Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
von matthias kolb, oliver meiler
und nadia pantel

P


lötzlich haben sie Platznot im Hot-
spot von Lampedusa. Es gibt dort
Raum für 95 Neuankömmlinge, für
Flüchtlinge also, die von Libyen oder Tune-
sien aus das zentrale Mittelmeer überquer-
ten und jetzt auf der italienischen Insel
identifiziert werden sollen. Nun aber sind
in dem Auffanglager 240 Menschen unter-
gebracht, so gut es eben geht. Auch in Kala-
brien, auf Sardinien und Sizilien landen
seit Wochen wieder mehr Migranten an, in
den vergangenen drei Tagen allein waren
es 300. Alle setzten an Bord kleiner Boote
über – „autonom“, wie die Italiener sagen.
Sie wurden also nicht auf halber Flucht von
privaten Hilfsorganisationen oder von der
Küstenwache aus Seenot gerettet.
September, das ist bereits klar, ist der
erste Monat in diesem Jahr, in dem die
Zahl der Ankömmlinge höher ist als im Vor-
jahr. Nur eine kleine Trendwende, die viel-
leicht vor allem auf das Wetter zurückgeht.
Politisch ist sie aber höchst brisant – für Ita-
lien, aber letztlich auch für Deutschland
und andere EU-Länder. Italien hat erst seit
einigen Tagen eine neue, eher linke Regie-
rung, sie ist zusammengesetzt aus Cinque
Stelle und Sozialdemokraten. Und der ist
viel daran gelegen, dass der ehemals star-
ke Mann in Rom, der gestürzte Innenminis-
ter und Vizepremier Matteo Salvini von
der rechten Lega, möglichst nicht vermisst
wird. Wenn jetzt aber über Nacht wieder
mehr Migranten nach Italien kommen, lie-
fert das Salvini viel Stoff für seine Kampa-
gne. „Schande“, twittert er, „die Häfen sind
wieder offen.“


Das stimmt zwar so nicht. Auch die neue
Regierung lässt Rettungsschiffe nur dann
einlaufen, wenn sich genügend europäi-
sche Länder finden, die bereit sind, einen
Teil der Flüchtlinge bei sich aufzunehmen.
Zudem kamen auch in der Amtszeit Salvi-
nis ständig Migranten mit sogenannten
Geisterschiffen an, mit Booten also, die un-
ter dem Radar durchgingen, auch unter
dem medialen. Schlagzeilen machten die
Hafenschließungen und die Kraftproben
des Rechtspolitikers mit den Seenotret-
tern. Wenn nun ausgerechnet kurz nach
Salvinis Sturz mehr Flüchtlinge anlegen,
könnten viele denken, das liege am Regie-
rungswechsel. Aus Sicht der neuen Koaliti-
on wäre das fatal, Salvinis Gunst im Volk,
die zuletzt geschwunden ist, würde bald
wieder zulegen. Seine Lega ist bei Umfra-
gen noch immer stärkste Partei im Land.
Deshalb wirbt Giuseppe Conte, der alte
und neue Premier, seit einer Woche mit
viel Leidenschaft für mehr europäische So-
lidarität bei der Steuerung der Migrations-
flüsse und hofft dabei vor allem auf die
wichtigsten Partnerstaaten, auf Deutsch-
land und Frankreich. Am kommenden
Montag, beim Migrationsgipfel von fünf
EU-Innenministern in Malta, will man
über Lösungen sprechen. Neben Italien,
Frankreich und Deutschland sind Malta
und, für die EU-Ratspräsidentschaft, Finn-
land vertreten. Berlin und Paris haben Con-
te mehr oder weniger konkret Hilfe zuge-
sagt – als Teil einer Koalition der Willigen,
um Italien zu entlasten. Der deutsche In-
nenminister Horst Seehofer (CSU) nannte
vergangene Woche sogar eine genaue Quo-
te: 25 Prozent. Deutschland sei bereit, je-
den vierten Migranten, der im zentralen
Mittelmeer aus Seenot gerettet werde, bei
sich aufzunehmen. Seehofer wurde des-
halb auch in der Union kritisiert. Man dür-
fe keine Anreize schaffen, „dass die Schlep-
perfunktion sozusagen zur Dauereinrich-
tung wird“, sagte etwa Mike Mohring, der
CDU-Spitzenkandidat bei den Thüringer
Landtagswahlen im Oktober. Das wieder-
um veranlasste Seehofer am Donnerstag


dazu, sich zu verteidigen. Seehofer will auf
EU-Ebene endlich vorankommen. Der
Preis dafür, die Aufnahme von Bootsflücht-
lingen, erscheint ihm gering. Im Juli 2018
habe man begonnen, ihre Aufnahme zuzu-
sagen, in 15 Monaten seien nur 225 aus See-
not Gerettete gekommen. Das sei „Lichtjah-
re entfernt von einer Veränderung der Mi-
grationspolitik der Bundesregierung“.
Ziel der drei Länder und des Gipfels in
Malta ist es, den Ad-hoc-Verteilungsmo-
dus, der bisher bei jeder Anlandung müh-
samst und mit zig Telefonaten umgesetzt
wurde, einigermaßen zu automatisieren.
Noch sind aber viele zentrale Fragen offen.
Sollen nur Kriegsflüchtlinge verteilt wer-
den, wie die Franzosen es wollen, oder
auch Wirtschaftsflüchtlinge? Seehofer
machte da keinen Unterschied. Wo wird
entschieden, welcher Ankömmling ein
Recht hat, umgesiedelt zu werden: noch an
Bord oder erst an Land? Und wer entschei-
det das? Ist es möglich, dass die Anlegehä-
fen am Mittelmeer künftig wechseln, da-
mit nicht immer die nächstgelegenen si-
cheren Häfen angesteuert werden?
Die Franzosen sind dagegen, dass auch
mal ein Schiff etwa nach Marseille gelotst
wird. Außerdem ist Frankreich nur bereit,
Menschen aufzunehmen, die aus Seenot
gerettet worden sind. Das jedenfalls ist der
Stand nach Emmanuel Macrons Besuch
diese Woche in Rom. Es war eine Art Aus-
söhnungsvisite, nachdem sich die alte Re-
gierung – und Salvini im Speziellen – da-
vor 14 Monate lang mit dem Élysée gestrit-
ten hatte.

Die Italiener hofften nun, der französi-
sche Präsident würde wie Seehofer eine
Quote für die Übernahme von Migranten
nennen. Doch Macron beließ es zunächst
bei vagen Zusagen. Was zählte, war das gu-
te Klima. Durch die neue Regierung in
Rom gebe es jetzt „ein Zeitfenster der Mög-
lichkeiten“, in dem auch eine Grundsatzre-
form des EU-Asyl-Systems verhandelt wer-

den könne, sagte Macron. Er plädiert
schon lange für neue europäische Regeln.
Da mag es verwundern, dass er gleich-
zeitig innenpolitisch einen Rechtsruck in
der Asylpolitik einleitet. In einer Rede vor
Mitgliedern seiner Partei La République
en Marche (LREM) sagte er am Montag,
dass er „das einfache Volk“ stärker schüt-
zen wolle, das „mit der Einwanderung le-
ben müsse“. Man sei „oftmals zu lasch un-
ter dem Vorwand, humanistisch zu sein“.
Macron sagte, dass vor allem die weniger
Einkommensstarken seine rechtsradikale
Konkurrentin Marine Le Pen wählten.

Mit seiner neuen Strategie, sich „dem
Thema der Migration zu stellen“, will Ma-
cron Le Pen in genau dem Bereich angrei-
fen, in dem sie die radikalsten Positionen
vertritt, bei der Einwanderung. Schon jetzt
regt sich Protest im linken Flügel von
LREM, 15 Abgeordnete haben sich öffent-
lich für eine „menschenfreundliche Ein-
wanderungspolitik“ starkgemacht. Zum
neuen Kurs passt, dass Macron nur Men-
schen an einem etwaigen Verteilungsme-
chanismus teilhaben lassen möchte, die
ein Recht auf Asyl haben. Für die „schnelle-
re Rückführung“ von Wirtschaftsmigran-
ten fordert er „europäische Mittel“.
In Brüssel wird in diesen Tagen jedes
Statement aus Paris, Berlin und Rom auf-

merksam registriert, denn dort fallen die
Entscheidungen. Die EU schaut der Debat-
te von außen zu. In Malta wird sie durch
Kommissar Dimitris Avramopoulos vertre-
ten sein. Der Grieche ist seit 2014 für Migra-
tion zuständig und bemüht sich seither um
Kompromisse zwischen den Partnerstaa-
ten – meist vergeblich. Man stehe auch
jetzt bereit, die Bemühungen mit den EU-
Agenturen „operationell und finanziell“ zu
unterstützen, heißt es aus der Kommissi-
on. Mehr kann die Behörde bei der Koordi-
nierung von Such- und Rettungseinsätzen
auf dem Mittelmeer nicht tun. Da liegt die
Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten.
Doch der Abgang Salvinis hat in Brüssel
die Hoffnung geweckt, dass der „Neustart“
in der Migrationspolitik, wie ihn die desi-
gnierte EU-Kommissionschefin Ursula
von der Leyen ankündigte, tatsächlich ge-
lingen kann. Ein Gesetzespaket hängt seit
Jahren fest. Viele Länder pochen auf struk-
turelle Änderungen, und nicht alle schi-
cken Emissäre nach Malta. Da und dort
wird die Sorge laut, dass eine kurzfristige
Lösung, wie sie nun die „Willigen“ ins Auge
fassen, einen größeren Wurf zum Asyl er-
schweren könnte. Ein möglicher Kompro-
miss in Malta, so finden etliche Regierun-
gen, wäre nur ein Anfang.
Ist das zu optimistisch? Polen und Un-
garn zum Beispiel blockieren dauerhaft.
Und in Spanien muss schon bald neu ge-
wählt werden, was einen großen Reform-
elan ebenfalls hemmt. Das „Zeitfenster“
mag gerade günstig sein. Lange bleibt es
aber wohl nicht offen.

Da geht jetzt was


Rom,Paris und Berlin versuchen, die Blockade in der europäischen Asylpolitik aufzubrechen. Ein Modell
für die Verteilung von Bootsflüchtlingen nimmt Formen an – Horst Seehofer treibt es mit voran

Gut 450 Kilometer lang und 30 Kilometer
tief soll die „Sicherheitszone“ werden, die
sich der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdoğan wünscht, entlang der türkischen
Grenze auf syrischem Gebiet. Dort will die
Türkei dann Häuser, Straßen, Schulen bau-
en für „zwei bis drei Millionen Flüchtlinge“.
Auch aus Europa könnten Syrer in diese
Zone umgesiedelt werden. Die EU sollte
die Idee unterstützen, sagt Erdoğan. „Wir
erwarten Taten.“ Der Vorschlag soll offen-
bar Kritik an einer türkischen Militäraktion
entkräften. Denn das Gebiet, das die Tür-
kei mit den USA – oder notfalls auch allei-
ne – östlich des Euphrat „sichern“ will,
wird derzeit noch von kurdischen Milizen
beherrscht. Nun ist kaum zu erwarten,
dass die EU bei einer Besatzung Syriens
mitmacht. Alternativ dürfte Ankara dann
mehr Geld fordern für die Flüchtlingsbe-
treuung. Dass die zugesagten sechs Milli-
arden Euro nicht reichten, hat Erdoğan zu-
letzt schon mehrfach gesagt. CSC

Erdoğans Zone


DieDeutschen kümmerten sich mehr um
ihr eigenes Wohl als um das ihrer Familie.
Auch ältere Menschen seien ihnen weniger
wichtig. Andererseits legten sie mehr Wert
darauf, dass Frauen und Männer gleichbe-
rechtigt sind. Dies sind Beispiele dafür, wel-
che kulturellen Unterschiede ein Teil der
Flüchtlinge in Deutschland zwischen der
Bundesrepublik und ihren Herkunftslän-
dern sieht. Eine Studie dazu stellten am
Donnerstag der Sachverständigenrat deut-
scher Stiftungen für Migration und Inte-
gration (SVR) und die Robert Bosch Stif-
tung in Berlin vor.
Angebliche oder tatsächliche kulturelle
Unterschiede entfachen immer wieder
hitzige Debatten über Migration und Inte-
gration. Wie fremd sind die Vorstellungen
der Neuankömmlinge? Inwiefern lassen
sie sich auf Grundwerte in Deutschland
ein? Hierzu will der SVR weitere Antworten
liefern. Forscher haben für die Studie
369 Flüchtlinge befragt. Diese stammen
aus den wichtigsten Herkunftsländern wie
Syrien, Afghanistan, dem Irak oder Iran.
Die Ergebnisse seien nicht repräsentativ
für alle Asylsuchenden, bildeten aber die
Haltung vom „Gros“ der seit 2014 Gekom-
menen ab, heißt es in dem Bericht.
Zwei zentrale Erkenntnisse der Studie
sind besonders bemerkenswert: Mehr als
die Hälfte der befragten Migranten nimmt
zwischen ihrem Herkunftsland und
Deutschland keine kulturellen Unterschie-
de wahr, sofern es nicht um den Umgang
mit Familie und Homosexuellen geht. Und
falls sie doch Unterschiede feststellen,
könnten sie damit „sehr leicht“ oder „eher
leicht“ umgehen. Eine fehlende Bereit-
schaft, sich auf kulturelle Unterschiede ein-
zulassen, sei nach den Ergebnissen der Be-
fragung nicht festzustellen, sagt der Autor
der Studie, Timo Tonassi.
Inhaltlich konzentriert sich Tonassi je-
doch auf die Geflüchteten, die Unterschie-
de wahrnehmen. So soll die Untersuchung
Erkenntnisse darüber liefern, wo aus Sicht
der Migranten die größten Hürden kultu-
reller Integration liegen. Im Zentrum ste-
hen dabei Fragen der sexuellen Orientie-
rung und des familiären Zusammenhalts.
Viele Flüchtlinge sind der Ansicht, dass in
ihrer Heimat Familien generell einen höhe-
ren Stellenwert genießen. So stimmten
67 Prozent der Aussage zu, dass sich Deut-
sche mehr um sich selbst als um ihre Fami-
lie sorgen. Für fast 38 Prozent dieser Be-
fragten sei es „eher schwer“ oder „sehr
schwer“, mit diesem Unterschied umzuge-
hen. Nur 56 Prozent der Geflüchteten glau-
ben indes, dass es der Mehrheit der Deut-
schen wichtig sei, älteren Familienmitglie-
dern Respekt entgegenzubringen und sich
um diese zu kümmern, wohingegen Men-
schen in ihren Herkunftsländern mehr auf
Ältere achteten. 20,5 Prozent gaben an, da-
mit „eher schwer“ klarzukommen, für
16,7 Prozent sei es „sehr schwer“. Ganz ähn-
lich verhält es sich mit den Zahlen zum The-
ma Homosexualität. 89 Prozent haben den
Eindruck, dass es den Deutschen wichtig
sei, dass Homosexuelle rechtlich gleichge-
stellt sind – über die Menschen in ihrem
Herkunftsland sagten das nur 30 Prozent.
Mehr als 18 Prozent gaben an, dass ihnen
der Umgang damit sehr schwer fällt,
21,5 Prozent finden es „eher schwer“.
Die Studie zeigt zudem Wege auf, kultu-
relle Unterschiede verständlicher zu ma-
chen oder gar zu nutzen. Besonders wich-
tig seien dafür Alltagserfahrungen und Be-
gegnungen, sagt Cornelia Schu, die Direk-
torin des SVR-Forschungsbereichs. „Das
kann in Schulen, Büros oder bei Veranstal-
tungen sein. Es liegt ein Stück weit auch an
uns allen, wie gut der Integrationsprozess
gelingt.“ benjamin emonts

2 HF2 (^) THEMA DES TAGES Freitag,20. September 2019, Nr. 218 DEFGH
Ankunft auf Lampedusa: In jüngster Zeit landen wieder mehr Flüchtlinge in Italien an, hier Menschen, die vergangene Woche vom RettungsschiffOcean Vikingauf
ein Schiff der Küstenwache umgestiegen sind. FOTO: ALESSANDRO SERRANO/AFP
Blick
auf die Deutschen
Welche kulturellen Unterschiede
Migranten wahrnehmen
In Umfragen ist Salvinis
rechte Lega noch immer
die stärkste Partei in Italien
Innenpolitisch gibt sich
Frankreichs Präsident Macron
bei der Migration eher hart
Europa und die MigrantenAlle sindunzufrieden damit, aber geändert wird trotzdem nichts – so lässt sich der Streit
der EU-Staaten über die europäischen Asylregeln zusammenfassen, seit Jahren ringen sie vergeblich um eine Reform.
Nun wollen einzelne Staaten für das Mittelmeer eine Lösung finden. Der Zeitpunkt dafür scheint günstig zu sein
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