Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

schützen. In Städten lebt bereits mehr als
die Hälfte der Erdbevölkerung.
Autos, Flugzeuge, die Industrie und die
Landwirtschaft erzeugen jedes Jahr Un-
mengen CO 2 und andere Treibhausgase,
die sich wie eine Decke um die Erde legen
und Sonnenenergie daran hindern zu ent-
weichen. Die Konzentration des Kohlen-
dioxids wird in ppm (parts per million)
gemessen. Als bedenklicher Wert galten
lange 400 ppm. Diese Marke wurde 2013
erreicht. Zum ersten Mal seit mindestens
drei Millionen Jahren. Schon heute heißt
dies: Es wird vielerorts heißer, besonders
in Städten, die sich schneller aufheizen.
Nur knapp ein Zehntel der Stadtfläche
von Paris ist von Parks und Grünflächen
bedeckt, es ist der geringste Anteil unter
den europäischen Hauptstädten – in Lon-
don etwa ist es ein Drittel. »Paris wurde
nicht geplant, um solchen Gegebenheiten
zu trotzen«, sagt der Bürgermeister des



  1. Arrondissements, François Dagnaud.
    Im Sommer fegte durch die Gassen nur
    selten ein Windstoß und wenn doch, brach-
    te er keine Erleichterung, sondern fühlte
    sich an wie von einem Föhn produziert.
    Das, worunter Paris immer häufiger lei-
    den wird, nennen Forscher »Hitze-Insel-Ef-
    fekt«, der meist drei Ursachen hat: Vegeta-
    tion und Wasserflächen wirken kühlend
    durch Verdunstung, beides fehlt in vielen
    Städten. Dunkle Flächen wie Asphalt reflek-
    tieren weniger Sonnenlicht als helle, statt-
    dessen erwärmen sie sich und geben die Wär-
    me langsam wieder an die Umgebung ab.
    Autos, Klimaanlagen und Baumaschinen,
    die ihrerseits Hitze abstrahlen, verstärken
    den Effekt, der Städte bis zu zehn Grad hei-
    ßer werden lässt als ihr Umland. Das betrifft
    besonders rasch wachsende Metropolen. Pe-
    king und Tokio heizten sich in den vergan-
    genen 100 Jahren fünfmal schneller auf als
    ihre Umgebung, Madrid nur anderthalbmal.
    Was passiert, wenn Hitzewellen über
    Europa rollen, konnte man im Sommer
    2003 sehen, der damals Temperaturrekor-
    de brach. 40,2 Grad Celsius in Freiburg,
    44,1 Grad in zwei südfranzösischen Dör-
    fern, 47,4 Grad im portugiesischen Ama-
    releja. In Paris waren die Krankenhäuser
    überfüllt, Ärzte behandelten Patienten auf
    den Fluren. In Frankreich konnten die Lei-
    chenhallen die Toten nicht fassen, sie muss-
    ten teils in Kühlhäusern gelagert werden.
    15 000 Menschen starben zusätzlich
    innerhalb weniger Wochen in Frankreich,
    7000 in Deutschland, 70 000 in ganz


Europa. Das macht die Hitzewelle des
Sommers 2003 zu einer der todesreichsten
europäischen Naturkatastrophen. Und die
Häufigkeit solcher Hitzewellen nimmt zu.
In Indiens Millionenmetropole Delhi
erreichten die Temperaturen diesen Juni
48 Grad, auch das ein Rekord. In Churu,
einer Ortschaft am Rande der Wüste in
Rajasthan, wurden 50,8 Grad gemessen.
Hohe Temperaturen allein sind nicht
das Problem. Es wird in Delhi nicht nur
immer öfter immer heißer, das Klima ist
in den vergangenen Jahren auch feuchter
geworden. Der Hitzeindex, der Tempe -
ratur und relative Luftfeuchtigkeit mit -
einberechnet, ist in Delhi seit den Fünfzi-
gerjahren jedes Jahrzehnt um 0,6 Grad
gestiegen. Feuchte Hitze ist für den
menschlichen Körper noch schwerer zu
ertragen.
Die Bürger in Delhi kennen dieses Ge-
fühl: wenn die eigene Kleidung am Leib
klebt und der Wind auf den Wangen
brennt; wenn man die Hitze auch noch
durch die Wand hindurch spüren kann und
der Asphalt unter den Schuhen schmilzt.
Es gibt Regionen in der Welt, zum Bei-
spiel die Golfstaaten, die ähnlich widrigen
Bedingungen ausgesetzt sind. Aber die
Menschen dort haben im Durchschnitt
mehr Geld und damit die Möglichkeit, sich
vom Schlimmsten freizukaufen.
In Delhi füllen sich die Notaufnahmen
im Sommer mit Hitzeopfern. Die Men-
schen klagen über Magenschmerzen und
Durchfallerkrankungen, weil Essen in der
Hitze schneller verdirbt. Sie leiden unter
Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit,
Symptomen eines Hitzschlags, und gehen
am nächsten Morgen trotzdem wieder zur
Arbeit. Denn wer sich krankmeldet, der
wird in Indien oft nicht bezahlt.
48 Grad würden die meisten europäi-
schen Städte an die Belastungsgrenze brin-
gen. In Delhi dagegen binden sich Bau -
arbeiter nasse Tücher um den Kopf und
schleppen Schutt, Rikschafahrer ziehen
ihre Last. Nur eine Minderheit der Inder
kann sich eine Klimaanlage leisten, viele
haben keinen Kühlschrank.
Sollte sich die Erwärmung fortsetzen
wie bisher, haben Wissenschaftler am
Massachusetts Institute of Technology in
Cambridge ausgerechnet, dann könnten
70 Prozent der Inder bis zum Ende des
Jahr hunderts zuweilen extremer Hitze aus-
gesetzt sein. Delhi könnte eines Tages die
50-Grad-Marke überschreiten, glauben

Forscher wie Krishna AchutaRao vom
Indian Institute of Technology in Delhi.
Die steigenden Temperaturen haben
noch einen weiteren Effekt: Warme Luft
speichert mehr Feuchtigkeit. Feuchtere Luft
führt zu heftigeren Regenfällen, die führen
wiederum zu Überschwemmungen wie in
Murkata, einem Dorf in Nordostindien, das
die Flut zu einer Insel hat werden lassen.
Nur ein paar höher gelegene Hütten
sind noch betretbar. Als der Pegel stieg, er-
zählen die Bewohner von Murkata, wuss-
ten sie, was zu tun war. Sie verschnürten
die Kleidung in leere Reissäcke und häng-
ten sie ins Gebälk. Die wichtigen Dinge,
Dokumente, Töpfe und Reis, nahmen sie
mit. Sie trieben ihre Kühe und Hühner zu-
sammen. Dann bauten sie aus Bambus ein
Floß und brachten sich in Sicherheit.
Die Regenzeit ist in vielen Teilen In-
diens eine Zeit des Glücks. Im Nordosten
des Landes, nördlich von Bangladesch und
südlich von Tibet, fürchten die Menschen
den Regen.
Ab Juni, wenn acht Zehntel des jährli-
chen Regens binnen vier Monaten nieder-
gehen, tritt der Brahmaputra über die Ufer,
einer der größten Flüsse der Welt. Dann
verschwinden große Flächen der Region
unter Wasser, die Fluten werden immer
unberechenbarer. Dieses Jahr traf es Ne-
pal, Bangladesch und Indiens Nordosten.
Millionen Menschen wurden zeitweise aus
ihren Wohnungen vertrieben. Tausende
Schulen wurden zerstört oder beschädigt,
Ernteflächen vernichtet.
Hier lässt sich beobachten, was passiert,
wenn die Klimakatastrophe über Gegen-
den hereinbricht, in denen der Staat Pro-
bleme hat, Hilfe zu organisieren. Und es
zeigt sich, wie sehr vor allem jene Men-
schen unter den Folgen des Klimawandels
leiden, die am wenigsten zu der Krise
beigetragen haben. Auch deshalb müssen
Industrieländer als Hauptverursacher
mehr tun, um ärmeren Regionen zu helfen.
Hari Das Sarkar, ein schmächtiger
Mann, zwischen 50 und 60 Jahre alt, kau-
ert am Rand einer Landstraße in Murkata.
Autos und Lastwagen rasen vorbei. Die
Straße ist der einzige Flecken Erde im Um-
land, der etwas höher liegt und damit tro-
cken geblieben ist.
Auf dem Seitenstreifen haben die Men-
schen Zelte aus Bambus aufgebaut. Die
Luft ist feucht, Babys schreien. Es gibt kei-
ne Toilette. Kinder spielen im Dreck. Die
Regierung hat Notrationen verteilt.

Ausland

Quelle: NOAA^1880


–1,5 –0,75 0 +0,75 +1,5


1890 1900 1910 1920 1930

Heißzeit


Jährliche Abweichung von der Durchschnitts-
temperatur des 20. Jahrhunderts an Land, in °C

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