Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
von olaleye akintola

E


s beginnt mit dem Lächeln eines
Mannes, der die anderen allein
durch das Strahlen seiner Zähne
überzeugt. Ein Werbespot eines deut-
schen Zahnpastaherstellers, die Bot-
schaft: „Lache, solange du noch kannst.“
Oder eben: Verwende deine Zähne nicht
zum Knacken von Hendl-Knochen, son-
dern zum Lächeln. Damit, so der An-
schein, knackt man so manch harte
menschliche Nuss.
Eine Straße in München, unweit des
Sendlinger Tors. Hier stehe ich an einem
ganz normalen Spätsommertag und läch-
le wie ein Engel. Vier Stunden lang soll
das so gehen, und über all dem steht mei-
ne Forschungsfrage: Wie viele Lächler be-
komme ich von den Münchnern zurück?
Das Ergebnis ist enttäuschend. Acht posi-
tive Reaktionen in vier Stunden. Und jede
Menge Passanten, die mich entweder irri-
tiert oder mit einer Mischung aus Überra-
schung und Überheblichkeit anschauten.
Habe ich es beim Lächeln übertrieben? Je-
denfalls reichten die vier Stunden nicht
aus, um meinen Bedarf an lachenden Ge-
sichtern zu decken.


Meine Erhebung stammt aus dem Jahr


  1. Damals, kurz nach meiner Ankunft
    in Bayern, war ich im Studium der Münch-
    ner Gesichter noch ein Novize. Ich tat
    mich schwer damit: Jeden Morgen an der
    Bushaltestelle sieht man in diese verstei-
    nerten Mienen. Und abends ein sehr ähn-
    liches Bild: Man grüßt, und als Antwort
    bekommt man eine Mimik, wie man sie
    von Boxern kennt, wenn sie gerade einen
    Kampf verloren haben. Vielleicht muss
    das so sein, in einer Gesellschaft, die früh
    aufsteht, acht oder mehr Stunden arbei-
    tet – und dann danach wieder heimfährt.
    Vielleicht formt dieses Leben Grimassen,
    die an einen rachsüchtigen Löwen erin-
    nern.
    Natürlich kann es sein, dass die Leute
    so reagieren, weil ein dunkelhäutiger
    Mann vor ihnen steht. Klar, dass man
    sich auch selbst hinterfragt: Warum bin
    ich der einzige, der kichernd die Straße
    entlang geht? Also versuchte ich nur noch
    mitten auf der Straße loszulachen, wenn
    mir ein Kumpel wieder mal einen Witz
    aufs Handy geschickt hat. Nun aber hin-
    terfrage ich auch das: Warum eigentlich?
    Und spätestens, seit mir Freunde hier ge-
    sagt haben, dass ich auf Fotos oft grantig
    schaue, mache ich mir Gedanken. Manch-
    mal befürchte ich, dass mir mein Sinn für
    Humor verloren gegangen ist.
    In Nigeria packt man Probleme an, in-
    dem man sie zur Komödie macht und dar-
    über lacht. Man sagt, dass sich das Pro-
    blem dann schämt und abgestraft fühlt.
    Wobei es sicherlich nicht schadet, My-
    then und Emotionen von Fakten und Rea-
    litäten zu trennen – und im Problemfall
    auch entsprechend schaut. Aber existie-
    ren hier in Deutschland nur Probleme?
    Gibt es nicht genügend Gründe, weswe-
    gen man hier die Mundwinkel nach oben
    ziehen könnte? Ist nicht vieles in Bayern
    so, dass man vor lauter Dankbarkeit alle
    paar Minuten in die Luft springen müss-
    te? Ein wetterfestes Dach über dem wohl-
    frisierten Kopf, sichere Arbeitsplätze, ei-
    ne Krankenversicherung, die den Namen
    verdient. Und nicht zuletzt die Biergärten
    mit ihren Speisen und Getränken. „A
    hungry man is an angry man“, sagt man
    in Nigeria. Warum also soll ich Wohlge-
    nährter plötzlich drein schauen, als hätte
    mir die Bande aus dem Nachbardorf die
    Hütte angezündet?


Übersetzung aus dem Englischen: koei


Manchmal befürchtet
Olaleye Akintola,dass sein
Sinn für Humor
verloren gegangen ist.

von martina scherf

E


va Hönigschmid öffnet die Tür und
begrüßt den Besuch mit einem herz-
lichen Lächeln. „Schön, dass Sie da
sind“, sagt sie und geht voraus ins Wohn-
zimmer. Sie setzt sich aufs Sofa, Foxterrier
Nelly hüpft auf den Platz an ihrer Seite und
legt den Kopf auf ihren Schoß. „Was wollen
Sie denn wissen, ich bin doch gar nicht
wichtig“, sagt die Hausherrin. Das stimmt
aber nicht. Die Zeitzeugin wird im Februar
100 Jahre alt. Und sie ist eine der wenigen
noch Lebenden, die Mitglieder der Weißen
Rose gekannt haben. Mit Alexander
Schmorell war sie eng befreundet. Dass er
im Widerstand gegen das Nazi-Regime
war, wusste sie nicht – bis zu dem Tag, als
er sie bat, Flugblätter mitzunehmen.
Gerade ist die alte Dame von einer mehr-
tägigen Reise in ihre alte Heimat zurück ge-
kehrt. In Kvasice (deutsch Kwassitz) in der
Tschechoslowakei wird Eva von Prosko-
wetz, so ihr Geburtsname, am 6. Februar
1920 geboren. Sie wächst in einem herr-
schaftlichen Anwesen auf, ihr Großvater
hatte die erste Zuckerfabrik in Mähren ge-
gründet. Zu Hause spricht sie Deutsch, in
der Klosterschule Tschechisch, eine Privat-
lehrerin erteilt ihr Französischunterricht.
Als sie das Abitur hat, ringt sie ihrem Vater
die Erlaubnis ab, in München Chemie stu-
dieren zu dürfen. Im April 1939 kommt sie
dort an. Ein halbes Jahr vor Beginn des
Zweiten Weltkriegs.
Als leidenschaftliche Fechterin geht sie
gleich zum Unisport, „da sagte mir der Trai-
ner: Ich habe zwei junge Männer, mit de-
nen kannst du fechten.“ Es waren Chris-
toph Probst und Alexander Schmorell. In ei-
nem Saal im Hauptgebäude trainieren sie,
und besonders mit Schmorell freundet sie
sich an. „Nach dem Training gingen wir oft
noch auf ein Gläschen in eine Weinstube in
der Amalienstraße“, erzählt Eva Hönig-
schmid. Sie hat die Schmorells auch zu
Hause in ihrer Villa in der Menterschwaige
besucht. „Der Alex hatte strahlende blaue
Augen und eine russische Seele, die hat er
wohl von seiner Mutter geerbt.“
Vielleicht, so denkt sie heute darüber,
„war er tatsächlich in mich verliebt“. Doch
das habe sie damals nicht bemerkt. Sie war
ja auch schon verlobt mit ihrer Jugendlie-
be Wolfgang Hönigschmid, einem ange-
henden Arzt. Als sie schwanger ist, kehrt
sie 1940 nach Prag zurück und heiratet.
Der Krieg tobt da schon an mehreren Fron-
ten.

Eva Hönigschmid steht auf, geht zum
Bücherregal und zieht einen schmalen
beigefarbenen Band aus dem Regal. „Das
hat mir Alex zum Abschied geschenkt“,
sagt sie und klappt das Buch auf. „Für
Eva!“ steht auf der ersten Seite. Mit Tinte
auf Büttenpapier, in gestochen scharfen
altdeutschen Lettern, sind da Gedichte ei-
nes großen chinesischen Lyrikers niederge-
schrieben. „Seine Mutter hat mir später er-
zählt, Alex habe das alles nächtelang von
Hand geschrieben. Er hat es selbst in Zie-
genleder gebunden, das ist doch unglaub-
lich, oder?“ Drei Jahre lang haben sich Hö-
nigschmid und Schmorell viele Briefe ge-
schrieben. Dass sich ihr Freund in dieser
Zeit mit Hans und Sophie Scholl, Christoph
Probst und dem Musikprofessor Kurt Hu-
ber zur Widerstandsgruppe Weiße Rose zu-
sammenfindet, davon ahnt sie nichts. Nur
eines war klar: „Wir haben immer in Angst
und Sorge gelebt.“
Im Januar 1943 kehrt Eva Hönigschmid
für ein paar Tage nach München zurück
und trifft auch Alexander Schmorell. Er
weiht sie in die Pläne der Weißen Rose ein
und bittet sie, Flugblätter mit nach Prag zu
nehmen und dort zu verteilen. „Da sagte
ich ihm: Das kann ich nicht“, erzählt Eva
Hönigschmid, „ich hatte doch zwei kleine
Kinder zu Hause und mein Mann war im
Krieg.“ Sie hat das schon oft erzählt, doch
noch immer spürt man die Erregung in ih-
rer Stimme. „Ich sehe sein trauriges Ge-
sicht noch heute vor mir“, sagt sie. Es war
ihre letzte Begegnung.
Dann kommt der 18. Februar. Zweiein-
halb Wochen nach der deutschen Kapitula-
tion von Stalingrad ruft Propagandaminis-
ter Joseph Goebbels den „totalen Krieg“
aus. Und am Vormittag desselben Tages
werden Sophie und Hans Scholl im Haupt-

gebäude der Münchner Universität verhaf-
tet. Sie hatten Flugblätter verteilt und von
der Galerie des Lichthofes geworfen. Sie
wurden vom Hausmeister verraten. Wenig
später wird auch Willi Graf festgenom-
men, Christoph Probst und Alexander
Schmorell können zunächst untertauchen.
Noch am selben Tag sucht die Gestapo
Eva Hönigschmid in ihrer Wohnung in
Prag auf. Sie erinnert sich: „Es waren ein
Tscheche und ein Deutscher“, sagt sie. Sie
vermuten, Hönigschmid gewähre Schmo-
rell Unterschlupf. „Ich habe ihnen einen Sli-
wowitz hingestellt und versucht, ganz
stark zu sein, obwohl mir die Knie gezittert
haben“, erzählt sie. Eine Woche lang wird
sie rund um die Uhr beschattet. Dann plötz-
lich erhält sie einen Anruf von der Gestapo:
Man werde sie nicht mehr behelligen. „Da
wusste ich, dass sie ihn haben.“
Alexander Schmorell wird wie alle ande-
ren Mitglieder der Weißen Rose im Gefäng-
nis München-Stadelheim enthauptet. Erst
nach dem Krieg hat Eva Hönigschmid die
ganze Geschichte erfahren, sie besucht
auch die Familie Schmorell wieder. „Wie
schrecklich muss es für seine Mutter gewe-
sen sein, den Sohn zu verlieren“, sagt sie.

An Gedenktagen wird sie noch heute ein-
geladen und gebeten, aus den Briefen zu le-
sen, die Mitglieder der Weißen Rose im An-
gesicht des Todes an ihre Familien ge-
schrieben haben. „Welche Größe sie bewie-
sen haben, ist unfassbar. Kein Wort über
das eigene Leiden, nur die Sorge um die El-
tern, die Geschwister. Es waren prachtvol-
le Menschen“, sagt Eva Hönigschmid. Und
nach einer nachdenklichen Pause: „Und
heute gibt es wieder Nazis, haben denn die
Menschen nichts gelernt?“
Auf der Flucht aus der Heimat geht sie
damals zuerst nach Österreich, „doch mit
meinem deutschen Pass wurde ich dort
nicht aufgenommen“. Sie zieht weiter in
den Chiemgau, findet bei einem Landwirt
Unterschlupf. Ihr Mann ist in Nordafrika
von den Amerikanern gefangen genom-
men und in die USA gebracht worden. „Im-
merhin konnte er mir Briefe schreiben.“
1946 kehrt er zurück. „Und da begann un-

ser schönes Leben“, sagt sie und faltet die
Hände über dem Schoß. 65 Jahre lang, bis
zum Tod ihres Mannes, sind sie glücklich
verheiratet.
Wolfgang Hönigschmid eröffnet eine
Arztpraxis in München, die Familie lässt
sich im Landkreis Dachau nieder. Es kom-
men noch zwei Söhne dazu. Eva Hönig-
schmid hilft in der Praxis, spielt Orgel in
der Kirche. Sie gründet in Bergkirchen ei-
ne Gemeindebibliothek und hält lebhafte
Märchenstunden für Kinder. Heute hat sie
selbst sechs Enkel und zehn Urenkel. „Dar-
unter sind zwei halbe Marokkaner und
zwei halbe Äthiopier, ist das nicht schön?“,
sagt sie. „Da wächst die Welt zusammen.“
An ihrem 90. Geburtstag erfährt sie,
dass der Holocaust-Überlebende Max
Mannheimer (er ist 2016 gestorben) am sel-
ben Tag wie sie in Mähren geboren ist. Sie
ruft ihn an, sie treffen sich und werden
Freunde. „Wir nannten uns Zwillinge und
haben manchmal Tschechisch miteinan-
der gesprochen. Er war ein fabelhafter
Mensch.“ Mit 90 lernt sie auch noch Eng-
lisch. Sie nimmt sich einen Privatlehrer,
„und jetzt lese ich mit Begeisterung engli-
sche Krimis“, sagt sie. Bis heute ist sie Mit-
glied in einem Literaturklub, deshalb lie-
gen im Wohnzimmer immer mindestens
zwei Romane, die sie gerade liest.
Es ist Zeit für das Mittagessen. Wer da
ist, wird an den Tisch gebeten: neben dem
Besuch die ungarische Haushaltshilfe und
ein senegalesischer Asylbewerber. Die
Hausherrin, die alle Eva nennen, lobt die
Kochkünste der Ungarin und fängt an, mit
dem Mann aus Senegal Französisch zu par-
lieren – „so bleibe ich in Übung“.
Im Garten sind die Äpfel reif, die Rosen
blühen noch immer, die Blaumeisen pi-
cken Kerne aus dem gefüllten Futterspen-
der. „Ich liebe meinen großen Garten“, sagt
Eva Hönigschmid, „aber kommen Sie, ich
muss Ihnen noch etwas zeigen.“
Sie zieht Mantel und Hut an, pfeift ein-
mal kräftig durch die Finger, bis Nelly um
die Ecke biegt, nimmt den Rollator und
geht flotten Schritts die Einfahrt ihres
Grundstückes hinauf zur Kreisstraße. Ein
paar hundert Meter weiter steht eine Ei-
che. „Man sagt, die sei 800 Jahre alt – ein
bisschen älter als ich“, sagt sie und lacht.
„Ich kann es ja selbst nicht glauben, dass
ich bald 100 werden soll. Ich habe sehr viel
Glück gehabt in meinem Leben.“

„Ich habe viel Glück gehabt im Leben“, sagt Eva Hönigschmid.
Alexander Schmorellhat ihr ein handgeschriebenes Buch
mit chinesischen Gedichten geschenkt. Sein Foto fand die Gestapo 1943
auf ihrem Schreibtisch, als sie Hönigschmid in Prag verhörte.
FOTO/REPROS: NIELS JOERGENSEN „Heute gibt es wieder Nazis,
haben denndie
Menschen nichts gelernt?“

„Wir haben immer in Sorge gelebt“


Als Eva Hönigschmid 1939 Alexander Schmorell kennenlernt, da gibt es die Weiße Rose noch nicht. Jahre später bittet
der Widerstandskämpfer sie, Flugblätter zu transportieren. Sie lehnt ab – seinen Blick bei dieser letzten Begegnung hat sie nie vergessen

TYPISCH DEUTSCH


MÜNCHNER G’SICHTER

Schau, wie


du schaust


Eva Hönigschmid wurde
von der Gestapo eine Woche lang
rund um die Uhr beschattet

Ihre Flucht hat drei Journalisten
nach Münchengeführt.
In einer wöchentlichen Kolumne
schreiben sie, welche Eigenarten
der neuen Heimat sie mittlerweile
übernommen haben


R6 – (^) LEUTE Freitag,20. September 2019, Nr. 218 DEFGH
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