Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
mentarismus. Wie haben Sie sie vorbe -
reitet?
Schäuble:Ach, ganz wenig, ich wollte ja
eigentlich nicht reden. Ich hab den ande-
ren gesagt: warum immer ich? Aber ich
hatte mich in der Vorbesprechung in der
Fraktionssitzung so über die Bonn-Anhän-
ger geärgert, dass ich beim Rausgehen ent-
schieden habe: Ich halte die Rede. Und
dann habe ich mich hingesetzt, mir Kaffee
bringen lassen, eine Pfeife geraucht und
ein paar Stichworte aufgeschrieben.
SPIEGEL:Haben Sie während Ihrer Rede
gemerkt, wie sich die Stimmung änderte?
Schäuble:Ja. Ich sagte danach zu meinem
Sitznachbarn Klaus Kinkel, auch ein Ber-
lin-Anhänger: »Wenn wir jetzt abstimmen,
gewinnen wir.« Aber bestimmt hat auch
mein Erscheinungsbild etwas bewirkt.
Mein Anblick im Rollstuhl war noch un-
gewohnt, das Attentat kein Jahr her, und
ich sah noch recht mitleiderregend aus.
SPIEGEL:Die Debatte ging zwölf Stunden,
aber damit war das Umzugsthema noch
lange nicht erledigt.
Schäuble:In den Jahren darauf gingen
die Auseinandersetzungen erst richtig los.
Kein Abgeordneter wollte sich in Berlin
verschlechtern, die Quadratmeterzahl der
Büros sollte mindestens so groß sein wie
in Bonn. Dann folgten die Diskussionen
um den Reichstag: Machen wir eine Kup-
pel oder keine? Und immer war ich als
Fraktionsvorsitzender an allem schuld,
weil ich ja nach Berlin gewollt hatte. An
der Rheinbrücke in Bonn hing jahrelang
ein Plakat mit der Aufschrift: »Stoppt
Schäubles Wahnsinn«. Aber in der Som-
merpause 1999 sind wir dann endlich um-


  • Oben: am 11. November 1989; unten: Susanne Beyer
    und Melanie Amann in Berlin.


gezogen, und heute stellt niemand mehr
Berlin, diese tolle, internationale Stadt, in-
frage. Es ist die Stadt mit den meisten Be-
suchern aus Israel, und unser Parlaments-
gebäude ist das meistbesuchte der Welt.
SPIEGEL:Bonn war auch ein Zeichen von
Bescheidenheit. Wäre Deutschland wäh-
rend der Eurokrise so angegriffen worden,
wenn die Sparpolitik von einer kleinen
Stadt aus durchgesetzt worden wäre? Und
hätte es in der Bonner Republik den neuen
Nationalismus im Land so gegeben?
Schäuble:Ich glaube, mit Bonn als Haupt-
stadt wäre es nicht besser gewesen.
SPIEGEL:Der Umzug von Bonn nach Ber-
lin ist ja nie ganz vollzogen worden, in die-
sen Tagen gab es Schlagzeilen zu den Flü-
gen zwischen den Ministerien: Mehr als
200 000 Flüge legten Regierungsbeamte
2018 zurück – angesichts der Klimaangst
erschreckend. Wie ist die Pendelei in einem
längst vereinten Land zu rechtfertigen?
Schäuble:Unter dem Gesichtspunkt Nach-
haltigkeit ließe sich auch vieles andere in-
frage stellen. Aber Gesetze gelten. Ich weiß,
wie das Berlin-Bonn-Gesetz entstanden ist.
Als einer, der in der damaligen Debatte
eine gewisse Rolle gespielt hat, möchte ich

im verbleibenden Teil dieser Debatte keine
führende Rolle mehr spielen.
SPIEGEL:Die Berliner Republik beher-
bergt heute eine polarisierte Gesellschaft.
Rechtspopulisten sind erstmalig im Bun-
destag vertreten. Sie selbst sitzen seit 1972
im Bundestag – wie hat sich die Debatten-
kultur in den Parlamenten in letzter Zeit
verändert?
Schäuble:Lebhafter, gelegentlich auch ag-
gressiver ist es schon geworden. Die Deut-
schen mögen noch immer ein Grundbe-
dürfnis nach Harmonie haben, die Faszi-
nation parlamentarischer Demokratie geht
aber nicht von der Einigkeit aus, sondern
vom vernünftigen Streit in der Mitte. Das
gilt übrigens auch für Volksparteien. Sie
haben zwar die Aufgabe, widerstreitende
Interessen zu integrieren, das heißt aber
nicht, dass in ihnen deshalb nicht gestritten
werden sollte. Im Gegenteil.
SPIEGEL:Aber die Volksparteien haben
nun auch wirklich Probleme.
Schäuble:Die politische Landschaft ist
heute eben gespaltener. In Ostdeutschland
macht die AfD der Union die Position der
stärksten politischen Kraft streitig, in West-
deutschland die Grünen. Es wird im Übri-
gen nicht uninteressant zu beobachten sein,
ob und wie die Grünen mit diesem Maß
an Verantwortung zurande kommen.
SPIEGEL:Wie kann es sein, dass nach
einem doch merklichen Reifungsprozess
einer Nation nun wieder über die Gefähr-
dung ihrer größten Errungenschaft, der
Demokratie, diskutiert wird?
Schäuble:Angesichts unserer Vergangen-
heit ist das schlimm. Aber dennoch muss
ich wieder sagen: Es ist kein spezifisch
deutsches Problem. Denken Sie an Groß-
britannien, das Mutterland des Parlamen-
tarismus. Oder Amerika! Mir macht auch
das Sorge. Dazu gibt es nur eins zu sagen:
Wir müssen es besser machen, dann geht
es auch wieder. Die Demokratie ist klüger,
als wir das für möglich halten. Alle schau-
en gerade zu Putin, der meint, die liberale
Demokratie sei am Ende, und die Leute
fragen sich, ob er recht haben könnte. Ich
glaube aber, dass die Einsichten, die die
Menschheit in der europäisch zentrierten
Geschichte der letzten zweieinhalbtau-
send Jahre gewonnen hat, trotz aller Ir-
rungen richtig sind. Die meisten Menschen
auf der Welt, ob im Arabischen Frühling,
ob in Hongkong, ob in Russland, würden
am liebsten so leben wie wir. Nur wir zwei-
feln an unserem eigenen Modell. Ja, wa-
rum machen wir es dann nicht besser?
SPIEGEL:Sie sind hoffnungsvoll?
Schäuble:Ja. Im Urlaub habe ich in der
Kirche Sankt Severin in Keitum den Satz
gehört: »Am Ende wird alles gut. Und
wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende.«
SPIEGEL:Herr Bundestagspräsident, wir
danken Ihnen für dieses Gespräch.

40 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019

PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
Schäuble, SPIEGEL-Redakteurinnen*
»Die Demokratie ist klüger«

THOMAS RAUPACH
Autobahn 9 nach Grenzöffnung bei Hof*: »Wir wollten nicht, dass die Trabis liegen bleiben«
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