Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
Lady Hale ist mit 74 Jahren die älteste un-
ter denRichtern, die seit Dienstag ihre
Tage im Hauptsitzungssaal des Supreme
Courts verbringen, den Berühmtesten ih-
res Fachs zuhören – und Anfang kommen-
der Woche ein Urteil fällen werden. Eigent-
lich war das höchste Gericht des Landes
noch in der Sommerpause gewesen. Aber
der Fall, den es zu verhandeln gilt, wurde
als so wichtig angesehen, dass Hale die
Kollegen vorzeitig einbestellte. Schließ-
lich geht es im Kern um die Frage: Darf
der Premierminister das Parlament wo-
chenlang in eine Zwangspause schicken?
Und darf er das Unterhaus ausschalten,
weil es womöglich seine Pläne stört?
Hale sitzt mit gleich zehn Höchstrich-
tern in der Verhandlung. Das sind un-
gewöhnlich viele, was ebenfalls davon
zeugt, dass der Supreme Court dem Fall
grundsätzliche Bedeutung beimisst: Ein
Gremium aus elf Richtern hatte über die
Klage der Unternehmerin Gina Miller
nach dem Referendum 2016 beraten. Mil-
ler hatte gefordert, das Parlament, und
nicht die Regierung, müsse das Recht ha-
ben, den Brexit-Prozess in Gang zu setzen
und dabei maßgeblich mitzureden. Sie be-
kam recht. Ein Omen?
Brenda Hale steht dem Gericht mit Ge-
duld und Charme vor, sie lächelt viel, ver-
teilt freundliche Rügen bei Zeitüberschrei-
tungen der Redner, schaufelt ihre Stifte
und ihre Papiere hin und her, als räume
sie daheim den Schreibtisch auf – aber
was sie denkt, zu welcher Position sie in
diesem aufsehenerregenden Fall neigt,
das weiß niemand. Ein einziges Mal hat
Brenda Hale, die 2004 als Baroness Hale
of Richmond ins Oberhaus des britischen
Parlaments eingezogen war, ihre Mei-
nung zum Brexit-Prozess ausgesprochen:

Das Referendum von 2016, so die Lehrer-
tochter aus Leeds, sei als Volksabstim-
mung nicht „rechtlich bindend“ gewesen.
Eigentlich ein bekanntes Faktum – aber
weil sie es betonte, wurde es als möglicher
Hinweis gewertet, dass Hale dem Ergeb-
nis, dem Brexit, kritisch gegenübersteht.
Sie hat jahrelang in Teilzeit als Anwäl-
tin gearbeitet, weil sie nebenher an der
Universität Manchester Recht lehrte. Als
sie sich ihrer Arbeit als Richterin schließ-
lich in Vollzeit widmete, ging es mit ihrer
Karriere so steil bergauf, dass selbst ihr
manchmal schwindelig geworden sein
dürfte: erste und jüngste Frau in einer

Kommission, die wichtige Reformen im
Familienrecht kontrolliert, dann eine von
zwei Frauen am höchsten Berufungsge-
richt, Mitglied des wichtigen Privy Coun-
cil, eines Beratungsgremiums der Queen.
Immer weiter, immer höher, und oft war
Hale die einzige Frau. Mittlerweile ist sie
am 2009 eingerichteten Supreme Court.
Im Januar wird sie in den Ruhestand ge-
hen, dann wird sie zwei Jahre lang Chefin
des Gerichts gewesen sein – auch das, na-
türlich, als erste Frau auf diesem Posten.
Muss man erwähnen, dass Hale eine glü-
hende Feministin ist? Und dass das ganze
Land derzeit staunend auf die zugleich
zarte und mächtige Dame schaut, die wo-
möglich das Geschick des Premierminis-
ters in der Hand hat?
In einer Rede über das für die Suffraget-
ten-Bewegung entscheidende Jahr 1919,
von dem an Frauen Recht studieren konn-
ten, forderte sie, dass die Rechtswissen-
schaften diverser und weiblicher werden
müssten. Nur so könnten sie das Vertrau-
en der Bevölkerung gewinnen. Mindes-
tens die Hälfte aller Richter sollten weib-
lich sein. Hale sagte, sie schäme sich
nicht, sich als Feministin zu bezeichnen.
Jeder solle ein Vorkämpfer für Frauen
sein. Wer argumentiere, für viele Positio-
nen sei es schwer, die geeigneten Frauen
zu finden, „der sucht nicht gut genug“.
Kolleginnen schreiben ihr einen Rock-
star-Status in der Branche zu – was sich in
ihrem Verhalten jedoch nicht spiegelt. La-
dy Hale gilt als hart in der Sache, aber
auch als warm, bescheiden und fleißig. Ei-
ne kleine Ablenkung vom Alltag, über die
sie selbst lächelt, hat sie sich aber doch ge-
leistet: Sie hat 2018 in der Jury einer Koch-
show gesessen und einen Preis für gutes
Essen vergeben. cathrin kahlweit

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von sonja zekri

D


er kanadische Premier Justin Tru-
deau kämpft um seine Wieder-
wahl, und seit ein paar Stunden
sind seine Chancen deutlich gesunken.
Die ZeitschriftTimehat ein Foto aus dem
Jahr 2001 veröffentlicht, das Trudeau,
damals 29 Jahre alt, auf der Abschlussga-
la einer exklusiven Privatschule in Van-
couver zeigt, wo er als Lehrer unterrichte-
te. Darauf trägt er einen wulstigen wei-
ßen Turban mit keckem Federbusch zu
einem irgendwie kaftanartigen Gewand.
Gesicht und Hände sind dunkel ge-
schminkt. Das Thema der Kostümpartie
war „Arabische Nächte“, Trudeau ging als
Aladin.
Seitdem das Foto bekannt wurde, ist
Trudeau sehr damit beschäftigt, sich in
den Staub zu werfen, was seinen politi-
schen Gegnern naturgemäß nicht impo-
niert. Trudeau habe sich des „Blackfa-
cing“ schuldig gemacht, sein Make-up
sei rassistisch gewesen, so die Oppositi-
on. Dass Trudeaus teerschwarze Hand
auf dem Alabaster-Dekolleté einer Frau
ruhte, machte es nur schlimmer. Warum
also sollten seine Gegner darauf verzich-
ten, den Diversity-Euphoriker und Min-
derheiten-Liebling Trudeau als Heuchler
zu entlarven?
Der Fall ist mehr als nur eine Episode
der kanadischen Innenpolitik. In der Ri-
gorosität einer rückwärtsgewandten mo-
ralischen Erwartung hat der Angriff auf
den kanadischen Premier durchaus et-
was Exemplarisches – auch für die Erwar-
tungen an Politiker hierzulande.
Moralische Maßstäbe ändern sich.
Was gestern unmöglich oder undenkbar
war, ist heute Ausdruck individueller Frei-
heit, was vor Jahrzehnten nur als ge-
schmacklos galt, kann inzwischen Karrie-
ren beenden. Zweifellos ist es ein zivilisa-
torischer Gewinn, dass „Blackfacing“ aus
der Mode gekommen ist und damit die

Auffassung, dass eine dunkle Hautfarbe
an sich bereits witzig, exotisch oder auf je-
den Fall bemerkenswert ist. Auch weiße
Othello-Darsteller in der Oper oder im
Theater schminken sich nicht mehr.
Selbstverständlich wäre es wünschens-
wert gewesen, dass sich diese Einsicht
schneller durchsetzt, aber inzwischen
hat sich immerhin herumgesprochen,
dass, sagen wir, die Figur des Sarotti-
Mohren auch problematische Züge hat.

Eine völlig andere Frage ist es aller-
dings, wie sehr das Licht heutiger Er-
kenntnis auch in die Vergangenheit strah-
len kann. Natürlich hätte der 29-jährige
Trudeau mehr Sensibilität für Fragen der
Herkunft und der Hautfarbe an den Tag
legen können, zumal in Kanada. Das
sieht er ja selbst genauso. Aber er hat kein
fremdes Land überfallen und niemanden
vergewaltigt. Justin Trudeau hat sich vor
fast 20 Jahren auf einer Kostümparty als
Aladin geschminkt.
Nur wird dieser historische Abstand ir-
relevant, wenn soziale Medien die Verfeh-
lungen von Politikern seit dem Teenager-
alter lückenlos abrufbar und politisch
nutzbar machen, und ein weit zurücklie-
gendes Fehlverhalten gegenüber Minder-
heiten, Frauen – dem Klima! – so unnach-
sichtig verurteilt wird wie eine Geheim-
dienstpanne im Kalten Krieg.
Der totale Anspruch an eine makellose
Lebensführung trifft gerade nicht die
Trumps und Orbáns, die Putins und John-
sons, sondern oft eben diejenigen, die
sich für den Wandel einsetzen. Mit glaub-
würdigem Engagement für sozialen Fort-
schritt hat er nichts mehr zu tun, denn er
ist unerfüllbar – jedenfalls für Menschen
ohne Wunderlampe.

von thomas hahn

N


iemand ist schuld an einem der
größten Atomunfälle der Geschich-
te. Die Kernschmelze in drei Reak-
toren des Kraftwerks Fukushima Daiichi
2011 war ein Werk höherer Mächte. Das
hat das Landgericht Tokio entschieden
mit seinem Freispruch für die früheren
Chefs des Energiekonzerns Tepco. Die An-
klage lautete, Betreiber Tepco habe wis-
sen müssen, dass Reaktoren an der Küste
des Erdbebenlandes Japan besonderen Ri-
siken durch Riesenwellen ausgesetzt sind.
Das Gericht sagt, so etwas könne man
nicht wissen. Es sagt sogar: Einem Kern-
kraftwerkbetreiber sei nicht zuzumuten,
jede Laune der Natur vorherzusehen.
In Zeiten von Klimawandel und steigen-
den Meeresspiegeln ist so eine Urteilsbe-
gründung bedrückend. Ist es also in Ord-
nung, dass man die Wetterextreme, wel-
che Experten seit Jahrzehnten ankündi-
gen, einfach so auf sich zurollen lässt?
Weitsichtige Wissenschaftler und aufge-
klärte Regierungen finden das zum Glück
nicht okay. Sie ringen mit geschärftem
Umweltbewusstsein um eine Zukunft, in
der den Menschen die verheerendsten
Überraschungen erspart bleiben. Aber ge-
rade erzkonservativ regierte Länder wie
Japan neigen dazu, globale Grundsatzthe-
men kleinzuspielen und letztlich im eige-
nen Sinne so weiterzumachen wie bisher.
Vorsichtsmaßnahmen sind in Japan
ein prägender Aspekt des gesellschaftli-
chen Lebens. Man trägt Mundschutz, um
sich keinen Schnupfen zu holen. Man lässt
möglichst wenige Zuwanderer ins Land,
damit die Sicherheit nicht leidet. Man
stellt überall Verbotsschilder auf, damit
auf gar keinen Fall irgendein Nachbar ge-
stört wird. Aber wenn Vorsorge teuer ist
oder gar einen echten Bewusstseinswan-
del erfordert, dann ist die Angst vor der
Veränderung größer als die Angst vor dem
Risiko. Die Atomkatastrophe von Fukushi-

ma ist in dieser Hinsicht ein entlarvendes
Ereignis für Japans Staatenlenker gewe-
sen. Nicht nur, dass mangelnde Weitsicht
viele Japanerinnen und Japaner im Um-
kreis des Kraftwerks ihre Heimat gekostet
hat. Achteinhalb Jahre danach ist nicht
einmal zu erkennen, dass die Katastrophe
zu einem echten Umdenken geführt hat.

Neulich, am Abend seiner Ernennung,
hat der neue, junge Umweltminister
Shinjirō Koizumi zur Überraschung vieler
gesagt, dass er gerne prüfen würde, ob ein
Atomausstieg für Japan zu machen sei.
Aber im Grunde traut sich die Regierung
von Premier Shinzō Abe keine echte Ener-
giewende zu. Die Aufräumarbeiten laufen
weiter. Einheimische kehren allmählich
in evakuierte Gebiete heim. Mit bewun-
dernswerter Beharrlichkeit kämpfen sich
die Betroffenen in ihr Leben zurück. Aber
Japans Regierende wirken versunken in
ihrer umweltvergessenen Wirtschafts-
und Japan-first-Politik, bei der natürlich
niemand laut darüber nachdenken darf,
dass es ein Irrtum war, die Reaktoren von
Fukushima damals nicht besser vor dem
Meer geschützt zu haben.
Die Hightech-Nation Japan könnte ein
Vorreiter nachhaltigen Lebens sein. Man-
che Firmen zeigen längst, dass sie wichti-
ge Zukunftsideen haben. Dafür müsste
Japans Regierung und Energieindustrie je-
doch besser verstehen, dass die Themen
Umwelt- und Klimaschutz nicht nur guter
Stoff für Sonntagsreden sind, sondern für
eine naturnahe, nachhaltige Katastro-
phenvorbeugung stehen. Zumindest soll-
te im Inselstaat kein hoher Verantwortli-
cher mehr so tun, als wüsste man nicht,
wie viel höher die Wellen durch den stei-
genden Meeresspiegel schlagen können.

E


s ist ein Satz, der an die Kanzlerin
erinnert – aber er stammt ausge-
rechnet von dem Mann, der in den
vergangenen Jahren Angela Merkels här-
tester Gegner war. Es sei „unglaublich“,
dass man sich für die Rettung von Men-
schen vor dem Ertrinken rechtfertigen
müsse, hat Horst Seehofer jetzt geklagt.
Der Innenminister reagierte damit auf
Vorwürfe, bei der Aufnahme aus Seenot
Geretteter zu großzügig zu sein. Und er
klang dabei wie die Kanzlerin. Die hat be-
kanntlich gesagt, wenn man sich dafür
entschuldigen müsse, in Notsituationen
ein freundliches Gesicht zu zeigen, dann
sei das nicht ihr Land. Nun sind CSU-Politi-
ker schon immer Meister der Kehrtwen-


den gewesen. Markus Söder zum Beispiel
ist auf einmal so grün wie das Shrek-Kos-
tüm, das er in der Franken-Fastnacht ge-
tragen hat. Aber Seehofers Wende ist so-
gar für CSU-Verhältnisse erstaunlich.
Der Minister weist zwar zu Recht darauf
hin, dass er schon lange einen „Dreiklang
aus Humanität, Integration und Begren-
zung“ verlange. Aber er wird selbst wissen,
dass er bisher die Begrenzung viel stärker
betont hat als die Humanität. Wenn er jetzt
die Humanität in den Vordergrund rückt,
mag das auch daran liegen, dass er sich um
sein Image sorgt: Seehofer will nicht als po-
litischer Destructivus ins Geschichtsbuch
eingehen. Richtig ist sein neuer Kurs trotz-
dem. robert roßmann

M


an muss in Moskau nicht mal
mehr zum Protest gehen, son-
dern nur zufällig in der Nähe ste-
hen, um unter die Räder der Richter zu ge-
raten.Die Behörden wollen die Leute offen-
bar so verunsichern, dass diese auf ihren
Sofas bleiben und Staatsfernsehen schau-
en. Es scheint, als testeten sie dafür die pas-
sende Dosis anPolizeigewalt und Strafen.
Nun haben die Behörden überdosiert, und
das Gegenteil erreicht: mehr Protest.
Sie sind zu weit gegangen bei Pawel Us-
tinow, der ins Gefängnis muss, nachdem
er grundlos geschlagen wurde. Wenn je-
mand so unschuldig ist wie Ustinow, kippt
die Stimmung von Frustration in Solidari-
tät um. Dabei haben auch Schauspieler-


kollegen Ustinows geholfen, die die Öffent-
lichkeit suchten. Nun wirft dieses Beispiel
mehr Licht auf Ungerechtigkeiten, wie sie
in den Moskauer Prozessen auch mehrere
Demonstranten erleiden mussten.
Die Menschen unterschreiben offene
Briefe, halten Schilder hoch. Die Behör-
den können dagegen schlecht die Polizei
schicken. Die stellt sich ohnehin als Mittel
mit Nebenwirkungen heraus. Niemand
nimmt es ernst, wenn ein Nationalgardist
Schmerzen empfinden will, weil jemand
eine leere Plastikflasche nach ihm wirft.
Damit will man nur Demonstrierende als
gewalttätig hinstellen. Wenn Richter das
nicht mehr ernst nehmen würden, fiele
das System zusammen. silke bigalke

I


m April vergangenen Jahres wurde es
publik: Die Staatsanwaltschaft ver-
dächtigte die Leiterin der Bremer Au-
ßenstelle des Asylbundesamtes, zusam-
men mit Anwälten Hunderte Asylentschei-
dungen manipuliert zu haben, zugunsten
von Flüchtlingen. Schnell wurde aus dem
Verdacht ein vermeintlicher Fakt, Politi-
ker und Medien riefen: Skandal! Nach und
nach aber schienen die Vorwürfe in sich zu-
sammenzufallen, seither ist der Tenor der
Geschichte: Politik und Medien bauschen
Lappalien auf, um eine gutherzige Behör-
denchefin zu diskreditieren – Skandal!
Nun liegt die Anklage gegen diese Frau
und zwei Anwälte vor, ihnen werden
121Straftaten zur Last gelegt. Welcher


Skandal ist nun der gültige? Man weiß es
noch immer nicht, man kann nur hoffen,
dass ein Gericht alles aufklärt.
So lange sollten sich Politiker und Jour-
nalisten mit ihren Urteilen zurückhalten,
zumindest jetzt sollten sie sich nicht mehr
gegenseitig aufschaukeln im Empören
oder Abwiegeln. Über den Verdacht zu dis-
kutieren und zu berichten ist legitim, ja,
zwingend bei einem Vorwurf dieser Di-
mension, der das Vertrauen in das Asylsys-
tem erschüttert. Aber zu Beginn der Er-
mittlungen zu richten, ob die Akteure
schuldig sind oder nicht, ob sie rechtswid-
rig oder einfach nur menschlich und des-
halb korrekt gehandelt haben, das war vor-
schnell und falsch. bernd kastner

B


eschaulich war das Stelldich-
ein, ganz ohne Krach und Rei-
bereien. Vor zwei Wochen tra-
fen die Bundestagsgrünen sich
in Weimar zur Fraktionsklau-
sur. Man stimmte allerlei Papiere ab, stell-
te 72 Forderungen zur Klimarettung auf
und überlegte abends bei Wein und Him-
beermousse, was die Grünen in der nächs-
ten Bundesregierung so alles anstellen
könnten. Das Blöde nur: Die Ruhe war trü-
gerisch, nur dass das in Weimar eben
kaum jemand bemerkte. Der Fraktion
steht nun ein harter Richtungsentscheid
bevor, und auch die Partei muss sich
warm anziehen. Denn sie ist drauf und
dran, vor lauter Zuspruch die Abzweigung
in die Zukunft zu verpassen.
Am Dienstag werden die Bundestags-
grünen sich eine neue Fraktionsspitze
wählen. Das war eigentlich als Routine-
übung gedacht, die langgedienten Frakti-
onsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt
und Anton Hofreiter sollten im Amt bestä-
tigt werden. Vor zwei Jahren wurde die bei-
den zwar bereits mit eher schwachem Er-
gebnis wiedergewählt. Aber es sehnt sich
bei den Grünen derzeit kaum jemand
nach Umsturz. Kein Wunder.


Seit Annalena Baerbock und Robert Ha-
beck an der Grünenspitze stehen, geht es
der Partei so gut wie nie zuvor. Nach Jahr-
zehnten als Kampf- und Zoffpartei sind
die alten Flügelkämpfe eingeschlafen. Die
Rollenverteilung zwischen Parteispitze
und Fraktion funktioniert wie ein geöltes
Räderwerk. Der Wähler dankt es mit Um-
fragewerten, die bei gut 20 Prozent liegen,
jedenfalls noch. In vielen Großstädten,
und zwar in West wie Ost, stellen Grünen-
wähler inzwischen nicht nur die Mehr-
heit, sondern auch ein selbstbewusstes,
gut gebildetes Wahlbürgertum, zu dem
von Kirchenleuten über Zahnärztinnen
bis zu jungen Antifa-Rebellen so ziemlich
alle gehören dürfen. Auf der Straße postu-
lieren Schüler Klimaziele, die grüner
kaum sein könnten. Und selbst die CSU
behauptet jetzt, im Herzen immer schon
irgendwie öko gewesen zu sein.
Grüner wird’s nicht in Deutschland.
Fast 40 Jahre nach ihrer Gründung ist die
einstige Krawallpartei im Zustimmungs-
himmel angekommen – und wirkt im In-
nern so verunsichert wie lange nicht. Das
grüne Spitzenpersonal schleicht in diesen
Tagen wie auf Zehenspitzen herum. Die
Umfragen befinden sich in leisem Sink-
flug, die Landtagswahl in Thüringen könn-
te enttäuschend ausfallen. Und dann ist


da die Sache mit Cem Özdemir. Der ehe-
malige Parteichef will nach einer zweijäh-
rigen Kunstpause überraschend an die
Spitze der grünen Bundestagsfraktion,
mit der Fraktionsnovizin Kirsten Kappert-
Gonther. Die beiden sind jetzt auf Werbe-
tour, und je länger sie dauert, desto nervö-
ser werden ihre Parteifreunde. Nicht weni-
ge Grüne wollen Özdemir verhindern. Der
Schwabe ist einer der besten Redner sei-
ner Fraktion, hat türkische Eltern, was die
Grünen schmückt. Aber er hat sich den
Ruf eines Systemsprengers erworben, gilt
als persönlich schwierig, mimosenhaft,
zur Teamarbeit nicht begabt.
Wer schon mal Ärger mit Özdemir hat-
te, kann solche Bedenken nachvollziehen.
Der Zank, den der 53-Jährige gern mal
vom Zaun bricht, ist nichts für harmonie-
bedürftige Gemüter. Özdemir würde sich
wohl auch nicht fügen ins neue Erfolgsor-
chester. Dort spielen die Parteivorsitzen-
den die erste Geige, während die Frakti-
onsspitze sich mit der Triangel begnügt.
Dafür taugt Özdemir nicht. Er ist in Wort
und Gestus das Gegenstück zum baro-
cken Klimafürsten Anton Hofreiter, aber
auch zum Herzenslinken Robert Habeck.
Obsiegt Özdemir in der Fraktion, ist
Schluss mit Bussibussi. Scheitert er, dann
an der eigenen Persönlichkeit.
Die Grünen aber müssen sich die Frage
stellen, warum eine Personalie wie diese
eigentlich so vieles ins Rutschen bringt.
Es hängt jetzt nicht nur der grüne Hausse-
gen schief. Es wird in diesen Tagen auch
offenbar, wie schnell die Stimmung kip-
pen kann bei den Grünen. Von einer Par-
tei, die über Monate rundum beklatscht
wurde, die von der politischen Konkur-
renz beneidet und kopiert wird, sind es
nur ein paar Schritte hin zu internen Rau-
fereien und Richtungsstreit.
Genau darauf aber ist die Partei nicht
vorbereitet. Denn im Rausch des allgemei-
nen Grünenhypes – und auch dank Ha-
beck’scher Wohlfühlrhetorik – sind viele
harte Debatten auf die lange Bank gescho-
ben worden. Wie sollen eigentlich die
72Klimaziele finanziert werden, die bei
der Klausur in Weimar präsentiert wur-
den? Von einem Bundesinvestitionsfonds
ist da die Rede, auch von allerlei Öko-und
Wildnisfonds. Für jede Idee, die die Grü-
nen präsentieren, soll ein Staatstopf Milli-
onen ausspucken. Für eine Partei, die
Eigeninitiative immer hochgehalten hat,
klingt das überraschend etatistisch. Auch
beim Thema Migration drückt man sich
um unbequeme Konzepte und es fehlen
Ideen zur digitalisierten Arbeitswelt.
Jedermann zu gefallen, von ganz links
bis weit hinein in die bürgerliche Mitte,
das bringt Applaus, aber es macht auf
Dauer nicht stark. Den Grünen steht das
größte Stück Arbeit noch bevor.

Die „Märchen aus 1001
Nacht“ sind mit Abstand das
einflussreichste Erzählwerk
arabischer Sprache. Die Ge-
schichten, die die junge She-
herezade tausendundeine Nacht lang
dem zornigen König erzählt, damit dieser
sie nicht umbringt wie die anderen Jung-
frauen vor ihr, wurden unzählige Male
adaptiert, nacherzählt, weitergedichtet.
Trotzdem sieht sich Disney dem Vorwurf
ausgesetzt, mit seinen Aladin-Blockbus-
tern selbstherrlich arabisches Kulturgut
auszuschlachten, als seien die Araber in
200 Jahren Kolonialgeschichte nicht ge-
nug ausgenommen worden. Der Haken
an der Sache: Nach aktueller Quellenlage
taucht Aladin, in den sich der heutige ka-
nadische Premier Justin Trudeau vor vie-
len Jahren verkleidete, in den überliefer-
ten Manuskripten der „Märchen aus 1001
Nacht“ nicht auf, sondern kann erstmals
1712 in der französischen Übersetzung
von Antoine Galland nachgewiesen wer-
den. Eine arabische Vorlage wurde bis
heute nicht gefunden, auch wenn Gal-
land in seinem Tagebuch notierte, er ha-
be die Geschichte in Paris von einem ma-
ronitischen Christen aus Aleppo gehört.
Ob das stimmt oder ob sich Galland das
Märchen einfach ausgedacht hat, weiß
heute niemand. Es ist aber nicht ganz un-
wahrscheinlich, dass es sich bei „Aladin
und die Wunderlampe“ am ehesten um
ein französisches Märchen handelt. fxs

4 HF3 (^) MEINUNG Freitag,20. September 2019, Nr. 218 DEFGH
FOTO: VACLAV SALEK/AP
JUSTIN TRUDEAU
Mensch ohne Wunderlampe
JAPAN
Doch sie fürchten sich nicht
SEEHOFER
Meister der Kehrtwende
RUSSLAND
Das System geht zu weit
ASYLBUNDESAMT
Vorschnelles Urteil
sz-zeichnung: kittihawk
GRÜNE
Fluch des Erfolges
von constanze von bullion
AKTUELLES LEXIKON
Aladin
PROFIL
Brenda
Hale
Rockstar des
Supreme Court
und Feministin
Der Anspruch an eine makellose
Lebensführung trifft gerade
nicht die Trumps und Orbáns
Der Atomkatastrophe von
Fukushima zum Trotz macht
die Regierung weiter wie bisher
Der Partei geht es besser denn
je. Doch es könnte sich rächen,
allen gefallen zu wollen

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