Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

es ist zugleich paradox: Er geht zu einer
Zeit, in der er eigentlich der Mann der Stun-
de sein könnte. In dem Augenblick, in dem
ein Grüner an der Spitze einer Gewerk-
schaft nicht mehr Kuriosität ist, sondern zeit-
gemäß. In dem die Frage, wie man So zi ales
und Umwelt politisch zusammen bringt,
drängender geworden ist als je zuvor.
Würde Bsirske am kommenden Diens-
tag nicht abtreten, sondern wie vor knapp
zwei Jahrzehnten in Berlin als studierter
Politologe, der wenige Monate zuvor noch
Personaldezernent in Hannover gewesen
war, zum Ver.di-Chef gewählt: Man würde
ihn wieder als Modernisierer feiern, als
Zeichen dafür, dass die Gewerkschaften
begriffen, dass auch sie vor einer ihrer
größten Herausforderungen stehen.
Bsirske hat sich so deutlich zu »Fridays
for Future« bekannt wie kein anderer Ar-
beiterführer. Als einziger Gewerkschafts-
chef rief er Anfang August die Mitglieder
auf, sich am Protesttag der Schülerbewe-
gung am 20. September zu beteiligen. Gre-
ta Thunberg, die Initiatorin, bedankte sich
umgehend. »This is leadership«, twitterte
sie. »Das ist Führungsstärke.«
Es ist ein Samstagmorgen Anfang Au-
gust, drei Wochen vor den Landtagswah-
len in Brandenburg. Im Humboldt-Gym-
nasium in Potsdam treffen sich die Grünen
zum kleinen Landesparteitag. Sie sind in
den Umfragen noch im Höhenflug.
Frank Bsirske ist um 11.28 Uhr als Gast-
redner vorgesehen, aber er ist bereits eine
halbe Stunde vor Beginn der Veranstal-
tung da. Er schlendert durch das Foyer des
Gymnasiums, dann verschwindet er im
Erdgeschoss in Fachraum 012. Hier wird
an diesem Tag der brandenburgische Lan-
desverband von »GewerkschaftsGrün« ge-
gründet. Den Zusammenschluss grüner
Gewerkschafter gibt es seit 2001, aber man
kann nicht behaupten, dass er größere Be-
kanntheit erlangt hätte. Jahrelang war das
ein Minderheitenthema. In diesem Jahr je-
doch wurden mehrere neue Landesverbän-
de GewerkschaftsGrün gegründet.
Die Tische sind an die Wände gerückt.
In der Mitte sitzen 20 Leute in grauen und
gelben Sitzschalen. Man ist per Du. Alle
stellen sich vor. Als Achter meldet sich
Nico, ein Ver.di-Mitglied. Er sagt: »Ich
freue mich total, dass Frank zum General-
streik von ›Fridays for Future‹ am 20. Sep-
tember aufgerufen hat.«
Bsirske hat nie zum Generalstreik auf-
gerufen. Er könnte das gar nicht, politische
Streiks gelten in Deutschland als verboten.
Er sitzt auf seinem Stuhl, die Beine über-
einandergeschlagen und lächelt. Er lässt
den Satz im Raum hängen.
Als die Vorstellungsrunde vorbei ist,
wird er gefragt, was er genau gesagt habe.
Er habe nicht dazu aufgefordert, die Arbeit
niederzulegen, sagt er, sondern sich an den
Protesten zu beteiligen, wenn man es in


der Freizeit kann. »Wir haben klimapoli-
tisch viel nachzuholen.« Darauf weise die
Bewegung hin. »Deshalb ist jetzt die rich-
tige Zeit, dass wir als Gewerkschaft dazu
aufrufen, sich daran zu beteiligen.« Bsirske
ist von »Fridays for Future« fasziniert. Er
bewundert die internationale Vernetzung.
Die Schnelligkeit, mit der sie an Breite ge-
wonnen hat.
Die Bewegung erinnert ihn auch an sei-
ne eigene Geschichte. 1967 gründete er
mit einer Handvoll Mitschüler auf dem
Gymnasium den »Unabhängigen Schüler-
bund«. Ein Jahr später zettelte er den ers-
ten Schülerstreik in Niedersachsen an.
Eine Woche lang streikten sie für mehr
Lehrer. Man wollte Bsirske von der Schule
schmeißen. »Hätten wir schon WhatsApp
gehabt, wäre an mehr als zwei Gymnasien
in Wolfsburg gestreikt worden.«
Es ist keineswegs einfach, einerseits Ge-
werkschaftschef zu sein und gleichzeitig
»Fridays for Future« zu unterstützen. Man-
che radikale Forderung steht im Wider-
spruch zu dem, wofür Gewerkschaften ste-
hen. »Man muss sich nicht jede der Forde-
rungen zu eigen machen, die dort in der
Diskussion sind, um das Anliegen zu
unterstützen«, sagt Bsirs-
ke. Geht es eher darum,
sich einfach auf die Be-
wegung draufzusetzen?
»Das wäre lächerlich.
Die Gewerkschaften sind
klug genug zu sehen,
dass ein Wandel nötig ist.
Unsere Aufgabe ist, den
Umbau im Interesse der
Belegschaften mitzuge-
stalten.«
Es sind Sätze, die das
Problem der Gewerk-
schaften zeigen. Nicht
einfach radikal grün sein
zu können. Nicht komplett auf das Thema
der Stunde setzen zu können, sondern im-
mer auch »aber« sagen zu müssen. Sie
müssen sich dem ökologischen Wandel
stellen, aber dabei auch die Interessen ih-
rer Mitglieder wahren. Wie soll ein Ge-
werkschafter bedingungslos für Klima-
schutz sein, wenn der womöglich Arbeits-
plätze kostet?
Bsirske wuchs auf in der Enge der Fünf-
ziger- und Sechzigerjahre. Und er war Teil
der Jugendbewegung, die auf der Straße
den gesellschaftlichen Umbruch anstieß.
Das hat ihn geprägt bis heute.
Mit 14 Jahren demonstrierte er zum ers-
ten Mal. Mit 15 trat er in die SPD ein und
wurde 1970 wieder rausgeschmissen, weil
er Unterschriften für die Wahlteilnahme
der DKP in Niedersachsen gesammelt hat-
te. Bereits als er mit dem Politikstudium
in Berlin begann und in den Semesterferi-
en bei der Post jobbte, wurde er Gewerk-
schafter. Er trat in die Postgewerkschaft

ein und wurde auch dort nach zwei Jahren
mit allen anderen Studenten wieder raus-
geworfen.
Sein Antrieb ist der Wunsch nach so -
zialer Gerechtigkeit. Das ist bei ihm bio-
grafisch verwoben. Die Eltern waren Ver-
triebene aus Tschechien und Polen. Sein
Vater war Sozialist und Gewerkschafter
mit Klassenbewusstsein. Er arbeitete in
einer Spinnerei und später bei VW am
Band in Wolfsburg. »Politik war bei uns
immer ein Thema, jeden Tag. Und wir wa-
ren an Politik im Westen wie Osten inte-
ressiert«, sagt Bsirske.
Die Familie wohnte lange in einer klei-
nen Erkerwohnung in Helmstedt, keine Ba-
dewanne, kein Warmwasser, dafür ein
Plumpsklo über den Hof. »Du hast dir im
Winter jeden Gang zweimal überlegt«, sagt
Bsirske. Zwölf Jahre lang teilte er sich ein
kleines Zimmer mit seiner Großmutter.
»Schon in der Volksschule wurdest du
gefragt: Was macht der Vater? Arbeiter.
Was macht dein Vater? Amtsgerichtsrat.
Dann war klar, dass der Sohn des Amts -
gerichtsrats aufs Gymnasium kam, auch
wenn er deutlich schlechter war, und das
Arbeiterkind bestenfalls zur Realschule.«
Das war in der 4. Klasse.
»Ich empfand das als to-
tal ungerecht.«
Bsirske hat die Agenda
2010 von Schröder be-
kämpft und verloren,
aber auch aus fünf Ge-
werkschaften mit mehr
als tausend unterschiedli-
chen Berufen, mit linken
und konservativen Mit-
gliedern eine starke Dienst -
leistungsgewerkschaft ge-
formt. Er kann Erfolge in
der Tarifpolitik nachwei-
sen, er hat den Mindest-
lohn und die Rentenpolitik auf die politi-
sche Agenda gesetzt.
Doch es ist ihm nicht gelungen, die
Flucht aus den Tarifverträgen zu stoppen.
In vielen Bereichen, besonders dort, wo
prekäre Beschäftigung herrscht, fällt es der
Gewerkschaft schwer, Fuß zu fassen. Bsirs-
ke konnte den Mitgliederschwund nicht
aufhalten. Ver.di startete mit 2,8 Millionen
Mitgliedern, derzeit sind es knapp 2 Mil -
lionen.
Sich für »Fridays for Future« einzusetzen
ist für Bsirske deshalb auch eine strategi-
sche Entscheidung, er sieht darin eine Chan-
ce. Die Bewegung zeige den Menschen,
dass es wichtig sei, sich zu engagieren. Er
ist überzeugt, dass damit auch die Gewerk-
schaften als soziale Bewegung in den Blick
kommen: »Eine kluge Gewerkschaft öffnet
sich, sie schottet sich nicht ab. Sie sucht
Partner und Verbündete in den gesellschaft-
lichen Bewegungen.«Markus Dettmer

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 79


Wirtschaft

Quelle: DGB

2001
2,81

2018
1,97

Veränderung
2018 gegenüber
2001
–29,9%

Ver.di-Mitglieder
seit der Gründung 2001, in Millionen
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