmal nicht mehr gelten? Die
Haltung in der Bundesrepublik war aber
doch überwiegend die: Wir helfen den Ost-
deutschen gern, aber in unserem eigenen
Leben soll und wird sich nicht viel ändern.
SPIEGEL:Ihre Zehn-Minuten-Ansprache
gilt als ein großer Moment des Parla -

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 39


Deutschland

»Bestimmt hat auch


mein Anblick im


Rollstuhl etwas bewirkt.


Der war da


noch ungewohnt.«


»Und immer war ich schuld«


SPIEGEL-GesprächMauerfall, Wiedervereinigung, Umzug nach Berlin – Wolfgang Schäuble, 77,
war maßgeblich beteiligt. Nicht alles sei gut gelaufen, sagt er,

das zeigten die Ostwahlen. Aber er habe noch Lust, es besser zu machen.

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