Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Die Sonderposten-Gänge der Discoun-
ter sind wie ein riesiger Abenteuerspiel-
platz. Das schiere Angebot macht den
Kunden derart kirre, dass er keinen klaren
Gedanken mehr fassen kann und alles ver-
gisst: wer er ist, wofür er steht, an was er
glaubt. Der Kaufentschluss kommt impul-
siv, folgt keinem Plan und entspringt kei-
nem lang gehegten Wunsch. Alles ist so
günstig, dass man es ohne nachzudenken
einfach mitnehmen kann, ein No-Brainer.
Und ist es nicht auch entlastend, inmit-
ten der Anstrengung für ein klimafreund-
liches, nachhaltiges, kurzum: vernünftiges
Konsumentenverhalten derart unvernünf-
tig über die Stränge zu schlagen? In Zeiten,
in denen der Kauf jeder Plastiktüte unmo-
ralisch ist, einmal so richtig lozusündigen?
Bin ich schizophren? Ist es der Handel?
Oder bildet er  bloß konsequent ab, wie
rasch die Verbraucher an ihre moralische
Belastungsgrenze kommen?
Das Argument, man erfülle mit dem An-
gebot nur die Nachfrage der Kunden, ist
lächerlich. Wer wünscht sich sehnlich ein
mit Tonperlen gefülltes Aromakissen? Ver-
zehrt sich nach einem Holzfeuchtemess-
gerät? Einem Solar-Dekostein?
Niemand. Doch Auge in Auge mit der
Ware bemüht sich der Kunde, eine Nut-
zungsmöglichkeit zu erfinden, um die kur-
ze Befriedigung des Kaufes genießen zu
können. Dafür ist keine Erklärung zu ab-
surd: Vielleicht kommt ja doch mal ein
Marder ins Auto, also her mit dem Hoch-
frequenzschreckgerät. Oder besser noch:


gleich einer Wildkamera. Hilft bestimmt
auch gegen Einbrecher. Und früher oder
später muss noch ein Gerätehaus her, um
all den überflüssigen Plunder unterzubrin-
gen, der bereits aus jedem Schrank quillt.
Das ist das perfide am Aktions-Mittel-
gang: Er erfindet Begehrlichkeiten, die es
gar nicht gibt, für Produkte, die keiner
wirklich braucht. Waren, die oft unter aus-
beuterischen Verhältnissen am Ende der
Welt zusammengebaut und über die Ozea-
ne zu uns geschippert werden.
Und die in der Regel nicht annähernd
so lange halten wie vergleichbare Produk-
te im Fachhandel. Wie auch soll ein Ak-
kusauger für 70 Euro vom Discounter mit
einem Dyson für knapp 400 Euro mithal-
ten? Seine Leistung ist eher gesellschafts-
politisch: Der Käufer darf sich als Mitglied
im erlesenen Klub der Akkustaubsauger-
besitzer fühlen. Geringverdiener können
dank der Mittelgänge gefühlt einkaufen
wie die Reichen – bei Norma gab’s im Au-
gust sogar alles für die »Lebenswelt Jagd«.
Das Gefühl, dazuzugehören, sich Dinge
leisten und sorgenfrei wieder wegwerfen
zu können, teilzuhaben am Immer-mehr
und Immer-neuer und Immer-luxuriöser
ist gesellschaftlicher Kitt. Der Mittelgang
sorgt für sozialen Frieden.
Doch der Friede hat seinen Preis. Für
ein schlichtes Nice-to-have und einen kur-
zen Glückskick im neuronalen Belohnungs-
zentrum des Käuferhirns werden ungeheu-

* Auf dem Deichbrand-Musikfestival in Cuxhaven.

re Ressourcen verschleudert – auch mensch-
liche. Man kann sich vorstellen, wie viel
ei ne Näherin verdient, wenn vier Baum-
wollsitzkissen mit 49-Punkt-Steppung für
9,99 Euro zu haben sind. Tut man aber
nicht. Weil die Kissen so hübsch zur Gar-
tengarnitur passen. Und wie gut ist wohl
die Ökobilanz des neuesten Drogeriemarkt-
schreis Wasserspray in Treibgasflaschen?
In Brasilien brennt der Urwald, doch die
Produktion von Nonsense geht weiter, als
gäbe es kein Morgen.
Ich bekenne, ich bin schwach. Aber ich
kenne auch den Konsumkater, der dem
Rausch folgt. Und die Scham, wenn irgend-
ein Krimskrams nach kurzem Gebrauch
im Müll landet. Für manche Dinge gibt es
einfach keine Rechtfertigung.
Den Vogel schießt derzeit Penny ab.
Dort sind für 3,99 Euro künstliche Garten-
kräuter im Zinktopf zu haben – als Küchen-
deko. Es ist der Gipfel der Doppelmoral:
Wer die Plastikpetersilie nach Hause schlep-
pen will, muss einen Stoffsack erwerben;
Plastiktüten hat der Einzelhandel mit gro-
ßem Nachhaltigkeits-PR-Getöse aus den
Filialen verbannt. Was im Beutel drin ist,
kümmert dagegen keinen.
Dafür gibt’s jetzt, zum Herbstanbruch,
Gummistiefel, Vliespullover und Regen -
jacken zu Spottpreisen. Der Kauf ist nur zu
empfehlen: So kommen die Kids warm und
trocken zur »Fridays for Future«-Demo.
Mail: [email protected]

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Wirtschaft

UNTERNEHMENSGRUPPE ALDI NORD
Temporäre Aldi-Filiale*: Eine teuflisch unwiderstehliche Mischung aus Sinn und Unsinn

ENDE
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