Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

dann sei es dies: »Ich bin meiner Freundin
fremdgegangen. Das ist scheiße.«
Der Vorsitzende Richter Stefan Bür -
gelin entgegnete, dass auch der sexuelle
Missbrauch eines widerstandsunfähigen
Menschen eine Vergewaltigung sein könne.
Darauf P.: Die junge Frau sei nicht hilflos
gewesen, »sie hätte einfach aufstehen kön-
nen, wenn sie es gewollt hätte«. Andere
schilderten der Polizei gegenüber die Si-
tuation im Gebüsch diffuser. Die Frau habe
gewimmert und sei »nicht normal« gewe-
sen. Sie habe auf dem Boden gelegen und
nach Männern gerufen.
Wirkt die Ecstasy-Substanz MDMA se-
xuell anregend? Der Pharmakopsychologe
Quednow antwortet darauf nur mit Ein-
schränkungen: MDMA habe keine direkte
sexuell enthemmende Wirkung, die Libido
werde gewöhnlich nicht gesteigert. Eine
Überdosierung in Kombination mit Alko-
holkonsum oder der Einnahme von K.-o.-
Tropfen könnte jedoch eine größere sexu-
elle Begierde zur Folge haben.
Die damals 18-Jährige sprach im Rahmen
der Ermittlungen von einer Schockstarre.
Sie sei wie gelähmt gewesen, habe sich nicht
wehren können und immer wieder Nein
gesagt. Zu ihrer Freundin soll sie später ge-
sagt haben, sie habe sich »in einer Art
Rausch« befunden. Das habe ihr geholfen,
die Übergriffe teilweise auszublenden, sie
»nicht ganz live« mitzubekommen.
Eine Rechtsmedizinerin fand Abschür-
fungen, Kratzer und Hämatome an ihrem
Körper. An einem Oberarm habe sich ein
Bluterguss gebildet, laut einem Ermittler
eine typische Verletzung nach einem ge-
waltsamen Griff. An den Körpern man-
cher Tatverdächtiger wurden Kratzspuren
festgestellt. Zudem sicherte die Polizei
Spermaspuren an der Kleidung der Frau.
Kratzspuren und Sperma beweisen aller-
dings für sich genommen keine Vergewal-
tigung.
Im Prozess tritt die Frau als Nebenklä-
gerin auf. Unter Ausschluss der Öffentlich-
keit wurde sie in einem geschützten Raum
vernommen. Dazu hatte auch der hanno-
versche Psychiater Torsten Passie geraten,
der sie für den Prozess begutachtete. Sie
habe zwar keine posttraumatische Belas-
tungsstörung, so Passie, sei aber psychisch
verletzlich.
Die junge Frau identifizierte neben
Majd H. noch einen zweiten Mann. Er soll
kurz nach 3 Uhr das Gebüsch betreten ha-
ben. Erst da sei sie wieder zu sich gekom-
men. Muhanad M., ein damals 20-jähriger
Syrer, soll sie aufgefordert haben: Sie müs-
se sich jetzt anziehen und mitkommen.
Die Frau folgte ihm zu einem Parkplatz in
der Nähe, wo er zwei Bekannte traf.
Später sagte sie aus, sie habe sich von
Muhanad M. beschützt gefühlt. Sie hätten
sich an den Händen gehalten, er habe sie
umarmt, alles freundschaftlich. Aus jenen


Minuten auf dem Parkplatz stammt ein
wichtiges Beweismittel der Oktobernacht.
Es sind Mitschnitte zweier Telefongesprä-
che, die M. mit Freunden geführt hat. Auf-
gezeichnet wurden sie, weil M. eine App
installiert hatte, die seine Telefonanrufe
aufnahm. Weil das Programm schon wäh-
rend des Wählvorgangs lief, ist auch die
Stimme der jungen Frau zu hören.
Die Aufnahme klingt mechanisch, fast
scheppernd: »Du bist so ein unglaublich
guter Mensch. Du bist wirklich ein Engel«,
sagt sie: »Für mich bist du ein absoluter
Held. Du hast mir echt geholfen und das
aus reiner Menschlichkeit. Wirklich.« In
einer zweiten Aufnahme sagt Muhanad
M., dass er bei ihr bleiben werde, bis es
ihr gut gehe: »Vielleicht brauchst du Hilfe.«
Die Frau klagt über Nackenschmerzen. Sie

fragt, womit sie das alles gerade verdient
habe, sie fühle sich entehrt.
Unterdessen suchte die Freundin nach
ihr. Sie stieß wenig später zu der Gruppe
auf dem Parkplatz. Die damals 18-Jährige
habe sie zur Seite genommen, von Verge-
waltigung gesprochen und sei zusammen-
gesackt. Sie habe geschrien, geweint. Die
Anwesenden bestätigen zum Teil den
verzweifelten Zustand des mutmaßlichen
Opfers. Auf andere wirkte sie, den Aussa-
gen zufolge, verwirrt und nervös.
In den frühen Morgenstunden begleite-
ten die damals 18-Jährige und ihre Freun-
din Muhanad M. in seine Flüchtlingsunter -
kunft. Die junge Frau wollte zum Schlafen
dorthin, warum, kann ihre Freundin vor
Gericht nicht erklären: »Ich war dagegen.
Aber ich dachte, bevor sie alleine wegläuft,
gehe ich auf jeden Fall mit.« Möglicher-
weise wurde die Entscheidung durch den
immer noch nachwirkenden Drogenrausch
beeinflusst. Später berichteten alle drei,
dass die beiden Frauen für ein paar Stun-
den im Bett des Mannes schliefen, wäh-

rend er selbst auf einer Matratze auf dem
Fußboden lag.
Gegen 10 Uhr verließen die Freundin-
nen die Unterkunft und fuhren in einen
Ort nahe Freiburg. Dort erstattete das mut-
maßliche Opfer Anzeige.
Ein knappes Jahr später sitzt auch Mu-
hanad M. auf der Anklagebank des Frei-
burger Landgerichts. Aus dem vermeintli-
chen Helfer ist ein Angeklagter geworden,
auch weil Timo P. ihn belastete. P. hatte
bei den Ermittlern ausgesagt, M. habe ihm
vor einer polizeilichen Befragung auf dem
Flur des Reviers verraten, mit der Frau ge-
schlafen zu haben. M. bestreitet dies, er
kenne P. überhaupt nicht.
Der Verteidiger von M., Jan-Georg
Wennekers, kritisiert, dass das Verfahren
wegen der starken Aufmerksamkeit von
Politik und Medien unter einem massiven
Ergebnisdruck stehe. Das gefährde eine
faire Prozessführung. Gegen seinen Man-
danten und weitere Angeklagte habe es
im Gefängnis »krasse körperliche Über-
griffe« gegeben.
Nicht nur die Angeklagten stehen im
Fokus. Ihre Verteidiger erhalten Morddro-
hungen. Der öffentliche Druck prägt allem
Anschein nach auch das Verfahren. Zu Be-
ginn entstand der Eindruck, als wäre das
Gericht etwas zu sehr an einer schnellen
Aufklärung interessiert. Deshalb beschwer-
ten sich die Anwälte über die Prozessfüh-
rung: Der Vorsitzende Richter Bürgelin
klebe an den Protokollen und befrage die
Zeugen nicht geduldig genug. Er trete auf,
als wolle er nur die Ermittlungsergebnisse
von Polizei und Staatsanwaltschaft verifi-
zieren – obwohl einige Zeugen von ihren
ursprünglichen Aussagen abwichen oder
sie sogar widerriefen.
Am neunten Verhandlungstag stellte
eine Verteidigerin schließlich einen Befan-
genheitsantrag gegen Richter Bürgelin.
Dieser wirke, als wollte er »das Verfahren
um jeden Preis mit größtmöglicher Ge-
schwindigkeit durchführen«. Ihr Mandant
zweifle an der Objektivität und Unvorein-
genommenheit des Vorsitzenden Richters.
Später zog die Anwältin den Antrag
zurück, Wirkung zeigte er trotzdem. Das
Gericht nahm sich fortan mehr Zeit für
die Zeugenbefragungen. Am kommenden
Montag geht der Prozess weiter. Noch bis
Ende Dezember sind Verhandlungstage
terminiert. Dass sich bis dahin klären lässt,
was im Gebüsch passierte, ist unwahr-
scheinlich.
Das mutmaßliche Opfer kämpft noch mit
den Folgen. Laut ihrer Anwältin leidet die
Frau seit der Tatnacht unter Schlafstörun-
gen, sie meidet Menschenansammlungen.
Felix Bohr, Sarah Heidi Engel,
Jan Friedmann, Wiebke Ramm
Mail: [email protected],
[email protected]

54 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019

Deutschland

Kundgebung in Freiburg 2018
Aufgewühlte Stimmung
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