Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

82 DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019


J


oe Kaeser soll entspannt und gut ge-
launt gewirkt haben, als der Aufsichts-
rat seine schleichende Entmachtung
beschloss. Nach Schilderung von Teilneh-
mern war er fast durchgehend anwesend,
als sich die Kontrolleure Mitte vergange-
ner Woche im schweizerischen Zug trafen.
Die Zusammenkunft wird einmal in die
Firmengeschichte eingehen – als Anfang
vom Ende der Ära Kaeser.
Bereits in den Wochen und Monaten zu-
vor herrschte in dem Konzern Unruhe:
Würde »JK«, wie der Chef intern zuweilen
genannt wird, im Januar 2021 aufhören
oder früher? Würde er gar noch eine Ver-
tragsverlängerung herausschlagen – oder
die Weichen stellen, um ab 2023 an die
Spitze des Aufsichtsrats zu rücken?
Alles war offen, und Kaeser selbst hätte
es gern weiterhin offengelassen, ob und
wann er nach immerhin fast 40 Dienstjah-
ren bei Siemens ausscheidet.
Diese Hängepartie wollten die Auf-
sichtsräte jedoch unbedingt vermeiden.
Mehr noch: Einige von ihnen sollen mäch-
tig Druck auf Kaeser ausgeübt haben, sein
eigenes Ende einzuläuten.
Sie bestanden darauf, den Cheftechno-
logen Roland Busch zu Kaesers Stellver-
treter zu ernennen, und legten zugleich
einen Fahrplan für Kaesers Rückzug fest.
Der gebürtige Niederbayer soll sich ge-
sträubt haben, berichtet einer der Aufsichts-
räte, doch es half ihm nichts. Denn bei der
Frage, ob Kaeser über Anfang 2021 hinaus
weitermachen soll, sind sich Vertreter der
Arbeitnehmer- und Kapitalseite einig wie
selten zuvor. Die Antwort lautet: nein.
Was sich derzeit bei Deutschlands In-
dustrie-Ikone mit – noch – rund 380 000
Mitarbeitern und 83 Milliarden Euro Um-
satz abspielt, ist ein unternehmerisches
Drama. Wie Siemens nach Kaesers Abtritt
exakt aussehen wird, weiß niemand so ge-
nau. Klar ist nur, dass der Chef seine
Macht stückweise abgeben wird.
In einem Jahr soll das Energiegeschäft
abgespalten und unter dem neuen Chef,
Siemens-Vorstand Michael Sen, an die Bör-
se gebracht werden. Dann soll auch Auf-
sichtsratschef Jim Hagemann Snabe den
neuen Vize Busch offiziell zum Nachfolger


von Kaeser küren. Kaeser würde spätes-
tens dann endgültig zur Lame Duck, zur
lahmen Ente, zu einem Manager, der
nichts mehr wirklich entscheiden darf.
Ein Albtraum aus Sicht von JK, der
nicht selten den Eindruck erweckt, sich für
unentbehrlich, ja unersetzlich zu halten.
Er gefalle sich inzwischen viel zu sehr in
seiner Rolle als Gewissen der deutschen
Wirtschaft, dränge jedem seine Sicht auf
die großen Zukunftsfragen auf, lästern Kri-
tiker. Kurzum: Der CEO sei mittlerweile
zu viel Kaeser und zu wenig Siemens.
Unbestritten ist, dass Kaeser für Sie-
mens Großes geleistet hat. Er hat erreicht,
dass der Konzern nach Jahren der Stagna-
tion unter seinem Vorgänger Peter Löscher
wieder wuchs und ordentliche Gewinne
erwirtschaftete. Als die Aufgabe erledigt

war, startete er die nächste
Mission. Er zerlegte den Kon-
zern in seine Filetstücke, um
effizienter zu werden, den
Börsenwert zu steigern und
unerwünschte Investoren ab-
zuschrecken. Das Vorgehen
sei alternativlos gewesen, sa-
gen Kaeser und Chefkontrol-
leur Snabe. Andere werfen ih-
nen vor, sie hätten ein Sakrileg
begangen und zerstört, was
Siemens ausmacht.
Die Medizin- und Wind-
kraftsparte sind bereits an der
Börse, das Energiegeschäft
soll demnächst folgen, und ir-
gendwann könnte auch die
Verkehrstechnik, also das Ge-
schäft mit ICEs und Signal -
anlagen, abgestoßen werden.
Der Nachweis, dass die Zer-
schlagung tatsächlich von Er-
folg gekrönt ist, steht aller-
dings noch aus.
Der Kapitalmarkt, dem
Kaeser und Snabe mit der Zer-
legung von Siemens huldigen
wollten, zeigt sich bislang we-
nig beeindruckt. Der Preis der
Siemens-Aktie dümpelt und
hat sich gegenüber dem Amts-
antritt von Kaeser im Sommer 2013 wenig
bewegt (siehe Grafik). Zuletzt schwächelte
auch noch die Vorzeigesparte des Kon-
zerns, das Geschäft rund um die Digitale
Fabrik. Es soll zusammen mit der Gebäu-
detechnik künftig den Nukleus des rund-
erneuerten Siemens-Konzerns bilden.
Der vergleichsweise niedrige Börsen-
wert macht das Unternehmen erneut an-
greifbar durch aggressive Hedgefonds. Be-
sorgte Aufseher fordern deshalb, dass die
Siemens-Führung das Rumpfgeschäft mög-
lichst schnell durch Zukäufe, etwa in der
Robotertechnik, stärkt. Die abgespeckte
Firma, argumentieren sie, könne nur so
möglichst schnell wieder an Börsen -
gewicht zulegen und zu einem unverdau-
lichen Happen für rüde Investoren vom
Schlage eines Paul Elliott Singer werden.
Für diesen Job aber ist der promovierte
Physiker Busch der ideale Kandidat – und
nicht Kaeser. Der gebürtige Franke ist der
Antityp zu Kaeser, ruhig, zurückhaltend
und eher wortkarg.
Einige Aufseher drängen inzwischen so-
gar darauf, Snabes Vertrag als Chef des
Aufsichtsrats, der 2021 ausläuft, auf der
Hauptversammlung im kommenden Feb-
ruar vorzeitig bis 2025 zu verlängern. Das
wäre die endgültige Abkehr von Kaeser
und ein offener Affront: Die Idee, nach
einer zweijährigen Abkühlphase an die
Spitze des Aufsichtsrats zu wechseln,
könnte er damit begraben. Dinah Deckstein

84,20


  1. August
    2013


62,14


  1. Jan.
    2010


97,47


  1. Sept.
    2019


133,09


  1. April, 2017
    Kaesers Kurs
    Siemens-Aktie in Euro


Quelle:
Refinitiv
Datastream

Joe Kaeser wird
Vorstandsvorsitzender

Abschied


von Joe


KonzerneDie Ära von Siemens-
Chef Kaeser geht zu Ende. Der
wollte sich Hintertürchen offen-
halten. Doch die Aufseher mau-
ern eines nach dem anderen zu.

AXEL GRIESCH / FINANZENVERLAG / LAIF
Siemens-CEO Kaeser: Die Antwort lautet Nein
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