Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
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Deutschland

E


s war eine unangenehme Ansage,
die der Ständige Vertreter Deutsch-
lands bei der Europäischen Union
den Ministern der anderen Mitgliedslän-
der am Montagmittag im EU-Ratsgebäu-
de machte. Sein Land, so der Brüsseler
Topdiplomat Michael Clauß, wolle nicht,
dass das EU-Budget für die nächsten Jahre
über ein Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts hinauswachse.
Für manche Minister im Speisesaal war
das eine alarmierende Botschaft: Deutsch-
land ist nicht bereit, erheblich mehr Geld
als bisher in die EU zu pumpen. Das klang
vor anderthalb Jahren noch ganz anders.
Damals hatte die schwarz-rote Bundesre-
gierung in ihrem Koalitionsvertrag groß-
zügig versprochen: »Wir sind zu höheren
Bei trägen Deutschlands zum EU-Haushalt
bereit.« Weil sich die Konjunkturaussich-
ten eintrüben, wurden sich Union und
SPD schnell einig, die Ein-Prozent-Grenze
einzuziehen – auch wenn sie damit die EU
unter Stress setzen.
Der »MFR«, wie der mehrjährige Fi-
nanzrahmen im EU-Sprech heißt, legt in
Grundzügen fest, wofür die Europäer im
kommenden Jahrzehnt Geld ausgeben
wollen und können. Insgesamt sind mehr
als eine Billion Euro zu verteilen. Damit
will die EU etwa von 2021 an sieben Jahre
lang beispielsweise Landwirte unterstüt-
zen und dafür sorgen, dass Kohlekumpel
neue Jobs finden. Zudem soll es mehr Geld
für den Kampf gegen den Klimawandel
geben, Forschungsprojekte sollen ange-
schoben werden.
Zum Start der heißen Phase der Ver-
handlungen über das Budget liegen die
Vorstellungen der EU-Mitglieder jedoch
weit auseinander. Das geht aus einem
Bericht hervor, den Clauß nach Berlin
schickte. Das fünfseitige Papier (»VS – nur
für den Dienstgebrauch«) über das ver-
trauliche Mittagessen im Ratsgebäude gibt
einen seltenen Einblick in die Brüsseler
Verhandlungsdynamik. Was das künftige
Volumen des Haushalts anbelangt, reichte
die Spanne der Wünsche von 1 bis 1,11 Pro-
zent des EU-Bruttoinlandsprodukts. Das
klingt wie eine winzige Differenz, aber in
absoluten Zahlen geht es um rund 110 Mil-
liarden Euro.


»Einige Mitgliedstaaten forderten aller-
dings in der Sitzung explizit ein noch hö-
heres Volumen«, schrieb der Diplomat an
Auswärtiges Amt und Kanzleramt. »Ich
machte deutlich, dass das Volumen des
MFR auf ein Prozent begrenzt werden
muss.« Zudem betonte er, dass Deutsch-
land auch nicht auf seinen Beitragsrabatt
verzichten werde. Einen solchen handel-
ten die Deutschen wie andere EU-Länder
aus, nachdem die damalige britische Pre-
mierministerin Margaret Thatcher einen
Abschlag bei den Zahlungen ihres Landes
durchgesetzt hatte. »Ich unterstrich, dass
eine Einigung auf den künftigen MFR
nicht ohne Rabatte denkbar sei«, schreibt
Deutschlands EU-Chefdiplomat.
Die Ansagen aus Berlin könnten auch
die künftige EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen in Schwierigkeiten

bringen. Sie hatte vor ihrer Wahl teure
Versprechungen gemacht, etwa die Zahl
der Erasmusstipendien zu verdreifachen
(SPIEGEL31/2019). Das dürfte erst mal
schwieriger werden.
Mangelnde Solidarität mit ärmeren
Ländern wollen sich die Deutschen trotz-
dem nicht vorwerfen lassen. Sie verweisen
darauf, dass die Summe, die Berlin nach
Brüssel überweist, steigen wird, selbst
wenn sich die Bundesregierung am Ende
mit ihrem Ein-Prozent-Ziel durchsetzt.
Denn bald ist Großbritannien, ein großer
Beitragszahler, wohl nicht mehr EU-Mit-
glied, die Lücke müssen die anderen aus-
gleichen.
»Ein Prozent bedeutet, dass Deutschland
jährlich zehn Milliarden Euro mehr beitra-
gen müsste, und dies trotz sich abkühlen-
der Konjunktur«, sagte Diplomat Clauß

bei dem Treffen. Das Ergebnis: Jeder vierte
Euro, den die EU künftig ausgibt, könnte
bald aus Deutschland stammen.
Unterstützung für den Wunsch, nicht
noch mehr zahlen zu müssen, erhielt die
Bundesregierung von Schweden, den Nie-
derlanden und Dänemark. Heftige Kritik
kam dagegen vor allem von Ländern, die
mehr aus dem EU-Haushalt erhalten, als
sie einzahlen. Ausgerechnet die Ungarn
unter ihrem EU-kritischen Premier Viktor
Orbán moserten, das deutsche Limit sei
inakzeptabel. Ihnen passt auch nicht, dass
Länder wie Deutschland die Auszahlung
von EU-Geldern künftig daran knüpfen
wollen, dass die Empfänger rechtsstaatli-
che Grundsätze einhalten.
Der tschechische Vertreter meinte, die
Bürger könnten die Freude an Europa ver-
lieren, wenn nicht noch mehr Geld als bis-

lang aus Brüssel käme: »Die Zustimmung
zur EU« werde sinken. Auch Frankreich
mahnte an, die »Gelder für Bürger dürfen
nicht gekürzt werden«.
Mitte Oktober wollen sich die Staats-
und Regierungschefs zum Milliarden poker
treffen, einer Einigung aber wird man
wohl erst Ende 2020 näher kommen.
Dann übernimmt Deutschland turnus -
gemäß die Führung im Rat.
Heftige Kritik am deutschen Kurs üben
die Grünen. »Deutschlands Ein-Prozent-
Ziel in Brüssel wird zum noch viel ver -
heerenderen Dogma als die schwarze Null
in Berlin«, sagt Franziska Brantner, die
europapolitische Sprecherin der Grünen
im Bundestag. »Ein Aufbruch für Europa
ist das nicht.«
Peter Müller, Christian Reiermann

Alarmierende


Botschaft


EuropaDie Bundesregierung
irritiert andere EU-Mitglieder:
Berlin will die deutschen

Zahlungen künftig klar begrenzen.


HAYOUNG JEON / EPA-EFE / REX
Koalitionspartner Scholz, Merkel: Jeder vierte Euro könnte aus Deutschland kommen
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