Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Omar Saleh steht auf einem
Hügel am Ufer des Großen Zab,
eines Zuflusses des Tigris, und
blickt auf die Welt, wie sie
in Zukunft sein könnte. Da
vorn, er zeigt in Richtung Sü-
den, fließt der Tigris, dahinter
der Euphrat, die beiden mäch-
tigen Zwillingsströme des Nahen Ostens.
Eingeklemmt zwischen den Flüssen liegt
Mesopotamien, jenes sagenumwobene Ge-
biet, dessen fruchtbares Land einst so viel
Reichtum spendete, dass es eine der ersten
menschlichen Zivilisationen hervorbrach-
te, mit Getreidespeichern, Schriftsprache,
Städten – die Hängenden Gärten der Se-
miramis sollen hier geblüht haben. Im
Zweistromland herrschte Überfluss.
Heute sieht Saleh, der Bauer, eine Dür-
relandschaft, verbrannt von der Sonne.
Eine Windhose wirbelt Staub übers Feld.
Später sitzt sein Vater Salem in Pluder-
hosen in einer bescheidenen Hütte, in der
er Gäste empfängt, und schwärmt von ver-
gangenen Zeiten: Von den Tomaten, die
sie im März aussäten, hätten sie bis De-
zember leben können, erzählt er, so viel
Weizen und Gerste hätten sie manches
Jahr geerntet, dass sie kaum wussten, wo
sie alles lagern sollten. Sein Sohn hört ihm
zu. Er kennt die Geschichten. Solch einen
Überfluss kennt er nicht.
Die Okrapflanzen, die Saleh auf einem
Feld zieht, sollten längst schulterhoch
sprießen, doch der Regen bleibt aus, sie
verkümmern am Grund. Melonen, Papri-
ka, Tomaten: abgestorben. Mesopotamien,
eine Wiege der Zivilisation, leidet schon
heute unter den Folgen des Klimawandels.
Regnet es doch, dann mit einer Gewalt,
die alles mit sich reißt. Salehs Lebens-
grundlage, die fruchtbare dunkle Erde,
wurde vergangenes Jahr weggeschwemmt.
»Du blickst auf dein Land und spürst diese
Hilflosigkeit, wenn alles, wofür du mona-
telang gearbeitet hast, zerstört wird, und
du nichts tun kannst«, sagt er.
Diese Zerstörung reicht weit über den
Nahen Osten hinaus, sie hat inzwischen
verschiedenste Orte erfasst, und ihre Fol-
gen könnten dramatischer, weitreichender
und langfristiger sein als alles, was die
zivilisierte Welt bisher erlebt hat.
Lange Zeit war der Klimawandel für vie-
le Menschen ein abstraktes Phänomen,
das, wenn überhaupt, nachfolgende Gene-


rationen beschäftigen würde. Spätestens
seit diesem Sommer ist die Stimmung ge-
kippt: Hitzewellen, Dürren, Stürme, Wald-
brände, Überflutungen, die Auswirkungen
werden immer spürbarer.
Der Klimawandel kommt nicht irgend-
wann zu uns. Er ist längst da.
In Brasilien brennt der Amazonas-Regen-
wald, weil Grundbesitzer riesige Flächen für

die Landwirtschaft abfackeln; ihnen kommt
zugute, dass die Trockenzeit dieses Jahr
noch früher begonnen hat als sonst und das
Unterholz brennbarer ist. In Rajasthan in
Indien, in Basra im Irak sowie in Dubai wur-
den dieses Jahr mehr als 50 Grad Celsius ge-
messen – an immer mehr Orten wird dieser
Schwellenwert überschritten, oberhalb des-
sen menschliches Leben unerträglich wird.

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Ausland

Verbrannte Erde


KlimawandelDie Erwärmung des Planeten ist kein abstraktes Phänomen mehr, die Folgen


sind längst spürbar: Hitzewellen, Fluten, Dürreperioden. Viele Städte und
Metropolen steuern jetzt um – allein schon, um das Überleben ihrer Einwohner zu sichern.

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019
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