Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
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Deutschland

F


rauen haben in Deutschland viel
erreicht. Seit 1918 dürfen sie wäh-
len, seit 1949 sind sie Männern im
Grundgesetz gleichgestellt. Seit 14 Jahren
regiert eine Kanzlerin, auch die Bundes-
wehr wird von einer Ministerin komman-
diert. Doch wer glaubt, die Emanzipa -
tionsbewegung hätte längst das ganze
Land erfasst, kennt sich nicht mit schwä-
bischen Brauchtümern aus.
Blutfreitag in Weingarten? Mehr als
2000 Männer reiten am Tag nach Christi
Himmelfahrt in Frack und Zylinder hinter
einer Reliquie her, angeblich einem Bluts-
tropfen von Jesus Christus. Und die Frau-
en? Sie dürfen dem Tross als Pilgerinnen
folgen.
In Memmingen hüpfen jedes Jahr im
Sommer frühmorgens tausend Kerle mit
Kescher in den Stadtbach. Wer die dickste
Forelle fängt, der ist der König. Königin-
nen gibt es in Memmingen nicht. Und in
Ravensburg schließen manche Trommler-
gruppen an den Gymnasien die Mädchen
aus.
Gegen die folkloristischen Männerbas-
tionen regt sich in der Region mittlerweile
vielfach Widerstand. Doch der Widerwille
gegen Veränderungen ist groß.
Wie groß, musste eine Frau in Memmin-
gen erleben, die auch gern einmal eine
fette Forelle fangen wollte. Zwei Jahre in
Folge stellte sie beim Fischertagsverein
einen Antrag auf Teilnahme – zweimal
wurde er abgelehnt. Nun ist sie vor Gericht
gezogen, es geht ums Prinzip. Deshalb
lässt sie sich von Susann Bräcklein vertre-
ten, jener Anwältin, die kürzlich versucht
hatte, eine Neunjährige in den Berliner
Staats- und Domchor einzuklagen – einen
Knabenchor.
Die Juristin ist damit zwar vorerst ge-
scheitert. Das Recht auf Kunstfreiheit
wiege in diesem Fall stärker als das Recht,
sich gegen eine Diskriminierung zu weh-
ren, argumentierte das Berliner Verwal-
tungsgericht. Trotzdem ist nun zumindest
der Leipziger Thomanerchor bereit, das
Mädchen vorsingen zu lassen.
Um Diskriminierung zu rechtfertigen,
brauche es sachliche Gründe, erklärt
Anwältin Bräcklein. »Die sind beim Chor


umstritten. Für das Frauenverbot beim
Fischen gibt es gar keine.« Der Fischer -
verein berufe sich auf die Tradition. Diese
sei allerdings nur »ein historisches Fak-
tum« und könne nicht als Begründung
für den Ausschluss der Frauen angeführt
werden.
Bereits vor zwei Jahren hat der Bundes-
finanzhof entschieden, dass es rechtens
war, einer Freimaurerloge die Gemeinnüt-
zigkeit zu entziehen, weil sie keine Frauen
zuließ. Damit entfiel auch die damit ein-
hergehende Steuervergünstigung für die
Loge. Sollte das Memminger Gericht zu-
gunsten der Frauen entscheiden, wäre dies
ein weiteres positives Signal für all jene,
die solche traditionellen Männerdomänen
nicht mehr akzeptieren.
Aus Angst vor Beschimpfungen möchte
die Memminger Feministin ihren Namen
lieber nicht gedruckt lesen. Zwei Ravens-
burger können bestätigen, dass ihre Sor-
gen nicht unberechtigt sind.
Moritz Fischinger und Tim Rosenbohm
trommelten 2012 einst selbst beim fünf -
tägigen Rutenfest, dessen Tradition meh-
rere Jahrhunderte zurückreicht. In diesem
Jahr allerdings kamen die beiden ins
Grübeln, als sie mit einer Freundin über
Frauenfeindlichkeit im regio nalen Brauch-
tum redeten. In einem Leserbrief an die
»Schwäbische Zeitung« forderten sie, man
möge »jungen Frauen und Mädchen an
den Ravensburger Schulen nicht weiter die
Teilhabe an den Trommlergruppen« ver-
wehren.
Die Reaktionen auf den Vorstoß waren
heftig. Als Nestbeschmutzer und Wichtig-
tuer seien sie beschimpft worden, berichtet
Lehramtsstudent Fischinger. Rosenbohm
ist Jurist. »Wir haben von Freunden sogar

gehört, dass man uns eine Tracht Prügel
angedroht hat«, sagt er.
Auch viele Leserinnen und Leser der
»Schwäbischen Zeitung« zeigten sich
erbost über den Vorstoß der beiden. Von
»postmodernem Wahnsinn« und«gru -
seligen Argumenten« ist in den Kom -
mentarspalten unter den Onlineartikeln
zum Thema die Rede. »Männer mischen
sich auch nicht bei Thermomix-Abenden
ein«, schrieb ein Leser. Eine Ravensbur -
gerin echauffierte sich, sie »gönne den
jungen Damen die Blasen an den Hän-
den«. Die Trommelei bedeute wenig
Schlaf, und bei Hitze verlaufe das Make-
up. Tradition müsse man »auch aushalten
können«.
Fischinger und Rosenbohm indes glau-
ben nach wie vor daran, dass auch bei den
Brauchtumsstrapazen Gleichberechtigung
herrschen sollte. Sie haben deshalb nicht
nur an alle Schulleitungen der Gymnasien
geschrieben und um Stellungnahme gebe-
ten, sondern auch an den Schülerrat. An-
fang des kommenden Jahres stehen die
nächsten Wahlen für die Trommelgruppen
an. »Die Veränderung muss von innen
heraus kommen«, sagt Rosenbohm.
Einen ersten Erfolg konnten die Ravens-
burgerinnen vor einigen Jahren immerhin
für sich verbuchen. Lange Zeit war das
sogenannte Adlerschießen den Jungs am
Gymnasium vorbehalten. Seit 2003 dür-
fen auch Schützinnen die Armbrust anle-
gen. Allerdings nur in einem getrennten
Wettbewerb mit einem eigenen hölzernen
Adler – und erst dann, wenn der letzte
männliche Schütze geschossen hat.
Katrin Elger
Mail: [email protected]

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DiskriminierungSchwäbische
Frauen dürfen alles –
außer das Brauchtum pflegen.
Das wollen sie sich
nicht länger gefallen lassen.

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Rutenfest-Trommler in Ravensburg: Gleichberechtigung bei den Strapazen
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