Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

fikate innerhalb der EU. Das Geschäft mit
der Kohle wurde unattraktiver.
Im Energiewende-Ranking des Welt-
wirtschaftsforums liegt Großbritannien
heute auf Rang 7, hinter Schweden, der
Schweiz, Norwegen, Finnland, Dänemark
und Österreich. Deutschland befindet sich
auf Rang 17.
Im jüngsten Report aus dem Juli schrei-
ben die Experten, die Klimaziele des Kö-
nigreichs seien zu erreichen, wenn auch die
Briten ihren Alltag änderten. So müssten
sie bis 2050 etwa 20 Prozent weniger
Lamm, Rind und Milchprodukte essen und
dürften deutlich weniger fliegen als bislang.
Strom müsste vollständig aus erneuerbaren
Energien kommen, keine Neubauten dürf-
ten mehr mit Gas beheizt werden. Und vom
Jahr 2035 an dürften nur noch Elektroautos
verkauft werden. Ähnlich klare Aussagen
sucht man in Deutschland vergebens.
Alice Bell sagt, irgendwie sei es ein Witz
der Geschichte: Großbritannien, das Mut-
terland der Industrialisierung, wird Welt-
führer beim Kohleausstieg. Bell steht auf
einem Platz mitten in London, unweit
des Bahnhofs King’s Cross. Backsteinbau-
ten umgeben sie, auf einem steht in großen
Buchstaben »Coal Office«. Vor etwa 150
Jah ren befand sich hier einer der größten
Umschlagplätze für Kohle innerhalb Lon-
dons – Kohle, um die Maschinen in den Fa-
briken zu betreiben, Züge zu befeuern, Häu-
ser zu heizen. Heute spielen hier Kinder in
Fontänen, ein Gärtner gießt Geranien.
»Wir erleben den Wandel, überall«, sagt
sie. In ehemaligen Gasometern sind Apart-
ments entstanden, die Stadt sei voll von
Geschichten über den Klimawandel. Man
müsse sie nur erzählen.
Bell arbeitet für eine kleine Umwelt -
organisation und macht seit Jahren Stadt-
führungen. Ihr Thema: die Geschichte der
Klimakrise. Ihre Führungen sind schnell
ausgebucht, Interessierte führt sie zunächst
zur Royal Institution, wo sie von John Tyn-
dall erzählt. Er gilt als einer der Entdecker
des Treibhauseffekts in der Atmosphäre,
im Jahr 1859. Dann läuft sie über die Pall
Mall, die erste Straße der Stadt, die von
Gaslaternen beleuchtet war, vorbei am
Royal Automobile Club und an der Statue
des Polarforschers John Franklin. Am
Ende, nach zwei Stunden Fußmarsch, ge-
langt sie zum Museum Tate Modern, das
sich in einem alten Ölkraftwerk befindet.
Die Botschaft, die Alice Bell vermittelt,
trägt optimistische Züge: Wir können uns
entwickeln, wir können, wenn wir uns
sehr anstrengen, dieses Problem lösen.
Es ist eine Frage des Willens, der Politik,
vor allem ist es eine Frage des Geldes. Me-
tropolen überall auf der Welt kostet der
Klimawandel schon jetzt viel Geld. Allein
die städtische Klimakommission von New
York hat im Kommunalhaushalt 20 Milliar -
den Dollar für »Klimaresilienz« veran-


schlagt: für die Begrünung von Dachflä-
chen, Maßnahmen gegen Hitzeschäden,
mehr Bäume, emissionsärmere Busse.
Ehrgeizigere Projekte aber werden ver-
zögert, oft aus Geldgründen. Die Outer
Harbor Gateway Barrier wird nicht ver-
wirklicht, ein acht Kilometer langes Sperr-
werk, das die Hafenbucht von New Jersey
bis nach Long Island zum Atlantik abschot-
ten würde. So greifen diejenigen, die es
sich leisten können, zur Selbsthilfe. Auch
beim Klimaschutz herrscht in New York
eine Zweiklassengesellschaft.
Das neue Whitney Museum am Hudson
River, entworfen vom Stararchitekten Ren-
zo Piano, liegt drei Meter über dem Was-
ser. Die Kunstgalerien mit den richtig teu-
ren Objekten beginnen erst im fünften
Stock, 25 Zentimeter dicke Flutschutztore
schützen alle Zugänge zur Straße.
Die American Copper Buildings, zwei
Luxushochhäuser am East River unweit
des Hauptsitzes der Vereinten Nationen,
verfügen über erdgasbetriebene und vom
städtischen Netz unabhängige Stromaggre-
gate im 48. Stock, flutgeschützt. 761 Apart-
ments in dem Gebäude können selbst in
Extremsituationen »autark« bleiben, das
bedeutet, dass Kühlschränke und Steck -
dosen auch bei Stromausfällen eine Weile
weiter funktionieren. Zugleich wächst die
Zahl jener Superreichen in den USA, ge-
nannt »doomsday preppers«, die sich Bun-
ker bauen lassen, die die Insassen vor
Wind, Wetter und Nuklearkriegen schüt-
zen sollen, ausgestattet mit Wohnzimmer,
Bar und Schwimmbad.
»Die Klimamathematik ist brutal klar:
Die Welt kann zwar nicht innerhalb von
wenigen Jahren geheilt werden, aber
wenn wir nichts tun, dann können wir sie
durch Fahrlässigkeit bereits bis 2020 töd-
lich verwunden«, warnte Hans Joachim
Schelln huber, Gründungsdirektor des
Potsdam- Instituts für Klimafolgenfor-
schung, bereits 2017.
Schellnhuber verbreitet dennoch Zuver-
sicht. Die Welt befinde sich in einer Ära
der exponentiellen Transformation: In den
USA fielen die CO 2 -Emissionen trotz Wirt-
schaftswachstum, Chinas Energiehunger
werde zu wachsenden Teilen aus Wind-
und Wasserkraft gewonnen. Große Inves-
toren nähmen Abstand von Ölkonzernen.
»Es wird immer jene geben, die den Kopf
in den Sand stecken und die Gefahren des
Klimawandels ignorieren, aber eine viel
größere Anzahl von uns ist entschlossen,
diese Trägheit zu überwinden«, schrieb
Schellnhuber mit anderen Klimaforschern
im Fachmagazin »Nature«. Trotz allem
bleibt er Optimist.
Marco Evers, Bartholomäus Grill,
Laura Höflinger, Katrin Kuntz, Marc Pitzke,
Maximilian Popp, Mathieu von Rohr,
Raphael Thelen

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 97


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