Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
Tel Aviv– Nach der Wahl in Israel hat Ex-
Militärchef Benny Gantz das Amt des
Regierungschefs für sich reklamiert. Er
wolle eine „breite, liberale Einheitsregie-
rung“ anführen, sagte der 60-Jährige. Er
reagierte damit auf die Aufforderung des
Regierungschefs Benjamin Netanjahu,
Gantz solle sich einer großen Koalition sei-
nes Likuds mit rechten und religiösen Par-
teien anschließen.dpa  Seite 7

Berlin– Im Streit um die Grundrente zeich-
net sich eine Annäherung ab. Nach „kons-
truktivem Vorgespräch“ zwischen Sozial-
minister Heil (SPD) und Kanzleramtschef
Braun (CDU) solle die geplante Arbeitsgrup-
pe kommenden Freitag erstmals tagen,
teilte das Ministerium mit. Aus Koalitions-
kreisen war zu hören, es sei eine Einkom-
mensprüfung geplant.rike  Seite 7

Meinung


Im Höhenrausch der Umfragen


drücken sich die Grünen vor


unbequemen Konzepten 4


Politik


Krankenkassen zahlen künftig


Bluttests auf ein Down-Syndrom


des ungeborenen Kindes 6


Panorama


Sehrhohe Belastung – Rauchen


im Auto soll verboten werden,


wenn Kinder dabei sind 10


Wirtschaft


Zum Beginn der Wechselperiode


dürften Autoversicherungen


billiger werden 18


Sport


„Bisserl Feuer“: Uli Hoeneß


heizt den Torwartstreit in der


Nationalmannschaft an 27


Medien, TV-/Radioprogramm 31,
Forum & Leserbriefe 9
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 31
Traueranzeigen 14


Im chinesischen Internet auf Ladebalken
zu starren,ist nichts Ungewöhnliches.
Das Land hat zwar im internationalen Ver-
gleich eine der höchsten Internetge-
schwindigkeiten. Durch die Zensur ist das
Netz aber häufig furchtbar lahm. Beson-
ders, wenn Nutzer auf ausländische Sei-
ten zugreifen, braucht es Geduld. Seiten
wie Google und Facebook lassen sich gar
nicht öffnen. Andere brauchen dreißig Se-
kunden, bis sie ganz geladen sind. Ein
Wettbewerbsnachteil für internationale
Firmen, die ihre Seiten nicht aus China
heraus betreiben. Und uncool, wenn die
Kinder eines Managers nicht netflixen
können. Das ist offenbar inzwischen ein
Problem für deutsche Unternehmen, die
deshalb immer häufiger keine Mitarbei-
ter mehr für ihre Standorte in China
finden.
Bisher können Internetnutzer die Zen-
sur noch mit sogenannten VPN umgehen,
die den Internetverkehr über Umwege ins

freie Netz leiten. Manche Unternehmen
haben ein halbes Dutzend solcher Soft-
warelösungen, um ein stabiles Netz zu ga-
rantieren und ihre Daten verschlüsselt zu
übermitteln. Zu einem größeren Problem
wird das erst, wenn, wie nun im Oktober,
ein Feiertag ansteht. Die Volksrepublik
feiert ihren 70. Jahrestag, und es hat fast
schon Tradition, dass die Zensoren vor
Feiertagen die Anbieter solcher Dienste
lahmlegen.
Vielleicht bringt die Staatsführung das
Netz zum Erliegen, weil Menschen mit zu
viel Freizeit dazu tendieren, das Denken
anzufangen. Peking verhindert damit,
dass sie dabei im Netz auf falsche Ideen
stoßen. Womöglich möchten die Zenso-
ren aber auch nur daran erinnern, dass sie

die verbliebene Freiheit jederzeit ausknip-
sen können. Auf jeden Fall verschicken
Anbieter in China in diesen Tagen Nach-
richten wie diese: „Lieber Kunde, wir stel-
len unseren Dienst in den kommenden Ta-
gen ein. Vielen Dank für Ihr Verständnis
und einen fröhlichen Nationalfeiertag.“
So kurz vor dem runden Geburtstag
scheint der Angriff gleichzeitig so massiv
wie selten. Sogar ein bekannter chinesi-
scher Journalist meldete sich zu Wort,
den man sonst nur wegen seiner Wut-
ausbrüche gegen den Westen kennt. Er
beschwerte sich in einem bald selbst zen-
sierten Blogpost, dass ihn die Zensur bei
seiner Arbeit störe. Viele Artikel postet
der Journalist nämlich auf der ebenfalls
gesperrten Plattform Twitter.

Sicher erscheint, die Nervosität in Pe-
king ist groß. Alles muss glatt laufen,
wenn Präsident Xi Jinping seine Rede an
die Nation hält. Es ist die größte Militärpa-
rade in der Geschichte geplant. Wie so häu-
fig fühlt sich die Partei vor allem durch
das Volk gestört. Die Staatssicherheit hat
viele Aktivsten aus Peking verbannt, ande-
re stehen unter Hausarrest. Die Verbotslis-
te für die Anwohner wirkt endlos: Im Stadt-
zentrum dürfen die Menschen keine Droh-
nen, Drachen oder Luftballons steigen las-
sen. Taubenzüchter wurden ermahnt, ih-
re Tiere wegzusperren. In den Büros müs-
sen Mitarbeiter Scheren entsorgen. Die Ta-
xifahrer kämpfen jetzt schon mit einem
gestörten GPS-Signal. Dazu kommt der
Stau durch die Panzer, die zum Tianan-
men-Platz rollen. Am Feiertag selbst soll
niemand am Fenster stehen.
Geht es nach dem Willen der Partei,
bleibt das Volk dem Fest am besten ein-
fach fern. lea deuber

von constanze von bullion
und wolfgang wittl

Berlin/Bad Staffelstein –Nachseiner Zu-
sage, jeden vierten Migranten nach
Deutschland einreisen zu lassen, der vor
Italien aus Seenot gerettet wird, hat Bun-
desinnenminister Horst Seehofer (CSU)
sich gegen Kritik von Parteifreunden ver-
wahrt. „Die freiwilligen Übernahmen nach
Seenotrettungen machen einen ganz mini-
malen Teil der Migration nach Deutsch-
land aus“, sagte er am Donnerstag in Ber-
lin. In den vergangenen 15 Monaten seien
2199 Menschen vor Italien oder Malta ge-
rettet worden, für 565 habe die Bundesre-
gierung ein Asylverfahren in Deutschland
in Aussicht gestellt. Lediglich 225 Gerette-
te seien schon in Deutschland. Im Ver-
gleich zu Staaten wie Griechenland seien

diese Zahlen überschaubar. Von Überforde-
rung sei keine Rede. „Es ist unglaublich,
dass man sich als Bundesinnenminister
für die Rettung von Menschen vor dem
Ertrinken rechtfertigen muss.“
Seehofer will kommenden Montag in
Malta bei einem Treffen der EU-Innen-
minister erstmals ein Konzept erarbeiten,
wonach aus Seenot gerettete Flüchtlinge
nach einem festen Schlüssel in Europa ver-
teilt werden. Ziel sei, dass Deutschland
und Frankreich jeweils 25 Prozent der Ge-
retteten übernehmen, weitere Staaten sol-
len folgen. Seehofer, der bisher zu den Mi-
grationskritikern zählte, rechtfertigte sei-
ne Entscheidung als „große Chance“, end-
lich Ordnung in die Verteilung Geretteter
zu bringen. „Es wäre ein grober Fehler,
wenn die Bundesregierung das versäumen
würde.“

Kritik aus der Union, wonach die Zusage
eines festen Kontingents zusätzliche Men-
schen zur Flucht übers Mittelmeer motivie-
ren könnte, wies Seehofer „aufs Schärfste“
zurück. „Ich werde dafür sorgen, dass es
keinen Pull-Effekt gibt.“
Am Mittwoch hatten sich führende Uni-
onspolitiker extrem kritisch zu Seehofers
Vorschlag geäußert. Mike Mohring, der
CDU-Spitzenkandidat für die Landtags-
wahl in Thüringen, lehnte eine Quote für
die Aufnahme von Bootsflüchtlingen strikt
ab. „Anreizsysteme durch Zwischenlösun-
gen“ seien „kein guter Weg“, sagte Moh-
ring: „Das stärkt nur wieder die, die am
rechten Rand stehen.“ Auch Seehofers Par-
teikollege, der bayerische CSU-Landtags-
fraktionschef Thomas Kreuzer, sprach
sich gegen eine solche Quote aus. Dadurch
bestehe die Gefahr, dass die Flüchtlings-

zahlen wieder stiegen: „Das wollen wir
nicht“, sagte Kreuzer. Auch andere Unions-
politiker befürchten einen sogenannten
Pull-Effekt – zusätzliche Anreize für Mi-
granten, nach Europa aufzubrechen.
Die Parteichefs von CDU und CSU zeig-
ten sich am Donnerstag bemüht, die Debat-
te zu beruhigen. Sie werte Seehofers Vor-
schlag auch mit Blick auf die neue italieni-
sche Regierung als Versuch, die Gespräche
in Europa wieder in Gang zu setzen, sagte
Annegret Kramp-Karrenbauer bei der
Klausur der CSU-Landtagsfraktion in Klos-
ter Banz. CSU-Chef Markus Söder sagte, es
bleibe die Aufgabe der Politik, Humanität
und Ordnung in der Balance zu halten. Die
Gefahr, dass in der Union wieder eine
Grundsatzdebatte zur Flüchtlingspolitik
aufflamme, sehe er nicht, sagte Söder.
 Thema des Tages, Seite 4

München– Die Staatsanwaltschaft Mün-
chen ermittelt gegen 17 Airbus-Mitarbei-
ter wegen unerlaubten Besitzes von Doku-
menten zu zwei Rüstungsprojekten der
Bundeswehr. Gegen die Beschuldigten
„und weitere bislang unbekannte Täter“
laufe ein Verfahren „wegen Verrats von Ge-
schäfts- und Betriebsgeheimnissen“ bezie-
hungsweise Anstiftung hierzu, erklärte ei-
ne Sprecherin der Staatsanwaltschaft am
Donnerstag. Der Luftfahrt- und Rüstungs-
konzern habe das Verteidigungsministeri-
um am Dienstag informiert, sagte Ministe-
rin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).
„Seitdem laufen auch bei uns, laufen auch
in der Bundeswehr die eigenen Ermittlun-
gen.“ Konkret soll es um zwei Kommunika-
tionsprojekte der Bundeswehr gehen. Air-
bus erklärte, selbst auf den Fall aufmerk-
sam geworden zu sein.sz  Wirtschaft

Tokio– Der japanische Energieversorger
Tepco ist nicht für die Atomkatastrophe
von Fukushima verantwortlich zu
machen. Das entschied das Landgericht in
Tokio am Donnerstag, achteinhalb Jahre
nach der dreifachen Kernschmelze im
Kernkraftwerk Fukushima Daiichi infolge
eines Erdbebens mit anschließendem
Tsunami. Angeklagt waren drei frühere
Spitzenmanager von Tepco. Der Vorwurf
lautete, sie hätten das Unglück verhindern
können, wenn sie gut genug informiert
gewesen wären und notwendige Gegen-
maßnahmen ergriffen hätten.
Der Prozess gegen den früheren Tepco-
Vorstand Tsunehisa Katsumata, 79, sowie
die früheren Vizepräsidenten Ichiro Take-
kuro, 73, und Sakae Muto, 69, hatte 2017
begonnen. Eine Bürgerinitiative hatte ihn
erwirkt, nachdem die Staatsanwaltschaft

in den Jahren davor zwei Mal beschlossen
hatte, die Tepco-Chefs nicht anzuklagen.
Die Anwälte der Anklage hatten Haftstra-
fen von fünf Jahren gefordert.
Das Gericht befasste sich vor allem mit
der Frage, ob die Tepco-Chefs den Tsuna-
mi hätten voraussehen können, der mit bis
zu 15,7 Metern Höhe zur Katastrophe führ-
te. Die Umweltorganisation Greenpeace
sagt, sie hätten alle nötigen Informationen
gehabt. Aus finanziellen Gründen habe
Tepco auf die Prognosen nicht reagiert. Die
Verteidigung bestritt diese Darstellung,
das Gericht gab ihr recht. „Es wäre unmög-

lich, ein Atomkraftwerk zu betreiben,
wenn die Betreiber verpflichtet wären, je-
des erdenkliche Tsunami-Risiko vorherzu-
sehen und Gegenmaßnahmen zu ergrei-
fen“, sagte der Vorsitzende Richter Kanichi
Nagafuchi in seiner Urteilsbegründung.
Kläger und Umweltschützer reagierten
mit Tränen und Wut. Viele von ihnen wa-
ren vor dem Gerichtsgebäude versammelt.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich Ihnen von
so einem Ergebnis berichten muss“, sagte
eine Frau, die wegen der Katastrophe nach
Kyoto umsiedeln musste, „ich möchte wei-
ter alles tun, was wir tun können. Für die
Wahrheit in diesem Land.“ Ein Mann rief:
„Was macht das Gericht überhaupt? Habt
ihr keine menschliche Moral?“
Greenpeace warf dem Gericht vor, über
Tatsachen hinweggegangen zu sein. „Ein
Schuldspruch wäre nicht nur für Tepco ein

verheerender Schlag gewesen, sondern
auch für die Regierung von Premierminis-
ter Shinzō Abe und die japanische Atomin-
dustrie“, sagte Shaun Burnie, Atomkraft-
experte von Greenpeace, deshalb sei das
Urteil „vielleicht keine Überraschung“.
Tepco erklärte nach dem Urteil: „Noch
einmal entbieten wir unsere aufrichtigs-
ten Entschuldigungen für die Probleme
und Sorgen, die wir vielen Menschen berei-
ten, inklusive denen in der Präfektur Fuku-
shima.“ Die Nuklearkatastrophe von Fuku-
shima gilt als einer der schwersten Unfälle
seiner Art und bewog damals die deutsche
Regierung, aus der Atomenergie auszustei-
gen. Am 11. März 2011 hatte ein schweres
Erdbeben mit nachfolgendem Tsunami
das Kühlsystem außer Betrieb gesetzt und
so die Kernschmelze in drei Reaktoren
verursacht. thomas hahn  Seite 4

Gantz will Israels


Regierunganführen


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Im Norden und Osten können dichte Wol-
kenfelder örtlich Schauer bringen. Sonst
scheint verbreitet die Sonne, und es bleibt
überwiegend trocken. Die Temperaturen
erreichen Höchstwerte zwischen 15 und
22 Grad.  Seite 9 und Bayern

Fukushima-Katastrophe: Gericht spricht Manager frei


Laut Urteilmusste der Betreiber Tepco das Atomkraftwerk nicht gegen einen Tsunami solchen Ausmaßes schützen


Zum Fest gibt’s Ladebalken


Vor seinem Nationalfeiertag legt China das Internet lahm
Koalition nähert sich

bei Grundrente an


Seehofer verteidigt Flüchtlingsquote


Nach harscher Kritik aus seiner eigenen Partei bekräftigt der Bundesinnenminister, Deutschland solle


jeden vierten vor Italien geretteten Migranten aufnehmen. Von Überforderung könne keine Rede sein


Ermittlungen


bei Airbus


Mitarbeiter waren im Besitz
sensibler Bundeswehrdokumente

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Immer mit der Ruhe: Greta Thunberg in Amerika Seite Drei


Die SZ gibt es als App
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22 °/1°


Albrecht Dürer feierte die Natur wie


kein anderer Meister der Renaissance.


Seine Zeichnung einer Blauracke,


entstanden um 1500, verleiht der Kunst


Flügel. Bedeutende Meisterwerke des


Franken sind nun in Wien zu sehen – und
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gelehrt haben.
Liegt nicht der gesamten Auslandsauflage bei

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FOTO: ALBERTINA, WIEN

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(SZ) Ruhmlos gehen manche Hosen und
Hemden zugrunde. Eine fahle Wiederauf-
erstehung mag ihnen beschieden sein,
nachdem sie im Orkus des Altkleidercon-
tainers verschwunden sind. Doch harren
sie unfroh ihrer Zombie-Existenz. Nicht
nur das kleine Schwarze und das elegante
Sakko wissen, wie viele Träume und Erin-
nerungen sie enthalten, wie viel magische
Macht sie entfalten können. Noch im ausge-
tretensten Schuh kann ein unvergesslicher
Auftritt stecken, im ausrangierten Anzug
ein Scheidungsdrama. Sage niemand, die-
se magische Seite der Kleidung sei ein Re-
likt aus archaischen Zeiten. Nein, sie hat
erst in unserer hochmodernen Gegenwart
den Zenit erreicht. Lässig nimmt es das
schweißgetränkte Trikot, das ein Fußball-
star nach dem Schlusspfiff dem Gegenspie-
ler überlässt oder ins Publikum wirft, mit
dem Purpurmantel der Könige von einst
auf. Es grenzt an prosaische Verblendung,
wenn das Lexikon lediglich mitteilt, das
Trikot sei „in der Regel ein Kleidungsstück
mit Ärmeln“ und insbesondere im Profi-
sport der „Dienstkleidung“ zuzuordnen.
Die älteren unter den Hemden können
sich noch an die Zeiten erinnern, in denen
ihre steifen hohen Stehkragen den Re-
spekt gebietenden Namen „Vatermörder“
mit dem tragischen Helden Ödipus teilten.
Dunkel ist der Ursprung dieser Benen-
nung, aber unverkennbar lässt sie die Sphä-
re der Obsessionen, Leidenschaften und
Familiendramen aufblitzen, die unter dem
steifen Kragen der bürgerlichen Epoche
brodelte. Für die Trikots der modernen
Fußballstars gilt das nicht minder. Sie sind
hochindividualisierte Objekte der Begier-
de, gezeichnet mit dem Namen und der
Nummer ihres Trägers, imprägniert mit
der Aura der Partie, bei der sie getragen
wurden, Trophäen auch dann, wenn sie
von einer großen Niederlage zeugen. Und
auch sie sind in der Lage, Familiendramen
zu entfesseln.
Auf die Herausgabe von sechs Trikots,
die für ihn in seiner Karriere von besonde-
rer Bedeutung waren, hat der Fußballprofi
Danny da Costa, bei Eintracht Frankfurt
unter Vertrag, seine Mutter verklagt. Die
aber macht geltend, es handele sich bei der
Kollektion um eine Schenkung. Die Tri-
kots des ersten Auftritts als Profi, des ers-
ten Bundesligaspiels, der ersten Europa-
League-Partie sind dabei. Sie alle sind Uni-
kate, unersetzlich. Kommt es nicht noch zu
einer gütlichen Einigung, muss das Amts-
gericht Köln sich am Freitag der nächsten
Woche des Falles annehmen. Mag sein,
dass am Ende die Formel steht: „Ge-
schenkt ist geschenkt.“ Aber es gehört zur
vertrackten Magie der Kleidungsstücke,
dass damit der Fall nicht abgeschlossen wä-
re. Welches Urteil das Gericht auch fällt, es
wird das Drama zwischen Mutter und
Sohn befeuern. Vollkommen aussichtslos
wäre der Versuch, den Streitwert zu bezif-
fern. Nur eines ist klar: Die Trikots sind
mehr als „Kleidungsstücke mit Ärmeln“.


DAS WETTER



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