Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Wenig später wurde die Stadt durch
den Mord an Maria L. erschüttert. Der
Afghane Hussein K. tötete die Studentin
am Ufer der Dreisam. Das Opfer war mit
dem Fahrrad auf dem Rückweg von einer
Party, der Täter war zuvor in einer Bar in
der Freiburger Innenstadt gewesen und
hatte dort Frauen angesprochen. Später
wurde K. zu einer lebenslangen Freiheits-
strafe verurteilt, mit möglicher anschlie-
ßender Sicherungsverwahrung.
Im Fall der mutmaßlichen Gruppenver-
gewaltigung ist die Aufklärung kompli-
ziert. Rund 50 Zeugen sollen vor Gericht
gehört werden, mehrere Gutachter zu
Wort kommen.
Zu der Frage, was sich im Gebüsch ab-
spielte, gibt es verschiedene Aussagen.
Manche gleichen, andere widersprechen
einander. Klar ist, dass ein Großteil der
Zeugen und Angeklagten sowie das mut-
maßliche Opfer unter Alkohol- und Dro-
geneinfluss standen. Aus einer ersten Re-
konstruktion auf der Basis von internen
Ermittlungsakten, Prozessbesuchen und
Experteninterviews lassen sich konkrete
Rückschlüsse auf den Ablauf der Oktober-
nacht ziehen.
Nachdem die damals 18-Jährige die
Ecstasy-Pille eingeworfen hatte, war sie
für kurze Zeit noch bei klarem Verstand.
Eigentlich gehe sie lieber »auf Dorffeste
als auf Partys«, wird ihre Freundin später
über sie sagen. Erfahrungen mit Drogen
hatte sie kaum. Aber in jener Nacht lan-
deten die beiden jungen Frauen in dem
Elektroklub in einem Freiburger Industrie-
gebiet, auf der Technoparty »Umsonst und
Drinnen«.


Die Pillen waren überdosiert, sie ent-
hielten 160 Milligramm der stimulierenden
Substanz MDMA. Die übliche Dosierung
einer Tablette liege bei 100 bis 120 Milli-
gramm, darüber fange der Hochdosisbe-
reich an, sagt der Pharmakopsychologe
Boris Quednow von der Universität Zü-
rich: »Die Substanz lässt soziale Schran-
ken fallen und schafft eine künstliche emo-
tionale Nähe.« Rationales Denken falle
unter MDMA-Einfluss schwer, so der Ex-
perte, das Risikobewusstsein sinke, vor al-
lem bei sehr hohen Dosierungen.
Die damals 18-Jährige erklärte später,
sie sei an jenem Abend leichtsinniger ge-
wesen als sonst, als sie mit Majd H. den
Klub in Richtung Gebüsch verließ. Dann
muss die Wirkung der überdosierten Pille
sie mit voller Wucht getroffen haben.
Das mutmaßliche Opfer gibt an, zum
vaginalen und oralen Geschlechtsverkehr
gezwungen worden zu sein. Die Angeklag-
ten erinnern sich unterschiedlich. Einige
sprechen von einvernehmlichem Sex, an-
dere sagen aus, nicht mit der Frau geschla-
fen zu haben. Letztere beschreiben die
Situation und das Verhalten der damals
18-Jährigen als merkwürdig. Sie wollen
ein mulmiges Gefühl gehabt und das Ge-
büsch sofort wieder verlassen haben.
Die Staatsanwaltschaft geht indes davon
aus, dass sich zwischen 0.30 und etwa
3 Uhr jeder der elf Männer an der Frau ver-
ging. Laut ihrer eigenen Aussage soll Majd
H. ihr zuvor K.-o.-Tropfen in den Long-
drink gemischt haben, Belege dafür fehlen.
Im Freiburger Prozess begleiten Justiz-
beamte die an Händen und Füßen gefes-
selten Angeklagten in den Saal. Die Ketten

klirren und erlauben nur kleine Schritte.
Die Handfesseln werden gelöst, sobald die
Männer sitzen. Die Fußfesseln bleiben
dran. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, weil
einer der Angeklagten einen Termin vor
dem Haftrichter zu einem Fluchtversuch
genutzt hatte.
Vor Gericht äußern sich nur zwei Ange-
klagte zu den Vorwürfen: der Beschuldigte
Majd H. und sein Freund Timo P. Sie be-
streiten wie alle anderen Angeklagten die
Vorwürfe. Laut Timo P. bat Majd H. ihn
um Hilfe: »Ein Mädchen ist drauf und will
Sex«, habe H. zu ihm gesagt. P. solle sie
überzeugen, zurück in den Klub zu gehen.
Im Gebüsch habe er die erweiterten Pu-
pillen der Frau bemerkt, so P., ein mögli-
ches Symptom der Ecstasy-Pille. Erfahrun-
gen mit Drogen hat der heute 26-Jährige
reichlich. Mit 11 Jahren habe er das erste
Mal gekifft, erzählte er vor Gericht. Seit
seinem 14. Lebensjahr nehme er täglich
Drogen: Marihuana, Speed, Ecstasy, Ko-
kain. Auch in jener Oktobernacht habe er
gekifft, gekokst und eine Menge Alkohol
getrunken.
P. behauptet, die Frau habe ihn verführt.
Er sei schwach geworden und habe sich
oral befriedigen lassen. Danach habe die
Frau im Gebüsch bleiben wollen. Der 26-
Jährige hält die Anklage für ein Missver-
ständnis. Er sei kein Vergewaltiger, sagte
er vor Gericht: »Es wird immer so darge-
stellt, als wären wir alle wie Monster über
sie hergefallen, aber so war es gar nicht.«
Für seine Version könnte sprechen, dass
er sich nach der mutmaßlichen Tat freiwil-
lig bei der Polizei meldete. Wenn er etwas
falsch gemacht habe, sagte P. vor Gericht,

Fotos: Patrick Seeger / DPA 53


Fußfesseln eines Angeklagten, Straße vor dem Klub Hans-Bunte-Areal, Richter Bürgelin: Die öffentlichen Erwartungen sind groß
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