Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
Der mit Belästigungsvorwürfen konfron-
tierteOpernsänger Placido Domingo, 78,
wird den Europäischen Kulturpreis dieses
Jahr noch nicht erhalten. Der Künstler und
das Europäische Kulturforum hätten „ge-
meinsam entschieden, die Auszeichnung
auf den 3. Oktober 2020 in Bonn zu ver-
schieben“, teilte das Kulturforum mit. Meh-
rere Frauen hatten Domingo teils Jahrzehn-
te zurückliegende Übergriffe vorgeworfen.
Der Sänger wies die Anschuldigungen als
unzutreffend zurück. Viele Opernsängerin-
nen sprachen Domingo ihr Vertrauen aus.
Den Europäischen Kulturpreis 2019 erhal-
ten unter anderem die Modedesignerin Vi-
vienne Westwood, die Schauspielerin So-
phia Loren und der von Arnold Schwarzen-
egger mitinitiierte Klimagipfel R20. dpa

Regenwasser im Depot, zerfresse Kunst-
werke, und Kuratoren, die nicht wissen,
was sich in ihren Sammlungen befindet:
Das waren einige der Befunde, die die SZ
vor zwei Monaten in den ethnologischen
Museen in Hamburg, München und Berlin
machte(SZ vom 9. Juli). Anlass dafür wa-
ren die in der Restitutionsdebatte gern be-
mühten Argumente, Objekte aus Afrika sei-
en in deutschen Museen besser aufgeho-
ben als in afrikanischen Institutionen. Und
sollten Vertreter der Herkunftsgesellschaf-
ten nach ihrem verlorenen Kulturgut su-
chen, stünden ihnen die deutschen Häuser
ja offen, samt Inventaren und Archiven.
Besonders erschreckend war die Situati-
on im Ethnologischen Museum in Berlin,
einer Bundeseinrichtung. Sowohl die Grü-
nen als auch die AfD-Fraktion im Bundes-
tag haben zu den Zuständen dort eine An-
frage gestellt. Nun hat Kulturstaatsminis-
terin Monika Grütters geantwortet.
Die baulichen Probleme beschönigt sie
nicht. Es gebe „Sanierungsbedarf“, heißt
es lapidar, die Situation sei „verbesserungs-
würdig“. Wie und wann die Verbesserung
geschehen soll, führt sie nicht aus. Und
auch darüber, wie viele Objekte bereits
durch die bauliche Situation oder den In-
sektenbefall zu Schaden gekommen seien,
gibt es keine Auskunft. Sie hält die Maß-
nahmen der Museen aber für ausreichend.

Viele der insgesamt 40 Fragen betrafen
die Inventare und ihre Digitalisierung. In
den Museen arbeitet man teils noch mit
100 Jahre alten Karteikarten. Auch die
Kriegsverluste wurden oft nie aufgearbei-
tet. Viele Institutionen können deshalb nur
mutmaßen, was sie überhaupt besitzen.
Das macht die Suche nach Objekten für die
Kuratoren extrem aufwendig, für Außen-
stehende oft nahezu unmöglich.
Alle 500 000 Werke des Ethnologischen
Museums und seines kleinen Nachbarn,
des Museums für Asiatische Kunst, seien
inventarisiert, so Grütters in ihrer Ant-
wort. Allerdings seien davon nur 406000
„recherchierbar“. Nur ein Drittel der Be-
stände der beiden Museen seien digitali-
siert. Auf die Frage, wie lange das dauern
werde, heißt es: „mehrere Jahre“. Entge-
gen der immer wieder gehörten Klage, die
Digitalisierung Hunderttausender Objek-
ten sei unmöglich neben der laufenden Ar-
beit zu schaffen, hält die Regierung den
„Personalansatz bei regulärem Betrieb“
für „angemessen“. Im Übrigen verweist
Grütters auf die von ihr zusätzlich bewillig-
ten Mittel beim Deutschen Zentrum Kul-
turgutverluste. Ein Museumsgesetz, das
die Museen verpflichtet, ihre Bestände zu
inventarisieren, zu digitalisieren und on-
line zu stellen, lehnt sie ab.
Bei den meisten parlamentarischen An-
fragen geht es um die erfragten Auskünfte
eher am Rande. Erkenntnisse stellen sich
eher zwischen den Zeilen ein. So auch hier.
Für die Regierung, das wird aus den Ant-
worten klar, geht es um zwei unterschiedli-
che Sphären: Hier der viel beschworene
„Dialog“ mit den Herkunftsländern, die
Aufarbeitung des kolonialen Kunstraubs,
die Frage nach Restitutionen. Und dort
eben die Museen mit ihren jeweiligen Unzu-
länglichkeiten. Dabei ist das eine vom an-
deren nicht zu trennen. Ohne eine neue
Kultur der Museen ist der „Dialog“ nicht
zu haben. jörg häntzschel

von kia vahland

E


r hat die berühmtesten, vielleicht
auch die schönsten Ohren der Kunst-
geschichte, lang, schmal, fein gestri-
chelt. Und doch wirkt es, steht man vor
ihm, als könne er das nicht mehr hören: kei-
ne Komplimente bitte, und erst recht keine
Ehrerbietungen in Form von Plakaten, Kaf-
feetassen, Radiergummis, Plagiaten. Lasst
mich in Ruhe, scheint Dürers Hase in sei-
nen Bart zu mümmeln, keiner von euch hat
das Zeug, mich zu kopieren.
Das stimmt. Wie flauschig sein Winter-
fell ist, in allen Nuancen von Braun und
Ocker hingetupft und mit etwas Deckweiß
an den Spitzen zum Schimmern gebracht.
Welche Freude es dem Zeichner gemacht
haben muss, aus diesem weichen Pelz spit-
ze Krallen herauswachsen zu lassen, die
klarmachen: Kein Plüschtier präsentiert
sich hier, sondern ein wilder Feldbewoh-
ner, der weiß, was er will. Seine dunklen Au-
gen könnten uns erfassen, seine Nase mag
uns erschnuppern, hier hockt nicht der
nächste Braten, sondern ein eigenmächti-
ges Gegenüber auf Ohrenhöhe. Respekt
verlangt der Zeichner, für seine Kunst und
für sein Geschöpf. Mit seinen Aquarellfar-
ben nährt er das Gedankenspiel, mit dem
sich Kinder vergnügen: Was wäre, wenn
ich als Igel, als Vogel oder eben als Hase auf
die Welt gekommen wäre? Wie fühlen sich
solche Hinterläufe an, wenn man mit gan-
zem Gewicht draufsitzt, wie weit lassen
sich diese schlaksigen Ohren biegen?
Ganz gelehriger Schüler der italieni-
schen Renaissancemeister, der Venezianer
und noch mehr Leonardo da Vincis, lädt
Albrecht Dürer zum Perspektivwechsel
ein, zur unbedingten Empathie. Sein „Gro-
ßes Rasenstück“ ist deshalb ein so mächti-


ger Dschungel, weil das Gras aus der Blick-
höhe eines Käfers und nicht aus der eines
Menschen gesehen ist. Und dem frontalen
„Maul eines Rindes“ kommt wohl nicht ein-
mal ein anderes Rind so nah wie der Mann
mit dem Zeichenblock; man hat das Ge-
fühl, das feucht atmende Vieh werde ihm
und uns gleich das Gesicht ablecken.
Die Albertina in Wien präsentiert ihre
Dürerwerke und zahlreiche Leihgaben da-
zu. Eine der besten Sammlungen des Fran-
ken befinden sich in dem Museum, und sie
stammt größtenteils aus einem schon im


  1. Jahrhundert zusammengestellten Kon-
    volut. Mit dieser Schau besinnt das Haus
    sich auf seine eigentliche Stärke: Werke
    auf Papier und Pergament, Zeichnungen,
    entstanden mit Feder, Kreide oder Aqua-
    rellfarben, zudem Holzschnitte und Kup-
    ferstiche, die Drucke also, mit denen Dürer
    ein gutes Geschäft machte. Gemälde erklä-
    ren hier die Grafiken, nicht andersherum.
    Dieser Fokus tut der Ausstellung gut, denn
    er verführt zum genauen Schauen.


Nicht immer hat die Albertina sich so zu
ihrem Charakter als Kupferstichkabinett
bekannt, nach ihrer Wiedereröffnung
2003 protzten Ausstellungen mit großen
Gemälde-Leihgaben. Seitdem aber hat
sich vieles verändert, auch das Sehen –
meinten Museumsleute damals noch, ge-
gen die Reizüberflutung an digitalen Bil-
dern nur mit der Farbenpracht ikonischer
Malerei anzukommen, so setzt sich inzwi-
schen die Einsicht durch, dass Besucherin-
nen und Besucher in Ausstellungen gerade
nicht mehr auf den schnellen Blick aus
sind, sondern endlich wieder in Ruhe hin-
gucken möchten. Jedenfalls bei großen Na-
men funktioniert das bestens. Das Amster-
damer Rijksmuseum leistete sich im Jubi-
läumsjahr Rembrandts gerade eine Aus-
stellung seiner zigarettenschachtelgroßen
Radierungen, und die Leute standen
Schlange.
Bei Dürer dürfte das erst recht so kom-
men. Begreift er die Zeichnung doch, wie
der Katalog überzeugend argumentiert,
als Medium eigenen Rechts. Beispielswei-
se die hell auf dunkel gearbeiteten „Beten-
den Hände“: Wie sich die Adern im Handrü-
cken abzeichnen, wie die Spitze des rech-
ten kleinen Fingers im Licht glänzt, das wä-
re übertrieben perfektionistisch ausgear-
beitet, handelte es sich wirklich nur um ei-
ne Vorzeichnung für den Heller-Altar. Eher
dienten solche Zeichnungen dazu, die Kun-
den in Dürers Werkstatt zu beeindrucken.
Schon Kaiser Maximilian lobte den Künst-
ler für seine Kunst auf Papier, nicht für sei-
ne Gemälde. Dürer selbst empfand die Ma-
lerei manchmal als umständlich im Ver-
gleich zur Druckgrafik, mit der man
schnell viele Blätter voller Detailfülle pro-
duzieren kann.
Und als Zeichner mag ihn gereizt haben,
welche Freiheiten das Medium bietet, wie
weit sich Experimente mit Stift und Feder
treiben lassen. Natürlich sind seine gemal-
ten Selbstporträts großartige Erkundun-
gen der eigenen Person und ihres öffent-

lichen Images. Intimer aber wirken die
Zeichnungen seiner Person. Einmal han-
tiert er mit einem Handspiegel vor seinem
nackten Körper, mannshohe Spiegel gibt
es noch nicht. Das führt zu einigen Verren-
kungen und am Ende zu einem Stückwerk:
Dem nackten Dürer schauen Betrachter so-
wohl fast von oben auf die Schulter als
auch von vorne auf das Geschlecht.
Perspektivisch mag das nicht aufgehen,
der Gesamteindruck aber ist anrührend.
Hier zeigt sich jemand, windet sich vor
dem Spiegel, drängt nach vorne und steht
doch nicht ganz stabil. Seine schönen
Locken zähmt ein angedeutetes Haarnetz,
er kommt wohl gerade aus dem Bad. Der
Blick des Mannes ist eher forschend als wis-
send, sein Körper wohlgeformt, aber nicht
heroisch. Fein moduliert und mit Deck-
weiß zum Leuchten gebracht, glänzt die
Herzensbrust; Hände, Unterarme und
-schenkel jedoch fehlen.
Wie die später in Stein gehauenen „Skla-
ven“ Michelangelos dreht sich auch diese
nicht vollendete Figur aus dem Bildgrund
heraus, tritt ins Leben, bevor ihr Schöpfer
seine Arbeit abschließen konnte. Unmittel-
bar wirkt das, aber auch fragil. Ein solches
Experiment am eigenen, bloßen Leib zu
wagen, ist auch für die Renaissance außer-
gewöhnlich und wird erst wieder von Paula

Modersohn-Beckers Selbstakt als schwan-
gere Frau eingeholt.
Der Realist Dürer trifft in der Wiener
Ausstellung auf den Phantasten Dürer.
Letzterer tobt sich vor allem in der Druck-
grafik aus. Die „Apokalyptischen Reiter“ –
nein, man möchte nicht von ihnen ange-
rempelt werden, so fanatisch, wie sie nach
vorne stürmen. Auch „Das babylonische
Weib“ auf seinem vielköpfigen Monster
macht der Offenbarung des Johannes alle
Ehre, übertrifft den Text noch an Drama-
tik. Die 16 großen Holzschnitte zur Apoka-
lypse publiziert Dürer 1498 im Eigenver-
lag, auf gut Glück.

Dem Publikum traut er einiges zu. In sei-
nen überbordenden Druckgrafiken schert
er sich kaum um den Harmoniewillen der
italienischen Kollegen, eher schon interes-
siert ihn die archaischere Formenvielfalt
Martin Schongauers. Um diesen Meister
der Grafik zu treffen, reist Dürer nach Col-
mar, doch Schongauer war im Februar
1491 gerade gestorben. Seine Blätter aber
scheinen Dürer zu ermutigen, der eigenen

Vorstellungsgabe, dem eigenen Denken
freien Lauf zu lassen. So nimmt in seinen
Arbeiten bald eine nackte Venus einen Del-
fin zwischen die Schenkel, eine feine Dame
hält sich den Tod als Schleppenträger, und
zwei badende Herren tauschen innige Bli-
cke und vielleicht ein Blümchen.
Das alles ist lang bekannt, und doch: In
so einer vielseitigen Zusammenschau wie
nun in Wien ist Dürer selten zu erleben.
Die Ausstellung kommt leiser, klarer daher
als ihre Vorgängerin im Jahr 2003, die der
Grafik beinahe zu misstrauen schien. Ob al-
lerdings vor lauter Euphorie über Dürer als
Zeichner auch sein allzu liebliches „Veil-
chen“ aus der ständigen Sammlung wieder
zuerkannt werden muss, bleibt fraglich –
gerade im Vergleich mit den herberen, si-
cher eigenhändigen Blumenstudien wirkt
diese Entscheidung nicht überzeugend.
Aufschlussreich sind da schon eher die
Überlegungen des Kurators zum Hasen: In
dessen Augen, so Christof Metzger, spie-
gelt sich keine Wolke, sondern das Fenster-
kreuz aus Dürers Atelier. Das vermeint-
liche Naturwesen ist ein Kunstgeschöpf,
und der Zeichner ist stolz darauf.

Albrecht Dürer, Albertina in Wien, bis 6. Januar. Ka-
talog (Prestel Verlag): 34 Euro (im Museum).

Diemeisten Menschen fangen hektisch
mit Aufräumen an, wenn sie nur ein paar
alte Freunde erwarten, die sie selbst einge-
laden haben. Was muss dagegen eine uner-
betene Heimsuchung durch das Staats-
oberhaupt sein? Die Ausgangslage in
„Downton Abbey“, dem Film zur Fernseh-
serie, ist königlich verfahren, so, wie es
sich das gewöhnliche Fußvolk gar nicht
vorstellen kann.
Ein Brief flattert auf das Butler-Tablett
in Downton Abbey. Seine Majestät der Kö-
nig droht sein Kommen an, auf der Durch-
reise. Der Besuch ist, des Aufwands wegen,
für alle Beteiligten ein zweifelhaftes Ver-
gnügen. Aber das Personal legt mit den Vor-
bereitungen los, als würde es auch um-
sonst den Teppich ausrollen für King
George V. Aber schon bald ziehen erste Ge-
witterwolken auf – eine Abordnung aus
London trifft ein. Der Butler des Königs,
wie sich bald herausstellen wird, einer von
mehreren Butlern, nimmt den Landsitz in
Augenschein. Sogar die Auswahl des Tafel-
silbers soll ferngesteuert werden. Grant-
ham-Butler Barrow gibt sich zu koopera-
tiv, weswegen Lady Mary (Michelle Docke-
ry) den im Ruhestand befindlichen Carson
(Jim Carter) reaktiviert, um den Besuch vor-
zubereiten.
Ach, es gibt ein ganzes Geflecht von Intri-
gen, das diesen Besuch begleitet: Violet
(Maggie Smith), die Gräfinwitwe, findet,
ihr Sohn, der Earl of Grantham (Hugh Bon-
neville), würde um sein Erbe betrogen. Sei-
ne Cousine, Lady Bagshaw (Imelda Staun-
ton) ist die Hofdame der Königin und hat,
obwohl sie selbst keine Kinder hat, irgend-
jemand anders in ihrem Testament be-
dacht. Grantham-Schwiegersohn Branson
(Alan Leech) ist kürzlich erst vom freiheits-
liebenden Iren zum Mitglied der briti-
schen Elite mutiert und deswegen dem Ge-
heimdienst suspekt. Und Carson und seine


Crew unter Deck arbeiten an der Meuterei:
Die feindliche Übernahme des Haushalts
durch ein königliches Team nebst Koch
und Zofe geht ihnen gegen die Ehre. Also sa-
botieren sie die unerwünschten Gäste im
Personaltrakt nach Kräften.
Die von Julian Fellowes ersonnene und
geschriebene Serie „Downton Abbey“ war
von 2010 bis 2015 ein solcher Schlager,
dass es kein Wunder ist, dass Fellowes jetzt
noch einmal im Kino abräumen will – ob-
wohl er inzwischen Lord Fellowes of West
Stafford heißt und nebenberuflich für die
Konservativen im Oberhaus sitzt. Viel-
leicht hatte er deswegen nicht so viel Zeit
fürs Drehbuch. Jede Wendung in diesem
Film wirkt zäh, jeder Empfang wirkt wie ei-
ne weitere konstruierte Entschuldigung,
ein paar neue Kostüme vorzuführen.
„Downton Abbey“, von Michael Engler oh-
ne große cineastische Verrenkungen insze-
niert, ist im Ergebnis tatsächlich nur etwas
für hartgesottene Fans der Serie.

Das liegt nicht an den Schauspielern,
vielleicht nicht einmal am Regisseur. Aber
dem ganzen Unternehmen fehlt das Augen-
zwinkern, das die Vergangenheit aus ge-
bührendem Abstand meist verdient. Dem
Werk von Julian Fellowes, der vor „Down-
ton Abbey“ unter anderem „Gosford Park“
für Robert Altman geschrieben hat, ist

über die Jahre irgendwie die Ironie abhan-
dengekommen. Inzwischen erzählt er von
den Crawley-Granthams und ihren hinge-
bungsvollen, sie vor allem Unbill beschüt-
zenden Domestiken, als wäre das alles sein
voller Ernst.
Fellowes, der als Schriftsteller gerne die
literarische Nachfolge von Evelyn Waugh
angetreten hätte, hatte in Romanen wie

„Snobs“ und „Past Imperfect“ noch eine ge-
sunde Skepsis gegenüber seinen Upper-
Class Helden. „In „Gosford Park“ traf die
britische Oberklasse auf amerikanische
Reisende und einen tumben Inspektor,
und es bröckelten die Fassaden. Damals
hat man gern zwei Stunden lang Mäuschen
gespielt, aber es haftete dem Film kein
Quäntchen falsche Nostalgie an. „Down-
ton Abbey“ aber steigert sich in die Sehn-
sucht nach einer Epoche hinein, die es so
nie gegeben hat. Selbst derGuardianwill
darin ein Stück „Sozialgeschichte“ sehen.
Kann es sein, dass Teile der britischen Be-
völkerung auf einen Schwindel der Unter-
haltungsindustrie hereingefallen sind, der
spätestens mit „Das Haus am Eaton Place“
in den Siebzigern begann, und inzwischen
glauben, einer wie Jacob Rees-Mogg, Boris
Johnsons Lord President of the Council, wä-
re der richtige Mann, um für die Entrechte-
ten zu kämpfen?
Obwohl dem Mann die Arroganz aus je-
der seiner betont langsam hervorgehauch-
te Silben trieft? Rees-Mogg wäre wahr-
scheinlich als Herrscher über Downton Ab-
bey glaubwürdiger als das Fabelwesen von
Earl, das sich Fellowes ausgedacht hat.
Schon in der Serie hat er es bei Lord Grant-
ham mit der Loyalität gegenüber dem Per-
sonal deutlich übertrieben, im Film aber
treibt er den Unfug so auf die Spitze, dass
Hugh Bonneville in den Kulissen herum-
irrt, als könne er selbst kaum fassen, was
er da spielt.
Mal im Ernst: Die Geschichte von
Dienstboten und Adel, die zusammenhiel-
ten wie Pech und Schwefel und eine ge-
meinsame Ehre verteidigten, ist inzwi-
schen nicht mal mehr als Legende so rich-
tig gut. In Wirklichkeit lagen das Empire
und der dazugehörige Lebensstil zu der
Zeit, in der der „Downton Abbey“-Film
spielt, schon ziemlich lange in den letzten

Zügen. Es wurde immer schwieriger, Haus-
halte mit so viel Aufwand zu führen, wie
ihn die Upper Class gewohnt war – weil das
Personal davonlief. Zu viele wollten immer
noch lieber in den Fabriken schuften, als
sich für Hungerlöhne im Haushalt ausbeu-
ten zu lassen, denn in den Fabriken läutete
wenigstens irgendwann eine Sirene den
Feierabend ein.
Schon Anfang der Zwanzigerjahre hatte
es erste Versuche gegeben, Frauen zurück
in die Dienstmädchenwelt zu treiben, in-
dem man versuchte, ihnen den Zugang
zum damals bereits eingeführten Arbeits-
losengeld wegzunehmen. Wenige Jahre
später kamen die ersten jüdischen Flücht-
linge in Großbritannien an. 20 000 Frauen
unter ihnen, die Episode gehört nicht gera-
de zu den besonders beliebten in der briti-
schen Geschichte, bekamen die Genehmi-
gung zur Einreise nur unter der Auflage,
sich für mehrere Jahre zu verpflichten, als
Dienstmädchen in einem Haushalt zu le-
ben.
Natürlich ist der Film irgendwie schön
anzusehen, und Violet, die Gräfinwitwe, ist
herrlich bissig wie immer. Ein Film, in dem
eine Schar unterbezahlter Dienstboten wie
Haussklaven von morgens um sechs bis
kurz vor Mitternacht ein blitzblank geputz-
tes Schlaraffenland für Leute herstellt, die
in ihre Vormachtstellung hineingeboren
sind, wäre eine realistischere Darstellung
der Verhältnisse. Aber die Wirklichkeit war
zugegebenermaßen noch nie besonders
amüsant. susan vahabzadeh

Downton Abbey, Großbritannien 2019 – Regie: Mi-
chael Engler. Buch: Julian Fellowes. Kamera: Ben
Smithard. Schnitt: Mark Day. Musik: John Lunn.
Mit: Hugh Bonneville, Jim Carter, Michelle Dockery,
Elizabeth McGovern, Imelda Staunton, Adam
Leech. Universal, 122 Minuten.

DEFGH Nr. 218, Freitag, 20. September 2019 HF2 11


Dem Publikum traut der
Grafiker einiges zu. Und schenkt
ihm Monster und Lebenslust

Domingo wartet ein


Jahr auf Kulturpreis


Feuilleton
DieKunsthändler-Familie
Bernheimer streitet mit
Bayern um ein Möbelstück 13

Literatur
Ansteckende Gefühle – Judith
Kuckarts Neuro-Roman
„Kein Sturm, nur Wetter“ 15

Wissen
Forscher haben aus der DNA das
Gesicht einer ausgestorbenen
Menschenart rekonstruiert 16

 http://www.sz.de/kultur

Dialog


im Chaos


Grütters äußert sich zum Zustand
ethnologischer Sammlungen

Realist und


Phantast


In Wien kann man Albrecht Dürers Meisterwerke


bestaunen – und die große Nähe zu seinen Geschöpfen


Ein Museumsgesetz, das
die Museen in die Pflicht
nimmt, lehnt sie ab

Schlaraffenland dank Sklavenhand


Die Kinoversion der erfolgreichen TV-Serie „Downton Abbey“ übertreibt es mit der Glorifizierung der britischen Vergangenheit


Viele wollten lieber in der Fabrik
schuften, als sich für Hungerlöhne
im Haushalt ausbeuten zu lassen

Im Auge des Hasen spiegelt
sich keine Wolke, sondern das
Fensterkreuz des Ateliers

FEUILLETON


Die berühmtestenOhren der Kunstgeschichte: Dürers Feldhase aus dem Jahr 1502. FOTO: ALBERTINA, WIEN

Gerade aus dem Bad? Selbstbildnis als
Akt, um 1499. FOTO: KLASSIK STIFTUNG WEIMAR


Große Zeiten: „Downton Abbey“ schwelgt in der Vergangenheit. FOTO: UNIVERSAL

HEUTE

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