Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1
91

China

Zensur zum Geburtstag


 Selbst Pekings prominentestem Journa-
listen geht Chinas Internetzensur zu weit.
»Der Zugriff auf ausländische Websites ist
extrem schwierig geworden«, beklagte Hu
Xijin, 59, Chefredakteur der staatstreuen
»Global Times«, auf dem Kurznachrich-
tendienst Weibo. Die Zensur beeinträchti-
ge inzwischen sogar die Arbeit seiner
Redakteure: »Persönlich finde ich, das ist
zu viel.« Am 1. Oktober begeht die Volks-
republik China ihren 70. Gründungstag
und plant eine große Parade im Zentrum
Pekings. Wie vor solchen Anlässen üblich,
schränken die Behörden bereits seit Tagen


den Einsatz sogenannter VPN-Dienste
ein, die den Zugriff auf blockierte Web -
sites erlauben. Da bis zum 1. Oktober wei-
tere Proteste in Hongkong erwartet
werden, kontrolliert die Kommunistische
Partei genauer als sonst den Zugang zu
ausländischen Medien. Die Zensoren sind
diesmal besonders streng. »Die Partei
sagt immer, sie schreite mit dem Volk«,
schrieb Hu auf Weibo. »Es ist wichtig,
dem Volk zu vertrauen. Ich schlage vor,
unserer Gesellschaft etwas mehr Raum zu
lassen.« Drei Stunden später löschte Hu
seinen tausendfach kommentierten Post
und schrieb: »Ich möchte keinen Ärger
verursachen.« Kurz darauf tilgte er auch
diesen Kommentar.BZA

Frankreich

Legende und Bluff


 Präsident Charles de Gaulle tobte:
»Man ist nicht der Nachfolger des Gene-
rals de Gaulle. Man wird nach de Gaulle
zum Präsidenten gewählt.« Grund des
Wutanfalls: Der ihm später tatsächlich
nachfolgende Georges Pompidou hatte es
gewagt, in einem Interview Ambitionen
auf den Job des Präsidenten erkennen zu
lassen – und damit insinuiert, in dersel-


ben Liga wie de Gaulle spielen zu kön-
nen. Der General aber hielt sich für ein-
zigartig, unersetzlich, für den Retter des
Vaterlands. Er verachtete Parteien und
andere Politiker.
Der Historiker Johannes Willms
beleuchtet in einer umfassenden und
erfrischend respektlosen Biografie das
Leben de Gaulles – »Der General:
Charles de Gaulle und sein Jahrhundert«
(C. H. Beck;640 Seiten; 32 Euro). Er
weist nach, wie sehr de Gaulles Erfolge,
wie seine Legende auf Überzeugungs-
kraft, wenn nicht sogar auf Bluff basier-
ten. Dabei ist de Gaulle politisch so aktu-
ell wie nie: Der Parteienverdruss und der
Vertrauens verlust der demokratischen
Institutionen begünstigten die Wahl
Emmanuel Macrons, der dem General
nacheiferte, als er eine zu seinen Ambi-
tionen passende Partei erfand. Dieses
meisterlich geschriebene Buch klärt über
französische Eigenheiten auf und liest
sich, wo es die Marotten de Gaulles be -
leuchtet, wie ein Gesellschaftsroman. NM

GIULIA MARCHI / NYT / REDUX / LAIF

Hu

Ruanda

»Humanitäre Notlage«


Ruanda will 500 Flüchtlin-
ge aus Lagern in Libyen
aufnehmen. Der Deal wird
von der EU finanziell
unterstützt. Camille Le
Coz, Politikexpertin des
Migration Policy Institute in Brüssel,
über eine kurzsichtige Strategie und
Ruandas Interessen.

SPIE GEL: 3500 Menschen, die sich der-
zeit in Gefängnissen in Libyen befin-
den, sind besonders gefährdet. Häufig
leben sie unter prekären Bedingungen.
Kann der Deal mit Ruanda helfen?
Le Coz:In den Gefängnissen in Libyen
herrscht eine humanitäre Notlage. Eine
Evakuierung kann den jetzt betroffenen
Menschen helfen. Dennoch kann das
nicht die einzige Lösung sein. Selbst
wenn alle Flüchtlinge ausgeflogen wür-
den, wird die libysche Küstenwache
wieder Menschen in die Lager bringen.
SPIE GEL: Ruanda hat in Aussicht
gestellt, noch deutlich mehr Flüchtlinge
aufzunehmen. Welche Chancen haben
die Menschen dort?
Le Coz: Auf dem Papier geht es Flücht-
lingen in Ruanda nicht schlecht. Sie
haben theoretisch Recht auf Arbeit und
Zugang zu öffentlichen Dienstleistun-
gen. In der Umsetzung sieht das aber
oft anders aus. Ruanda beherbergt
schon rund 150 000 Flüchtlinge aus
Nachbarstaaten. Das Versprechen auf
soziale Integration konnte bisher nicht
eingehalten werden, auch wenn das
Land mit dem Uno-Flüchtlingshilfs-
werk und der Weltbank daran arbeitet.
SPIE GEL: Was erhofft sich die Regie-
rung von dem neuen Abkommen?
Le Coz: Politisch ist das ein kluger Zug
von Präsident Paul Kagame. Internatio-
nal rückt ihn das in ein besseres Licht.
In den vergangenen Jahren gab es
immer wieder Menschenrechtsverlet-
zungen in Ruanda. Mit der Aufnahme
von Flüchtlingen kann die Regierung
die Kritik der EU an eigenen Verfehlun-
gen abschwächen. Kagame zeigt so
auch Solidarität mit anderen afrikani-
schen Ländern wie etwa Niger, das bis-
her viele Flüchtlinge vorübergehend
aufgenommen hat.
SPIE GEL: Kann ein langfristiger Deal
mit Ruanda und anderen afrikanischen
Staaten eine Lösung sein?
Le Coz:Afrikanische Staaten können
das nicht allein lösen. Langfristig muss
die EU unter anderem sichere legale
Wege nach Europa bieten – wie auf
dem Migrationsgipfel 2015 verspro-
chen. Bisher gab es hier zu wenig Fort-
schritt. ANS

KEYSTONE
De Gaulle 1946
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