Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Der Juli war der heißeste Monat seit Be-
ginn der Wetteraufzeichnungen. In Lingen,
Niedersachsen, wurden 42,6 Grad Celsius
gemessen, an vielen anderen Orten in
Europa war es ähnlich heiß. In Frankreich
musste eine Reihe Atomreaktoren die Leis-
tung drosseln, weil die Flüsse, in die das
Kühlwasser eingeleitet wird, sonst zu
warm geworden wären. Niederländische
Gemeinden streuten Salz, um die Straßen
zu kühlen.
Rund 200 Millionen Menschen leben
weltweit in 350 Städten, die mit Tempe-
raturen von mehr als 35 Grad Celsius
kämpfen. In den kommenden 30 Jahren
wird sich die Anzahl der betroffenen Städ-
te laut Prognosen fast verdreifachen.
Schon heute sterben infolge von Hitze
mehr Menschen als durch alle anderen
extremen Wetterereignisse zusammen.


Was passiert, wenn das so weitergeht?
Wenn die Hitzeperioden länger andauern,
die Stürme häufiger werden, die Über-
schwemmungen dramatischer?
Seit Beginn der Industrialisierung in der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben
die Menschen so viel CO 2 ausgestoßen,
dass sich die globale Durchschnittstempe-
ratur um etwa ein Grad Celsius erhöht hat.
Derzeit kommen jedes Jahrzehnt 0,2 Grad
dazu.
Am stärksten ist die Arktis von der Auf-
heizung des Planeten betroffen. Sie ist
jetzt schon drei bis vier Grad wärmer als
vor 100 Jahren, was unmittelbare Auswir-
kungen auf unser Wetter hat. Weltweit
sind die Jahre seit 2014 die wärmsten seit
Beginn der Aufzeichnungen.
Und doch gibt es die Zweifler, die den
Klimawandel nicht sehen wollen oder leug-

nen, dass er menschengemacht ist. Auch
deshalb gehen nun überall auf der Welt
junge Leute für den Klimaschutz auf die
Straße. Die »Fridays for Future«-Bewe-
gung hat die Erderwärmung zur neuen so-
zialen Frage gemacht.
Kommende Woche hat Uno-General -
sekretär António Guterres die Staats- und
Regierungschefs zu einem Klimagipfel
geladen. Es wird wieder einmal um die
Frage gehen, die sich zur Schicksalsfrage
des 21. Jahrhunderts entwickelt: Wie
lässt sich die Erderwärmung wirksam be-
kämpfen?
Es ist die Aufgabe des Weltklimarats
(IPCC), Antworten zu finden. Er wurde
1988 unter dem Dach der Uno gegründet,
195 Staaten gehören ihm an. Fünf Sach-
standsberichte hat der IPCC bereits ver-
fasst, der sechste ist in Arbeit.
Die IPCC-Berichte sind oft dicker als
die Bibel und werden in einem mehrjähri-
gen Prozess erstellt. Hunderte Experten
sind beteiligt, sie sichten und bewerten Stu-
dien und stimmen Erkenntnisse mit jedem
Mitgliedsland ab. Das Ergebnis ist ein Gut-
achten, das nicht Einzelmeinungen, son-
dern den Konsens aller Beteiligten in nüch-
terner Sprache abbildet. Die Lektüre ist
schockierend.
Im Oktober vor einem Jahr ging der
IPCC in einem Sonderbericht der Frage
nach, ob die Welt das im Pariser Klima-
schutzabkommen von 2015 festgeschriebe-
ne Ziel erreichen wird, die Erwärmung bis
zum Jahr 2100 auf 1,5 Grad Celsius im Ver-
gleich zur vorindustriellen Zeit zu begren-
zen. Das Ergebnis: Jedes Land der Welt
muss mehr tun, unendlich viel mehr.
Um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, gibt
es laut IPCC nur einen Weg: Die weltwei-
ten CO 2 -Emissionen müssen sich bis zum
Jahr 2030 fast halbieren. Bis spätestens
2055 müssen sie sogar bei »netto null« lie-
gen. Das heißt, wer dann noch CO 2 pro-
duziert, muss die gleiche Menge wieder
aus der Atmosphäre entfernen. Wenn die
Welt sich aber um zwei Grad erwärmte –
was das Pariser Klimaschutzabkommen
als Ausweichziel formulierte –, dann stün-
de es deutlich schlechter um die Zukunft
der Menschheit.
Zwei Grad bedeuteten unter anderem
den Totalverlust der Korallenriffe, massive
Ernteausfälle, das Abschmelzen des Eis-
schilds von Grönland, Lebensgefahr für
Millionen Menschen. Besonders hart wür-
de es Städte treffen, die der Mensch auch
DAVID GRAY / REUTERSeinst baute, um sich vor der Umwelt zu

UM ETWA EIN GRADhat sich die Erde
seit der Industriealisierung erwärmt.
Auf dieser Weidefläche in Australien
zeigt sich der Klimawandel bereits.

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