Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Silke Friedrich: Wieso nicht? Der Satz,
den ich damals am häufigsten gehört habe,
war, »alle Schulen machen dieses oder je-
nes aber so«. Den Aufschrei, »eine Büro-
kauffrau und ein Werkzeugmacher wollen
das jetzt ändern«, hören wir jetzt wieder.
Ich glaube, ich hatte mit der Schule Erfolg,
weil ich den Blick von außen hatte, die
Kundenperspektive.
SPIEGEL:Wie ist Ihr Blick auf Berlin, aus
Kundenperspektive?
Holger Friedrich:Die Stadt ist einerseits
offen, andererseits viel provinzieller als in
den Neunzigerjahren. Fast schon reaktio-
när provinziell. Es gibt eine rigide Ver-
kehrspolitik und gleichzeitig hohe Pkw-
Zulassungszahlen. Es gibt die teuersten
Schulplätze und schlechte Bildungsergeb-
nisse. Es gibt eskalierende Mieten und
planwirtschaftliche Lösungsansätze. Das
ist eine Art Staatsversagen. Die Möglich-
keiten sind riesig und die Lösungen winzig.
Das ist ein Grund, warum unsere Kinder
Berlin verlassen.
Silke Friedrich:Und auch der Grund, wa-
rum wir die »Berliner Zeitung« kaufen.
Wir müssen jetzt springen, bevor wir von
dieser Stimmung aufgesogen werden.
Holger Friedrich: Wir wissen ja auch nicht,
ob’s ein Fehler war.
Silke Friedrich:Wir gucken mal. Wir ma-
chen das jetzt. Das ist Punk.
SPIEGEL: Waren Sie mit den Reaktionen
auf Ihre neue Rolle zufrieden?
Holger Friedrich: Die Meldungen gingen
von »Die haben ganz viel Geld bezahlt«
bis »Die haben ganz viel Geld bekommen«.
Das allermeiste stimmt nicht. Wieso fragt
kein Journalist nach, bevor er das schreibt?
Ist das vorsätzlich oder fahrlässig?
Silke Friedrich:Es gibt eine Erosion von
Vertrauen im öffentlichen Diskurs. Die Ge-
sellschaft wird gerade im Schleudergang
durchgerüttelt. Hier muss doch Journalis-
mus ansetzen. Er muss Fakten sammeln,
die gesellschaftliche Debatte navigieren,
moderieren, statt zu polarisieren und zu
hysterisieren.
SPIEGEL:Haben Sie jemals darüber nach-
gedacht, in die Politik zu gehen?
Holger Friedrich:Nee. Dann darf man
nicht mehr das Auto fahren, das man will.
Man muss billige Schuhe tragen. Ich will
frei entscheiden können, was ich an-
ziehe.
SPIEGEL:Was haben Sie denn angezogen,
als Sie am ersten Tag vor die Belegschaft
des Berliner Verlags traten?
Holger Friedrich:Einen Anzug. Eine Uni-
form gewissermaßen.
Silke Friedrich:Ich wollte erst hohe
Schuhe anziehen, habe aber lieber flache
Schuhe genommen. Turnschuhe. Weil
man besser steht.
SPIEGEL: Frau Friedrich, Herr Friedrich,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


W


ie fühlt es sich an, kurz bevor es
vorbei ist? »Dass es mir leicht -
fällt, wäre gelogen«, sagt Frank
Bsirske, vor 18 Jahren zum Chef der Ge-
werkschaft Ver.di gewählt, seitdem Mitte
und Kopf dieses Ladens. Bewundert von
den einen, als Blockierer abgelehnt von
den anderen, ein Gewerkschafter, der
polarisiert hat wie kein zweiter, Gegen-
spieler von Gerhard Schröder, länger im
Amt als Angela Merkel. Streikführer, Auf-
sichtsrat, Modernisierer, Grüner.

Er sitzt in einem Restaurant in Berlin-
Charlottenburg. Die Schiebefenster zur
Straße stehen weit offen. Bsirskes Haare
stehen wie immer leicht in die Luft, als hätte
ihm eben jemand über den Kopf gestrub-
belt. »Dafür habe ich es zu leidenschaftlich
und gern gemacht. Ich arbeite bis zu
16 Stunden am Tag, samstags und sonntags
mehrere Stunden, und das bis zum letzten
Tag«, sagt er.
Man kann verstehen, dass es Bsirske
nicht leichtfällt, nach all den Jahren. Doch

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JAN HELGE PETRI / DER SPIEGEL

Gewerkschaftsboss Bsirske

Ver.di for Future


KarrierenVer.di-Chef Frank Bsirske war als Grüner ein Exot unter den
Arbeiterführern. Sein Abtritt fällt in eine Zeit, in der die Gewerkschaf-
ten nach ihrem Weg zwischen Ökologie und Sozialem suchen.
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