Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

Methan, das über einen Zeitraum von
20 Jahren bis zu 86-mal so klimaschädlich
ist wie Kohlendioxid. Weltweit schmelzen
Gletscher schneller als prognostiziert,
auf der russischen Halbinsel Jamal wöl-
ben sich im auftauenden Permafrost -
boden riesige Methanblasen nach oben
und explodieren, in der Arktis brennen
die Wälder.
Das bringt das Klima in die Nähe seiner
sogenannten Kippelemente, jener Bestand-
teile des Erdsystems, die durch geringen
Einfluss von außen plötzlich in einen neu-
en, dramatisch anderen Zustand versetzt
werden und somit Kaskadeneffekte auslö-
sen können. Ein Beispiel dafür ist der ab-
schmelzende Westantarktische Eisschild.
Ab welchem Zeitpunkt genau sein Ab-
schmelzen irreversibel sein wird, ist unklar,
doch vermutlich vor 2100. Von solchen
Kippelementen gibt es eine ganze Reihe.
Werden ihre Schwellen überschritten, ver-
läuft die Klimaerwärmung nicht mehr li-
near, sondern sprunghaft.
Die Weltbank hat Prognosen dazu er-
stellt, was passieren würde, träten diese
Kaskadeneffekte ein: Wetterextreme, die
man mancherorts noch nicht kennt, könn-
ten in den kommenden Jahrzehnten zur
Normalität werden. Hitzewellen unbe-
kannten Ausmaßes könnten den Nahen
Osten, Lateinamerika und Europa treffen.
In Deutschland wäre dann ein Hitze-
sommer wie der von 2003 nichts Un -
gewöhnliches mehr. Teile Südeuropas
würden sich in Wüsten verwandeln. Der
Ganges, von dem in Indien 500 Millionen
Menschen abhängig sind, würde austrock-
nen. Der Meeresspiegel würde steigen,
Millionenstädte wie Alexandria und Jakar-
ta versinken. Stürme wie Hurrikan »San-
dy«, der 2012 New York überflutete, häuf-
ten sich, Waldbrände würden immer grö-
ßere Landstriche verwüsten.
»Unsere Antwort auf die Herausforde-
rungen des Klimawandels wird über das
Vermächtnis unserer Generation entschei-
den. Die Einsätze waren noch nie höher«,
schreibt die Weltbank.
Wie existenziell der Klimawandel den
Menschen bedroht, dringt immer mehr
ins öffentliche Bewusstsein ein. Experten
sehen darin eine Chance: Der Mensch hat
ein System erschaffen können, das die
Erde an den Rand des Kollapses gebracht
hat, also kann er auch ein System entwer-
fen, das sie rettet; und die Anzeichen da-
für, dass das gelingt, mehren sich.
In Großbritannien etwa hat sich in den
vergangenen Jahren Erstaunliches getan.
Fast unbemerkt und überdeckt von den
Wirren der Brexit-Verhandlungen hat sich
das Vereinigte Königreich zu einem Vor-
reiter beim Klimaschutz aufgeschwungen.
Schon 2008 war Großbritannien mit
dem Climate Change Act eine der ersten
großen Industrienationen, die ein Klima-


schutzgesetz verabschiedeten. Darin fest-
geschrieben: eine Reduzierung des Treib-
hausgas-Ausstoßes bis 2050 um 80 Pro-
zent im Vergleich zum Jahr 1990.
Im Mai dieses Jahres rief das Parlament
zudem den nationalen Klimanotstand aus,
als erstes Parlament der Welt. Und einen
Monat später, im Juni, feierte Großbritan-
nien einen Rekord. Für 18 Tage, 6 Stunden
und 10 Minuten produzierten die bri -
tischen Kohlekraftwerke keine einzige
Kilowattstunde Strom.
Seit das erste Kohlekraftwerk 1882 ans
Netz ging, war die Kohleverstromung in
Großbritannien noch nie so lange unter-
brochen gewesen. Ein Testlauf für die Zu-

kunft. Noch bis in die Siebzigerjahre galt
Kohle als die wichtigste Energiequelle des
Landes. Heute liegt der Anteil bei 5 Pro-
zent – erneuerbare Stromquellen machen
nun über 30 Prozent aus, der Anteil des
Atomstroms liegt bei rund 19,5 Prozent,
Gas bei knapp 40 Prozent. Bis 2025 möch-
te die Insel keinen Strom mehr durch Koh-
lekraftwerke erzeugen.
Einer der Gründe, die für die zügige
Abkehr von der Kohle sorgten: der soge-
nannte Carbon Price Floor. Stromerzeuger
müssen seit dem 1. April 2013 einen Min-
destpreis für jede Tonne CO 2 zahlen, die
freigesetzt wird. In den ersten Jahren lag
er teils weit über dem Preis für CO 2 -Zerti-

RAJANISH KAKADE / AP

70 PROZENTder Inder könnten bis zum Ende des Jahrhunderts großer Hitze
ausgesetzt sein, zugleich mehren sich Überschwemmungen wie hier in Mumbai.

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Im Schwitzkasten
Prognostizierte Anzahl der Tage pro Jahr mit Temperaturen von mehr als 35 °C für den
Zeitraum von 2080 bis 2099, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht reduziert wird*

Quelle: Climate Impact Lab

Delhi
217 Tage

Washington
75 Tage

Paris
8 Tage

Dubai
* Anstieg der globalen Temperatur 229 Tage
um etwa 4°C bis 2100 (RCP8.5)

bis 5 Tage 10 20 40 60 80 100 125 150 175 200 250 300
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