Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
von hubert winkels

D


ass Künstler, besonders Schriftstel-
ler, im Innersten Melancholiker sei-
en, ist ein alter romantischer To-
pos. Im Endlichen suchen sie die feinsten
Spitzen des Unendlichen zu fassen, und ihr
Suchen bringt das Schöne als Vorschein
des Allumfassenden hervor. Die Literatur
ist hier einschlägig unterqualifiziert, ist ihr
sprödes sprachliches Ausgangsmaterial
doch endlos weit von der glücklichen Fülle
der Welt entfernt. Nun arbeiten die klugen
und dramaturgisch geschickten unter den
romantischen Köpfen an dem Problem,
das Unfassbare der Sehnsucht ohne Senti-
mentalität und Pathos in bündiger Gestalt
zu bannen. Also Tschechow werden statt
Nikolaus Lenau.
Judith Kuckart hat, blickt man zurück
auf ein gutes Dutzend ihrer Romane, Erzäh-
lungen und Theaterstücke, ein halbes Le-
ben lang Anlauf genommen, probiert und
destilliert, um aus dem emotionalen Stoff
des überwältigenden Liebeswunsches und


der profanen Zeitgenossenschaft Geschich-
ten zu entwickeln und zu einer zugleich
mitreißenden wie strengen Form zu kom-
men. Sie hat die Wünsche und die Vergeb-
lichkeitsgefühle ihrer Liebenden und Lei-
denden gekoppelt an die deutsche politi-
sche und Gesellschaftsgeschichte, an die
NS-Zeit, an die RAF-Zeit, an die Zeit der
Wiedervereinigung. Noch in ihrem neuen
Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ zitiert sie
Rainer Werner Fassbinder: „Was man tut,
soll eine Aussage sein über die Zeit, in der
es entstanden ist.“ Nur kommt dieses Zitat
in diesem Roman einer Irreführung des Le-
sers gleich. Denn Judith Kuckart nutzt die
Zeitgeschichte und den heutigen Alltag vor
allem dazu, die Listen und Tücken des fast
abstrakt aufgefassten Begehrens sichtbar
zu machen. Sie hat ihre Kunst des Destillie-
rens von grobem Gesellschaftsstoff weiter-
getrieben zur poetisch-rhetorischen Kom-
position von Feinaromen. Die motivischen
und metaphorischen Bezüge des ganz und
gar szenisch konkret aufgebauten Romans
„Kein Sturm, nur Wetter“ ergeben zu-
gleich einen narrativ durchgestalteten Es-
say über die Liebe, das Altern und den Tod.
Der Roman provoziert ein spontanes Mit-
fiebern und -leiden und will gedacht sein
wie eine Abhandlung – ein Doppelglück
für aufmerksame Leser also.
Es beginnt mit dem Aufenthalt einer
vierundfünfzigjährigen einsamen Frau
am Flughafen Tegel, der wir durch eine Ber-
liner Woche und zugleich durch ihr ganzes
Liebesleben folgen werden. Beim Bier
lernt sie einen attraktiven sechsunddreis-
sigjährigen Mann kennen, der in den
nächsten Minuten in ein Flugzeug nach
Sibirien steigt. In einer Woche kehrt er


zurück. So lange ist dieser Mann namens
Sturm so weit weg, dass sie ihr Begehren
ganz ungefährdet durch seine Präsenz auf
ihn richten kann, um in diesem Kraftfeld
die Leidenschaften und Abbrüche ihres
ganzen Lebens wieder spüren zu können.
Sie wird bis zu seinem Haus in Kreuzberg
vordringen und sie wird seine schwangere
Frau kennenlernen, eine leibhaftige Versi-
cherung gegen ungewollte Übergriffe ihrer
Träume in die Realität, und sie wird Sturm
nicht einmal dann wiedersehen, wenn er ei-
ne Woche später an derselben Stelle in ih-
rer Anwesenheit landen wird. In diese Rah-
menkonstruktion sind nun zwei langjähri-
ge Beziehungen zu Männern und eine zur
einstmals besten Freundin eingehängt,
und an ihnen befestigt wiederum eine Fül-
le weiterer Binnengeschichten, die bis zur
Schulzeit am Rande des Ruhrgebiets zu-
rückreichen. Jede dieser Geschichten ist
aus der vorhergehenden abgeleitet, meist
über die Ähnlichkeit der Gefühle, manch-
mal über scheinbar zufällige Äußerlichkei-
ten, manchmal über Metaphern oder das
Gedächtnis prägende starke Dinge, alle-
samt gleiten sie auseinander hervor und in-
einander hinein, bruchlos, in einer Bewe-
gung. Die Zäsuren der sieben Tage zwi-
schen Sturm und Nicht-Sturm bleiben äu-
ßerlich. Warum ist das so? Weil die Erinne-
rung so funktioniert, spürt die Sehnende
und weiß die Neurologin. Weil außerhalb
der Erinnerung nichts ist, weil außer der
Erinnerung alles nichts ist. Selbst die Ge-
genwart, so die mehrfach durchgespielte
Versuchsanordnung, ist immer schon ver-
gangene Zukunft. Beim ersten Mann na-
mens Viktor haben wir den temporallogi-
schen Fall, dass er in der gegenwärtigen Ge-
liebten immer schon die vorhergehende
sieht. Im Fall von Johann, dem zweiten Le-
bensgefährten, ist es umgekehrt: Sie er-
kennt in den intensiven Szenen immer
schon den Abschied, sie blickt auf ihn und
sich aus der Zukunft zurück. Die Souveräni-
tät dieser Konstruktion ist beeindruckend.
In sieben Tagen lässt die melancholische
Heldin die Liebe prägende und Liebe durch-
kreuzende Zeitstruktur der Vergangenheit
an sich vorbei- und in sich hineingleiten.
Natürlich kann man den Roman auch
vornehmlich unter sozialpsychologischen
Gesichtspunkten lesen oder existenziell-
identifikatorisch. Im ersten Fall haben wir
es mit einer älter werdenden Frau zu tun,
die sich zahlenmagisch an vergangene Lie-
ben ihres Lebens erinnert. Alle achtzehn
Jahre verliebt sie sich heftig. Jetzt ist sie
vierundfünfzig, ihre Liebhaber sind im-
mer sechsunddreißig. Sie hat Angst vor
dem Alter, sie meditiert über den Tod,

besucht den Friedhof neben dem Haus von
Sturm, erinnert sich an ihre Nahtoderfah-
rung als Kind, als sie nach einem ärztli-
chen Fehler dem weißen Rauschen schon
einmal anheimgegeben war. Selbst dieser
unheimliche Arzt bekommt eine erotische
Aura. Zudem hat die Doktorin der Medizin
nie ihrer Ausbildung gemäß gearbeitet.
Aus Angst vor den Patienten, wie es einmal
heißt. Sie hat bessere Bürojobs in diversen
Laboren und lebt in prekären Verhältnis-
sen in Berlin und mit Johann in Düssel-
dorf, auch er beruflich absteigend, schließ-
lich als Putzmann tätig.
Im zweiten, dem identifikatorischen
Fall, haben wir es mit der Bildlichkeit des
meist männlich gedachten einsamen Fla-
neurs,hier also der Flaneurin und der trau-
rigen Liebhaberin zu tun; der ewige Regen-
mantel wandelt durch den Roman, das Zip-
po-Feuerzeug klackt, und die Anzeigen fer-
ner Städte an der Abflugtafel des Flugha-
fens klacken ebenfalls mechanisch und me-
lancholisch. Dies alles, so gefühlsmäßig an-
steckend es erzählt ist („Ansteckende Ge-
fühle“ heißt die Doktorarbeit der Heldin),
wird überwölbt und geprägt von den intri-
katen zeitlichen Verhältnissen zwischen
Gegenwartsglück und Nachträglichkeit,

und wie sie die Erzählweise selbst bestim-
men. Gehen wir an einer willkürlich ausge-
wählten Stelle einer der Binnengeschich-
ten, eine gute Seite lang, etwas genauer
nach: Die Heldin besucht in der Erzählge-
genwart (Sturm in Sibirien) den Friseur;
dieser geht in ein Kabuff, um Kaffee zu ma-
chen, und zwar so, wie sie es aus der Zeit
kennt, da sie als ausgebildete Ärztin auf
der Neurochirurgie gearbeitet hatte; da-
mals erfuhr sie bei der Morgenbespre-
chung von den Einlieferungen der Nacht;
der Friseur fragt nach Milch und Zucker;
sie sieht auf die Uhr; es ist kurz vor vier; sie
ist vierundfünfzig (drei mal achtzehn); mit
achtzehn hatte sie Viktor kennengelernt;
der war sechsunddreißig (zwei mal acht-
zehn); mit sechsunddreißig hatte sie den
gleichalten Johann kennengelernt; dass
sie im Alter noch schöner werde, hatte Jo-
hann damals gesagt; ein noch so eben jun-
ges Paar; sie saßen auf der Kühlerhaube ei-
nes weißen Mercedes, ein immer wieder-
kehrendes Bild des Glücks im Roman; das
hatte sie mit Worten beschreiben wollen,
als es sich einstellte, obwohl sie keine
Schriftstellerin war; und dann saß ihre

Oma, die sie großgezogen hatte, in ihrer
Vorstellung auf einmal mit auf dem Merce-
des und erzählte ihr von einem Apfelbaum
von früher, unter dem sie im Kinderwagen
gelegen und „die Unterseite seiner Blätter
angestrampelt“ hatte; ob das der Augen-
blick des wirklichen Glücks war, fragt sie
sich; was ihr die Neuropsychologie dar-
über sagen kann; ob das Studium des Ge-
hirns hilft, die Frage zu beantworten, die
sich durch das ganze Buch zieht: Wo sind
die Erinnerungen, wenn man sie nicht hat.
Das ist eine verdichtete Kette der Erinne-
rungsfolgen, aus denen „Kein Sturm, nur
Wetter“ besteht. Jeder Moment verschiebt
sich rasch zu einem anderen hin, alle sind
an einer Vorstellung vom Glück orientiert,

das sich immer wieder und unaufhaltsam
entzieht, und alle spiegeln sich ständig
und in häufig wiederkehrenden Bildern in-
einander. Die Struktur der Erzählung ist
auf Wiederholung angelegt, ähnlich wie
die Erfahrung des Lebens selbst. Wiederho-
lung mit Variation – und einem gewissen
verhaltenen Furor. Das erinnert sicher
nicht zufällig bei der aus Wuppertal stam-
menden früheren Tänzerin und Choreogra-
fin Judith Kuckart auch an ihr Vorbild Pina
Bausch, die in ihrem Tanztheater einzelne
Gefühle tanzen ließ, bis sie eine strenge
Form dafür fixieren konnte. Und dies häu-
fig zur Musik des Tangos. Auch eine Bühne
mit Tango tanzenden Paaren könnte man
im Roman sehen; kein Fado, dazu will die
Erzählung zu viel; ein Tango; ein Paar lässt
sich vorne an den Bühnenrand reißen und
verschwindet sogleich wieder im Hinter-
grund; aufstrahlend und weg!

Judith Kuckart: „Kein Sturm, nur Wetter“. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2019. 221 Seiten, 22 Eu-
ro.

In diesem Sommer lief ein Gerücht durch
Paris über einen bevorstehenden Editions-
coup im Herbst mit einer Startauflage von
250 000 Exemplaren. Falls damit der nun
gerade aus dem Nachlass erschienene Ro-
man „Les quatre coins du coeur“ (Die vier
Winkel des Herzens) von Françoise Sagan
gemeint war, wäre das übertrieben gewe-
sen. Das bei Plon herausgekommene Buch
startet mit 70 000 Exemplaren.
Die dort erzählte Geschichte wäre ein ty-
pischer Sagan-Stoff, dessen Fäden die Au-
torin mit der behenden und spitzen Nadel
ihres Stils zum quirligen Liebesrätsel hätte
vernähen können. Ein Industriellensohn
in der französischen Provinz überlebt nach
einem schweren Autounfall als scheinba-
rer Invalider, wird von seiner habgierigen
Frau schikaniert und verachtet, verliebt
sich aber in deren Mutter, seine Schwieger-
mutter, der auch sein Vater verfällt. Statt
diese Story schön kraus zusammen zu hä-
keln, hat die Autorin sie, wahrscheinlich in
den Achtziger- oder Neunzigerjahren, of-


fenbar ziemlich flüchtig heruntergeschrie-
ben, wie sie das vorab in ihrer späteren Le-
benszeit manchmal machte, um ihre im-
mense Steuerschuld abzutragen. Viel-
leicht blieb der Text deshalb liegen.

Sagans Sohn Denis Westhoff, der drei
Jahre nach ihrem Tod 2004 schließlich das
Erbe und damit auch die Schuldenlast
übernommen hat, erklärt nun im Vorwort
des Buchs, dass er erst spät auf dieses Ma-
nuskript aufmerksam geworden sei. Lan-
ge lag es zunächst in den Händen von Sag-

ans Pflegerin, die daraus gern einen Film
hätte machen lassen. Als Westhoff schließ-
lich des Manuskripts habhaft wurde, muss-
te er die lose zusammengehefteten Blätter
mit einem anderen Konvolut in Verbin-
dung bringen, um es als – unvollendeten –
Roman zu erkennen. Wie er selber gesteht,
habe er den Text „behutsam“ im Stil seiner
Mutter vervollständigt. Da blitzen zwar
manchmal Sagans berühmte Personen-
und Situationsbeschreibungen auf, die wie
Peitschenschläge im Reich der Gefühle
knallen. Das Ganze wirkt aber reichlich be-
müht und unausgegoren. Es fehlt ihm der
Pfiff, den die Schriftstellerin am besten
auf sich selbst anzuwenden verstand,
wenn sie etwa in einem fiktiven Nachruf
auf sich selber einmal schrieb: „Machte
1954 auf sich aufmerksam mit einem
schmalen Roman, ‚Bonjour Tristesse‘, der
einen weltweiten Skandal auslöste. Ihr Hin-
scheiden nach einem so angenehmen wie
hingepfuschten Leben und Werk war nur
noch für sie selber ein Skandal“. jhan

Die Schriftstellerin Dana von Suffrin wird
für ihren Roman „Otto“ mit dem Klaus-Mi-
chael-Kühne-Preis für das beste deutsch-
sprachige Debüt des Jahres ausgezeichnet.
Der von der Kühne-Stiftung bereitgestell-
te Preis wird seit 2010 jährlich im Rahmen
des Harbourfront Literaturfestivals in
Hamburg verliehen und ist mit 10 000 Eu-
ro dotiert. „Dana von Suffrin gelingt mit ih-
rem Debüt eine eigenwillige Erzählung
über einen Familienpatriarchen, der bis
zum allerletzten Tag den Widrigkeiten des
Lebens seinen Trotz entgegensetzt“, erklär-
te die Jury. Zuletzt wurden Philipp Weiss,
Fatma Aydemir und Dimitrij Kapitelmann
mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis aus-
gezeichnet. sz

Barack Obama hat so gut vom Telepromp-
ter abgelesen, dass seine Reden nicht abge-
lesen wirkten. Donald Trump liest auch
manchmal vom Bildschirm ab, er punktet
bei seinen Anhängern aber lieber mit im-
pulsiven Ausfällen. In beiden Fällen zeigt
sich die Macht – und das Risiko – der „frei-
en Rede“. Im Deutschen bezeichnet der Be-
griff zweierlei: die Rede ohne Manuskript
und die Meinungsfreiheit. Beides ist nicht
dasselbe, hängt aber miteinander zusam-
men. Wer zu den Menschen spricht, sollte
nicht zu elitär, zu präpariert wirken, son-
dern inspiriert und spontan. Darum ist die
Geschichte der Stegreifrede ein ständiger
Kampf um Glaubwürdigkeit, von der Anti-
ke bis heute.
Diese Geschichte erzählt Johan Schloe-
mann, Redakteur im SZ-Feuilleton, in dem
Buch „I have a dream“. Die freie Rede fin-
det er in Volksversammlungen, Kirchen,
Gerichtsverhandlungen, Hörsälen, in Thea-
ter und Literatur, in revolutionären Mo-
menten und in erregten Parlamenten – bis
hin zu den Konferenzen der Digital- und
Kreativindustrie und Youtube-Kanälen.
Oft hat man mit der freien Rede ein Verlan-
gen nach Erweckung oder nach politischer
Freiheit verbunden, nach einer lebendigen
Debattenkultur. Am Ende stellt sich die
Frage: Hat sie im Zeitalter von Soundbites
und Twitter noch eine Chance? sz

Johan Schloemann:„I have a dream“. Die Kunst der
freien Rede. Von Cicero bis Barack Obama. Verlag
Ansteckende Gefühle C. H.Beck, München 2019. 288 Seiten, 24 Euro.

Wo sind die Erinnerungen, wenn man sie nicht hat?
Judith Kuckarts beeindruckender Neuro-Roman „Kein Sturm, nur Wetter“

Verwinkelte Herzen


Ein bisher unveröffentlichter Roman von Françoise Sagan


Kühne-Preis an


Dana von Suffrin


Françoise Sagan
wurde 1935 in Süd-
frankreich geboren.
Ihr Debütroman
„Bonjour Tristesse“
machte sie weltbe-
rühmt.
FOTO: MAX SCHELER

Johan Schloemann


über die freie Rede


Man könnte in dem Roman
eine Bühne mit
Tango tanzenden Paaren sehen

Die motivischen Bezüge ergeben


einen Essay über


die Liebe, das Altern, den Tod


DEFGH Nr. 218, Freitag, 20. September 2019 (^) LITERATUR HF2 15
Der Flughafen wirkt in Kuckarts Roman wie ein Schutzschild gegen kommende Enttäuschungen. FOTO: BLOOMBERG/GETTY IMAGES
VON SZ-AUTOREN
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