Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Optimismus. Das Land stottert,hatte ich
2004 geschrieben.
An der nächsten Station, am Alten Zoll-
krug in Schneverdingen, Ortsteil Winter-
moor, ist aus dem Stottern Stillstand ge-
worden. Der Pächter Michael Mroczko
hatte es damals mit dem Verkauf von Gar-
tenzwergen, Bambis und gelackten Hun-
den versucht. Er hatte investiert und aus
dem Imbiss ein Gasthaus gemacht; als ich
ihn traf, sprach er sich Mut zu. Jetzt liegen
Steine im Vorgarten und morsche Bretter,
es wächst Löwenzahn. Ein neuer Pächter
wird gesucht. Seit 2004 ist die Zahl der
Privatinsolvenzen in Deutschland steil
gestiegen und dann wieder gesunken; sie
liegt noch immer elf Prozent höher als
damals.
Dafür ist Walter Lechner noch da, selbst
ernannter »Baron zu Romkerhall«, 85 Jah-
re alt mittlerweile. Im Garten hinterm Zoll-
krug springt er in Tracht aus seiner Holly-
woodschaukel, rote Weste, weißes Ober-
hemd. »Da haben Sie mal wieder Glück!«,
sagt er. So hatte er mich 2004 schon begrüßt.
Hinter dem Zollhaus liegt sein kleines
Schloss, rosafarben, mit Erkern, umwach-
sen von Rosen, renovierungsbedürftig das
Ganze, aber das war es damals auch schon.
Lechner war mal »Stararchitekt«, wie er sagt.
Neben ihm sitzt Helga und raucht L & M.
Helga soll die Koffer holen mit den Doku-
menten. Lechner will Beweise vorlegen,
weil manche sagen, er sei gar kein Baron,
nur ein Betrüger.


Helga, Mitte sechzig, holt die Koffer,
einen nach dem anderen. Sie hat Lechner
vor drei Jahren in einem Café in Walsrode
kennengelernt. Bis dahin lebte Helga ein
normales Leben, fuhr den Bus im Seren-
geti-Park und war Hausfrau.
»Edelfrau«, sagt Lechner.
Und ihr früherer Mann?
»War bei der Müllabfuhr«, sagt sie. Sie
hat ihn zu Hause gepflegt bis zuletzt.
Lechner will zur Politik nichts sagen, er
lebt, mitten in Deutschland, ein Leben, das
von Deutschland kaum berührt wird. Das
wird einer der Eindrücke dieser Reise sein:
Viele haben sich zurückgezogen, Lechner
in ein rosa gestrichenes Märchenschloss,
andere in sich selbst. Die, bei denen es
läuft, denken, es läuft wegen ihnen. Die,
bei denen es nicht läuft, denken, es läuft
wegen der Politik nicht.
»Merkel lässt die armen Leute arm«,
sagt Lechner, als wolle er der Besucherin
zum Abschied eine Freude machen. Er
schlägt das eine Bein über das andere, im
Stoff ist ein Loch zu erkennen.
Helga raucht am Beet und sagt: »Un-
kraut kann auch schön blühen.«

Ein kleines Pils
Es geht weiter, keine 500 Meter hinter
der Märchenwelt wartet der Wirt vom
Hof Barrl auf Gäste. Ein Familienbetrieb
in dritter Generation. Marcus Wacht-
mann, 40, arbeitet 18 Stunden am Tag,
morgens um vier Uhr fährt er zum Groß-

markt, abends verlässt er als Letzter die
Küche.
Wie läuft’s?
»Noch mehr Arbeit durch noch mehr
Vorschriften«, sagt er. Zählt auf, was neu
ist. Allergenenmappe, Hygienevorschrif-
ten, HACCP, die Bezeichnungen bei den
Getränken, die Sulfite bei den Weinen.
Erleichterungen seit 2004?
Er überlegt. Es ist so still im Haus, dass
man die Pumpe vom Aquarium hört.
»Eigentlich keine.«
Die Wirtschaft in Deutschland wächst
im zehnten Jahr in Folge. In der Gast -
stube sitzen zwei Männer vor ihrem klei-
nen Pils.

Therapieecke
497 Einwohner hatte Dehnsen, ein Ortsteil
von Alfeld, im Jahr 2004, 2019 sind es nur
noch 395.
Die freiwillige Feuerwehr in Dehnsen
veranstaltet jeden ersten Sonntag im Mo-
nat einen Frühschoppen für Rentner,hatte
es damals geheißen. Den Frühschoppen
gibt es nicht mehr.
Früher wurde geflucht über die große
Politik, bei Frühschoppen ebenso wie in
Kneipen und Raststätten, hier kotzt man
sich aus, hatte einer gesagt, und Detlef
Brinken, der Wirt, hatte es erklärt: Mit der
Politik hat das zu tun, mit den Steuern,
dem Kanzler und mit Eichel.
Heute ist es leiser geworden im Land,
auch an Brinkens Raststätte, ein paar Meter

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Wintermoor, Niedersachsen
Prinzessin Helga vor »Schloss Romkerhall«

Alfeld, Niedersachsen
Peter Brinken mit einer Mitarbeiterin in seinem Imbiss
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