Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

62


Gesellschaft


Schnell und günstig auf die Hand, das ist eine deutsche Konstante.‣S. 64

Tierwelt


Zi-zi-zi-zi-zi-üüüüh!


Peter Berthold, 80, ist Verhaltensforscher
und einer der bekanntesten
Vogelkundler Deutschlands.


SPIEGEL:Herr Berthold, die britische
Regierung hat kürzlich einen »Reasonable
Worst Case«-Plan aufgestellt, einen
Notfallplan für einen chaotischen Brexit.
Sie hat diesen Plan »Operation Yellow -
hammer« genannt.
Berthold:Yellowhammer, das ist
die Goldammer, die ist hart im
Nehmen. Sie hat das Glyphosat über -
standen und ist früher auch gern
verspeist worden.
SPIEGEL:Ein kleiner, gelber Singvogel
mit zimtbraunem Bürzel.


Berthold:Mit auffällig gelb schimmern-
dem Kopfgefieder. Und leicht zu er -
kennen an seinem hämmernden Ruf Zi-zi-
zi-zi-zi, gefolgt von einem längeren, etwas
tieferen Üüüüh.
SPIEGEL:Theoretisch könnte mit Yellow -
hammer auch der nordamerikanische
Goldspecht gemeint sein, Colaptes
auratus auratus, ein Wesen, das
gern und ausdauernd mit dem
Kopf gegen Stämme stößt.
Berthold:Ich las, es sei ein
Singvogel gemeint, und da
kommt nur die Goldammer
infrage. Im althochdeutschen
Wort »Ammer« klingt das
Hämmern ja mit. Der gelb-
lich schimmernde Behämmer-
te – das würde die Sache gut
treffen.

SPIEGEL:Der Kriegspremier Winston
Churchill hatte weniger tierische Deckna-
men für seine Operationen: »Unthinkable«,
»Dynamo«. Das waren er freulich klare
Angaben. Was ist mit Großbritannien los?
Berthold:Mir ist es ein absolutes Rätsel,
wie eine ehemals so stolze Nation
sich solch einen Vogel als Pre -
mierminister nehmen kann.
Irrland!
SPIEGEL:Wäre der Ärmelkanal
ein unüberwindliches Hindernis für
eine Goldammer?
Berthold:Die Goldammer ist ein
Stand-, kein Zugvogel. Aber man hat
schon plötzliche Verhaltensänderun -
gen erlebt. Nicht ausgeschlossen, dass
britisch beringte Goldammern bald
in Schwärmen das Weite suchen. Es sind
ja intelligente Tiere. SMO

Nº 194: Godzilla


Früher war alles schlechter


1954 war
das Monster
Godzilla 50
Meter hoch.

Mitte der
Achtziger-
jahre waren
es 80 Meter.

2019 erreicht
das Tier eine
Höhe von
120 Metern.

Angstlust ist das Geheimnis von Gruselfilmen. Kinomonster
sind dazu da, wohligen Schauder hervorzurufen, und ein an -
ständiges Monster, da sind sich Kinogänger von jeher einig, hat
groß zu sein – je größer das Monster, desto schöner der Schre-
cken. Ein besonders langlebiges Exemplar ist Godzilla, bekannt
aus inzwischen 35 Filmen, in denen die Echse eine interessante
Entwicklung nimmt: Im neuesten Kinofilm (»King of the Mons-
ters«) ist sie mit 120 Metern mehr als doppelt so groß wie im ers-
ten aus dem Jahr 1954 (50 Meter). Als »Ikone« sehen die ameri-
kanischen Biologen Nathaniel Dominy und Ryan Calsbeek das
Tier, ein Spiegelbild seiner jeweiligen Zeit. Godzillas Zeit
beginnt unmittelbar nach einem amerikanischen Atomtest auf
dem Bikini-Atoll, der ein japanisches Fischerboot und dessen


Mannschaft schwer verstrahlt. Godzilla wird erfunden als Antwort
auf diesen Vorfall, von Anfang an stampft er als Metapher durch
die Welt – mal schwingt die Angst vor einer nuklearen Verseu-
chung mit, mal die Angst vor Gentechnologie, einmal geht es um
Klima wandel, ein andermal um Artensterben. Es sind diffuse oder
gar unsichtbare Schrecken; das Monster hat den Vorteil, sichtbar
zu sein. Und damit bekämpfbar. Je angstvoller die Zeiten, desto
größer Godzilla, meinen nun Dominy und Calsbeek in ihrem Auf-
satz im Wissenschaftsblatt »Science«. Und desto wichtiger
womöglich die Botschaft, die das Monster mit sich bringt: Eben
weil Godzilla beinah unbesiegbar sei, so die These der Autoren,
begreife die Menschheit in den Filmen, dass sie zusammenhalten
muss – »eine Lektion für unsere Zeit«[email protected]
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