Der Spiegel - 20.09.2019

(Barré) #1

trotzdem die Bedingungen des Euro-Sta-
bilitätspakts zu erfüllen.
António Costa trat mit 14 in die sozia-
listische Jugendorganisation ein, das war
1975, ein Jahr nach der »Nelkenrevolu -
tion«, die die jahrzehntelange Diktatur be-
endet hatte. Costas Vater, ein aus der eins-
tigen Kolonie Goa in Indien stammender
Schriftsteller, hatte als Mitglied der Kom-
munisten selbst gegen die Diktatur ge-
kämpft. Er war von der Geheimpolizei ver-
folgt worden, mehrfach in Haft, die Bücher
waren verboten. Die Mutter, eine Publi-
zistin, war eine der ersten Frauen, die die
Journalistengewerkschaft geleitet haben.
Nach seinem Jurastudium arbeitete Cos-
ta in Lissabon in der Kanzlei des Sozialis-
ten Jorge Sampaio, dessen Präsidentschafts-
kampagne er 20 Jahre später organisierte.
Von 1997 an übernahm er mehrfach Kabi-
nettsposten, zuletzt war er Innenminister
in der Regierung von Premier José Sócra-
tes. Der populäre Costa kandidierte 2007
als Bürgermeister von Lissabon. Weil er
nur knapp 30 Prozent der Stimmen erhielt,
handelte er schon damals mit linken Kräf-
ten ein Bündnis aus. Bis 2015 gewann er
zwei weitere Bürgermeisterwahlen.
Der Publizist José Pacheco Pereira ist
eigentlich ein politischer Gegner Costas:
Er gehört zu der in Portugal wirtschafts -
liberal orientierten Sozialdemokratischen
Partei PSD und war bis 2004 Vizepräsi-
dent des Europaparlaments. Er sagt, der
Sozialist Costa sei »anders als die meisten
Politiker, die vom Aufstehen bis zum Schla-
fengehen nur an ihre persönliche Macht-
entfaltung denken«. Er sei ehrlich, »er ver-
birgt nichts«.
In seinem Wahlkampf hat sich Costa
zu Ende des Sommers auf eine Wanderung
durch das Land begeben, entlang der Na-
tionalstraße 2, die Portugal von Norden
nach Süden durchzieht. Bei Kilometer
null hat Costa begonnen: in Chaves, einer
Kleinstadt im kargen Tras os Montes, wie
die Region »hinter den Bergen« heißt, nahe
der Grenze zu Spanien. In Etappen gelang-
te er mit Gefolge bis ins 700 Kilometer ent-
fernte Faro an die Strände der Algarve.
Die Menschen erhielten damit Gelegen-
heit, ihre Sorgen direkt an den Mann zu
bringen: überfüllte Schulen, die Schwie-
rigkeit, sich in der überlasteten Justiz
Recht zu verschaffen, lange Wartezeiten
beim Facharzt. Costas Konkurrent von der
PSD, Rui Rio, dagegen absolviert lieber
Auftritte in geschlossenen Sälen vor aus-
gewähltem Publikum. Die PSD hat vor
vier Jahren zwar die meisten Stimmen er-
halten, konnte aber keine Regierung bil-
den und ist in der Wählergunst mittlerwei-
le abgestürzt.
Die Leistung Costas war es, sich von
den linken Kräften im Land tolerieren zu
lassen, die mit den Sozialisten seit dem
Ende der Diktatur 1974 verfeindet waren –


etwa von den noch immer orthodoxen
Kommunisten, den Grünen und dem trotz-
kistischen Linksblock. Mit jeder der drei
Parteien unterzeichnete er separate Über-
einkünfte. Dabei half Costa sein Verhand-
lungsgeschick. Der Publizist Pereira ist
überzeugt, dass Costa eine Verständigung
mit dem charismatischen Chef der Kom-
munisten, Jerónimo de Sousa, schon vor-
bereitet hatte.
Beide Seiten ziehen nun eine positive
Bilanz ihrer Nichtkoalition: »Wir haben
alles erfüllt, was wir versprochen haben«,
rühmt sich der Sozialist. »Es hat sich ge-
lohnt«, sagt auch der Kommunist, der sei-
ne Abneigung gegen den Stabilitätspakt
der Eurozone und die Nato unterdrückte,
gewissermaßen aus Staatsräson. Auf ihn
sei Verlass, lobt daher Costa, da genüge
ein Händedruck.
Und tatsächlich ist es dem Premier ge-
lungen, das Vertrauen der Portugiesen zu-
rückzugewinnen. 350 000 Jobs sind laut
Costa geschaffen worden. Die Arbeitslo-
sigkeit lag bei seinem Amtsantritt bei 12,4
Prozent und hat sich seitdem fast halbiert,
auf den niedrigsten Stand seit der Jahrtau-
sendwende. Die Wirtschaft wächst seit
2016 über dem EU-Schnitt jährlich um
etwa zwei Prozent, auch dank eines Tou-
rismusbooms. Lissabon ist eine der ange-
sagtesten Städte Europas. Als Bürgermeis-
ter hatte Costa diesen Boom vorbereitet:

Er machte Lissabon zur Metropole der
Start-ups, holte den internationalen Web
Summit, zu dem jährlich Zehntausende
Fachbesucher anreisen.
Die wirtschaftliche Erholung ist teilweise
der guten Konjunktur zu verdanken, doch
vor allem hatte Costa den Harvard-geschul-
ten Ökonomen Mário Centeno als Finanz-
minister an der Seite, der einst für die Bank
von Portugal arbeitete. Der behielt den sta-
bilisierenden Kurs der konservativen Vor-
gänger bei, mit einigen Zugeständnissen
an Linke: Mindestlohn, Renten und Beam-
tengehälter hob die Regierung an, zum Zei-
chen, dass die verhasste »Austerität« be-
endet sei. Dadurch blieb den Familien
mehr vom Verdienst zum Leben übrig.
Zugleich reduzierte Centeno die Staats -
ausgaben.
Die Neuverschuldung soll für dieses Jahr
bei nur 0,2 Prozent der Wirtschaftsleistung
liegen. Der damalige Finanzminister Wolf-
gang Schäuble, der seinem Amtskollegen
zunächst mit Misstrauen begegnet war,
adelte Centeno 2017 zum »Ronaldo der

Euro-Gruppe«. Zwar belasten immer noch
Staatsschulden in Höhe von 121 Prozent
des BIP die öffentlichen Kassen. Doch die
Ratingagenturen bewerten das Land wie-
der so positiv, dass dieses Jahr gegenüber
2014 zwei Milliarden Euro an Zinsen ein-
gespart werden konnten.
Als Costa vor vier Jahren ein Links-
bündnis einging, war das riskant für ihn:
Doch die Sozialisten überließen damit, an-
ders als von manchen befürchtet, nicht der
PSD die Mitte, sondern sie vermehrten
ihre Wählerschaft im Zentrum – auch dank
Finanzminister Centeno, der seit Januar
2018 auch Chef der Euro-Gruppe ist. Cos-
ta verspricht im Wahlkampf deshalb, sei-
nen besten Mann erneut ins Kabinett zu
holen. Wenn eine internationale Krise
komme, sei das Land jetzt gut vorbereitet,
sagt er. Er hat zwar zehn Milliarden Euro
für Investitionen in Bahnstrecken, Straßen-
bau, Schulen und Krankenhäuser verspro-
chen. Die sollen das Defizit jedoch nicht
wieder in die Höhe treiben.
Dagegen wehrt sich jetzt jedoch der
Linksblock. Dessen Chefin kritisiert, Cos-
tas Regierung habe die Dienstleistungen
von den Schulen bis zum Gesundheitswe-
sen kaputt gespart, darin läge das eigentli-
che Defizit des Landes. Portugals äußerste
Linke will auch die Reform des Arbeits-
rechts rückgängig machen, die flexiblere
Verträge ermöglicht. Seit Jahresbeginn
streikten Lehrer, Krankenpfleger, Ärzte
um höhere Gehälter und bessere Arbeits-
bedingungen.
Als die Tanklasterfahrer im Sommer
streikten, setzte der Premier Polizei und
Militär ein, um die Tankstellen zu belie-
fern. Die Opposition beschimpfte den Mi-
nisterpräsidenten als illegitimen Streik -
brecher. Doch Millionen Urlauber waren
ihm dankbar.
Zwar schätzen viele Portugiesen den
Premier als Pragmatiker. Dennoch halten
zahlreiche politische Analysten einen über-
wältigenden Sieg der Sozialisten nicht für
wahrscheinlich. Der vermeintlich sichere
Ausgang demobilisiere die linken Wähler.
Die Regierung habe die Gesellschaft ein-
geschläfert, die Sorge um einen Arbeits-
platz ist nach jüngsten Studien in den Hin-
tergrund gerückt.
Costa lässt keinen Zweifel daran, dass
er es vermeiden möchte, eine Koalition
einzugehen. »Es ist besser, eine gute
Freundschaft nicht durch eine schlechte
Ehe zu verderben«, sagte er kürzlich an
die Adresse des Linksblocks gerichtet. Er
warnt, dass dem Land die Gefahr der Un-
regierbarkeit drohen könnte, die etwa in
Spanien die Politik blockiert. Portugal sol-
le, was die Stabilität angeht, auf der Iberi-
schen Halbinsel auch in Zukunft »ein As-
terix-Dorf« bleiben. Helene Zuber
Mail: [email protected]

DER SPIEGEL Nr. 39 / 21. 9. 2019 99


Ausland

Costa hat zehn Milliarden
Euro Investitionen
zugesagt – das Defizit
will er nicht erhöhen.
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