Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

fallstraßen-Deutschland, überall anders
und doch immer gleich.
Teenager Andrea Glaser und Freundin
Nicole hatten damals einfach an der Straße
herumgestanden, sie hatten von ihren
Freunden, Florian und Kevin erzählt.
Andrea Glaser, inzwischen 30, wohnt
heute, zusammen mit Mario, in einem der
Nachbardörfer, ihre Kinder Tim und Lea
sind acht und drei Jahre alt. Sie lernte nach
dem Gymna sium Heilerziehungspflegerin
und arbeitet in einem Haus mit Behinder-
ten – bei der »Lebenshilfe«, die ist staatlich
gefördert. Sie ist für 24 Bewohner zustän-
dig, pflegt sie, begleitet sie zum Arzt, redet
mit ihnen, hält sie, nebenher arbeitet sie
noch am PC. Andrea Glaser macht Schicht-
dienst, früh und spät und am Wochenende.
Und Nicole?
Sie hat nach der Hauptschule Kosmeti-
kerin gelernt und sitzt heute bei Lidl an
der Kasse. Sie verdient mehr als ihre
Freundin Andrea.


Wandertag

Ein Stück weiter in Renchen hat die 7c der
Grimmelshausenschule Wandertag. Kennt
ihr Angela Merkel?
»Was ist denn das für eine Frage?«
Was findet ihr gut an ihr?
»Nix!«, antwortet erst einer, dann alle.
Warum?
»Das einzige Thema, was die Welt be-
schäftigt, ist das Klima, und darum küm-
mert sie sich nicht«, sagt ein Mädchen.


Europa

Karl-Heinz Spöri, der in Emmendingen
US-Wohnmobile verkauft, steht auf sei-
nem Hof. Sein Bauchumfang hat sich in


den vergangenen 15 Jahren verdoppelt. Im
Ort war er bekannt als »Vater des Guido-
mobils«. Er hatte den »Winnebago« An-
fang 2002 an die FDP verkauft, nach dem
erfolglosen Wahlkampf war das Mobil zu-
rück an Spöri gegangen. Er hat es dann
weiterverkauft, der neue Besitzer nahm
es mit nach Venezuela.
Spöris Wohnhaus, ein kleines gelbes
Flachdachhaus, liegt vorn im Eck, mit En-
ten aus Porzellan und einem Schild aus Ton,
»Willkommen!«. Links daneben, zwei Me-
ter weiter, stehen die Fenster offen, afrika-
nische Musik tönt heraus. Der Container
ist eine Flüchtlingsunterkunft, Familie Spöri
bekam vor einiger Zeit 116 neue Nachbarn.
»Das geht gut mit denen«, sagt Spöri.
Was sie ärgert, sagt Spöris Sohn Daniel,
38, sind die vielen neuen Richtlinien.
Vor ihm steht ein Euroliner, importiert
aus den USA, Kunden haben ihn gerade
gekauft, Daniel macht ihn startklar. Er
klopft gegen die Scheinwerfer, sagt: »Die
müssen europäisch sein, sonst werden sie
heute nicht mehr zugelassen.« Also bauen
sie die intakten amerikanischen aus und
setzen die europäischen ein. Das Gleiche
mit den Reifen. »Muss ein ›E‹ draufste-
hen.« Ein Satz Reifen kostet 3000 Euro.
»Was soll der Scheiß?«, sagt Daniel.
Vor ein paar Jahren gab es noch Son-
dergenehmigungen für 50 Euro, sie hatten
einen Spielraum.
Auch eine Erkenntnis: Die Spielräume
werden überall kleiner.
Die Spöris sind mittlerweile Wechsel-
wähler. »Es mag sein, dass das Land heute
in den Bilanzen gut dasteht, aber es hat
keine Partei mehr für die normalen Men-
schen«, sagt Daniel Spöri.

»Merkel?«, sagt Karl-Heinz Spöri und
stellt sich zu seinem Sohn.
»Wer ist das?«
Sie lachen.

Kiosk
Ernster wird es wenige Kilometer weiter,
mitten in Freiburg, an »Gaby’s Kiosk«.
»Biete ich einen guten Service, kommt
das an bei den Leuten«,hatte Gaby Win-
terhalter im Frühsommer 2004 gesagt.
Und sie hatte schon damals alles getan
für den guten Service: war um 4 Uhr auf-
gestanden, hatte um 5.30 Uhr die Markise
rausgekurbelt, hatte die Zeitungsständer
zurechtgerollt, hatte hinter der Durchrei-
che gesessen bis 20, 21 Uhr. 15 Jahre ging
es. Jetzt, sagt sie, geht es nicht mehr: Das,
was sie verdient, reicht nicht zum Leben.
Seit Kurzem macht sie deshalb auch die
Hausmeisterin im Haus nebenan, kleine
Reparaturen, wischt das Treppenhaus, mit
Mitte fünfzig ist sie noch mal ins Studen-
tenwohnheim gezogen.
Es gab auch damals Herausforderungen,
Euro-Umstellung, das Dosenpfand, aber
es waren Herausforderungen, die sich
meistern ließen.
Jetzt steht sie da in der Luke, von der
aus sie den ganzen Tag auf die Shell-Tank-
stelle schaut, die das gleiche Sortiment
bietet wie sie und die länger geöffnet hat.
Und wenn sie mal ihren Kopf hinaus-
streckt, sieht sie Aldi und Lidl, die mittler-
weile auch Markenartikel verkaufen.
Meist hat sie sich so weit ins Innere des
Kiosks zurückgezogen, dass man sie in der
Luke kaum noch entdeckt. Sie ist schmal,
ihre Augen sitzen tief, unten fehlen Zähne.
Alle Reserven verbraucht.
»Ein, zwei Jahre«, sagt Gaby Winterhal-
ter, »dann mache ich Schluss, muss ich,
und ich will ja auch mal Kaffee trinken in
Ruhe und das Leben genießen«, sie ver-
sucht zu lächeln. Und sagt noch: »Oder
mal sehen.«
Und dann geht’s Richtung Schweizer
Grenze, Deutschland verschwindet lang-
sam im Rückspiegel.
Ein Fazit, nach 879 gefahrenen Kilome-
tern, auf dieser Reise durch die deutsche
Befindlichkeit?
Vielleicht dieses: Es geht so mittel. Digi -
talisierung da, Kiosk weg, Tankstelle weg,
Vorschriften und Einschränkungen da.
Vieles ändert sich, weniges wird wirklich
besser. Die Daten sind positiver als die
Stimmung.
Die meisten versuchen, Schritt zu hal-
ten, sie arbeiten und sparen und rechnen,
und am Ende gewinnt Lidl, gewinnen die
Großen. Die gute Konjunktur, über die
sich Deutschland seit zehn Jahren freut,
ist häufig die Konjunktur der anderen.
Die meisten haben Arbeit und ein Aus-
kommen, aber sie sind sichtlich erschöpft.

70 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019


Emmendingen,
Baden-Württemberg
Karl-Heinz Spöri in einem US-Wohnmobil

Freiburg, Baden-Württemberg
Gaby Winterhalter in ihrem Kiosk
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