Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
von ralf wiegand

Bremen– Nie zuvor in der Kriminalge-
schichte des Bundeslandes Bremen haben
so viele Ermittler gleichzeitig an der Auf-
klärung eines Falls gearbeitet. Die polizeili-
che Ermittlungsgruppe 501, Rufname „An-
trag“, zählte in der Spitze 45 Köpfe. Seit
Mai 2018 recherchierten sie die Details zu
einem Fall, der seinen eigenen Wikipedia-
Eintrag hat, er heißt dort „die Bremer
Bamf-Affäre“. Nun haben die Ermittler ih-
re Arbeit weitgehend abgeschlossen, die
Staatsanwaltschaft Bremen hat ihre
Schlüsse gezogen und das Landgericht
eine Anklage auf dem Tisch: 121 Straftaten
werden der früheren Leiterin der Bremer
Außenstelle des Bundesamts für Migrati-
on und Flüchtlinge (Bamf) sowie zwei auf
Asylrecht spezialisierten Anwälten aus Hil-
desheim und Oldenburg vorgeworfen.

Die drei Angeschuldigten sollen nach
Darstellung der Staatsanwaltschaft über
einen Zeitraum von fast vier Jahren hin-
weg unter anderem Verstöße gegen das
Asyl- und Aufenthaltsrecht begangen, sich
der Vorteilsannahme und -gewährung
schuldig gemacht, Urkunden gefälscht
und Dienstgeheimnisse gebrochen haben.
So sei ein System der Willkür entstanden,
heißt es in der Anklageschrift, dieSüddeut-
sche Zeitungund NDR einsehen konnten.
Vor allem die einstige Bremer Bamf-Leite-
rin Ulrike B. und der Hildesheimer Rechts-
anwalt Irfan Çakar hätten, wie es heißt,
nach Gutdünken und rechtswidrig dafür
gesorgt, dass abgelehnte Asylbewerber in
Deutschland bleiben konnten oder dass
Rückführungen in andere europäische
Länder wie Rumänien, Bulgarien, Spanien
oder Frankreich verhindert wurden.
Ulrike B. halten die Ermittler dabei per-
sönliche Motive vor, so habe sie etwa den
Rechtsanwalt Çakar zutiefst verehrt. Die-
ser wiederum habe B.s Zuneigung ausge-
nutzt, um seinen Mandanten den Verbleib
in Deutschland zu ermöglichen – und dar-
an gut zu verdienen. Die Staatsanwalt-
schaft rechnet vor, dass Çakar mit diesem
nach ihrer Ansicht geschäftsmäßigen Asyl-
missbrauch mehr als 50 000 Euro an
Anwaltshonoraren verdient habe. Der
zweite angeschuldigte Anwalt Cahit T. soll
gut 10 000 Euro verdient haben.
„Die Staatsanwaltschaft kriminalisiert
die anwaltliche Tätigkeit“, sagte Çakar am
Donnerstag auf Anfrage von NDR und SZ,
„wie jeder andere Anwalt auch habe ich
von meinen Mandanten Geld erhalten. Dar-
an ist nichts kriminell. Versteuert habe ich
die Einnahmen im Übrigen auch“. Der an-
gebliche finanzielle Vorteil für Ulrike B.,
die Çakar so ergeben gewesen sei, dass sie
ihm sogar behördenintern als „nur für den
Dienstgebrauch“ gekennzeichnete Ver-
schlusssachen weitergeleitet haben soll,
nimmt sich dagegen bescheiden aus: Die
Ermittler glauben nachweisen zu können,
dass sie zweimal in einem Hildesheimer

Hotel auf Çakars Kosten übernachtet habe,
für insgesamt 130 Euro. Das fällt bei Beam-
ten unter Korruption.
Für die Staatsanwaltschaft spielt zu-
nächst keine Rolle, wie vielen Asylbewer-
bern tatsächlich zu Unrecht der Aufenthalt
in Deutschland gewährt wurde. Nach einer
internen Überprüfung des Bamf von mehr
als 13 000 in Bremen positiv beschiedenen
Anträgen sind lediglich 28 wieder zurück-
genommen worden, gegen einige dieser
Korrekturen haben die Betroffen erfolg-
reich geklagt. Anfangs stand der Verdacht
im Raum, mehr als 1200 Verfahren könn-
ten manipuliert worden sein. Solche Zah-
len kursierten in internen Berichten des
Bamf, das letztlich selbst Anzeige gegen
die Bremer Außenstelle erstattete.

Politisch schlug der Skandal Wellen.
Noch bevor die Bremer Ermittler über-
haupt tief ins Aktenstudium eingestiegen
waren, hatte Innenstaatssekretär Stephan
Mayer (CSU) sein Urteil offenbar schon ge-
fällt. In der Talkshow „Anne Will“ sagte er,
in Bremen hätten „hochkriminell kollusiv
und bandenmäßig mehrere Mitarbeiter
mit einigen Rechtsanwälten zusammenge-
arbeitet“ – eine Äußerung, die ihm später
gerichtlich untersagt wurde. Die Leiterin
des Bundesamts, Jutta Cordt, wurde im Zu-
ge der Affäre abgesetzt, Innenminister
Horst Seehofer machte die Aufklärung zur
Chefsache, der Innenausschuss des Bun-
destages ließ sich laufend informieren.
Die Angeschuldigten haben die Vorwür-
fe stets bestritten, wobei nur der Anwalt

Çakar sich bisher öffentlich geäußert hat.
Bereits im März sagte er Reportern von SZ
und NDR, es sei rechtens gewesen, dass er
mit seinen Mandanten aus Hildesheim
nach Bremen gegangen sei. Die dortige
Bamf-Chefin habe sich für das Schicksal
seiner Mandanten – hauptsächlich in ih-
ren Heimatländern verfolgte Jesiden –
wirklich interessiert. Unter Asylanwälten
habe das Bremer Bamf „den Ruf gehabt,
wenigstens halbwegs zu funktionieren“,
sagte der Anwalt, die dortige Leiterin habe
das Asylrecht „human ausgelegt“. Es sei
aber „niemals Geld“ zwischen ihm und der
Bamf-Beamtin geflossen, „und es sind kei-
ne Asylbescheide rechtswidrig ergangen“.
Die Hotelrechnungen habe er von Ulrike B.
erstattet bekommen.  Seite 4

Stuttgart– DieGrünen in Baden-Würt-
temberg liegen nach einer neuen Umfra-
ge zur Landtagswahl 2021 bei 38 Pro-
zent. Das geht aus der am Donnerstag
veröffentlichten Befragung von Infra-
test dimap für den SWR und dieStutt-
garter Zeitunghervor. Die 38 Prozent
sind der höchste Wert, den Infratest
dimap nach eigenen Angaben bundes-
weit jemals für die Grünen gemessen
hat. Ministerpräsident Winfried
Kretschmann sieht die Umfragewerte
als Bestätigung für seine Entscheidung,
zur Landtagswahl 2021 noch einmal
anzutreten. „Dann habe ich ja offenkun-
dig die richtige Entscheidung gefällt“,
sagte er. „Aber wir bleiben auf dem
Teppich, auch wenn er fliegt.“ dpa


An diesem Freitag ruft „Fridays for Futu-
re“ zum weltweiten Klimastreik auf. In
Deutschland wird in mehr als 500 Städten
demonstriert, die Organisatoren erwarten
mehrere Hunderttausend Teilnehmer. Hin-
ter dem Protestaufruf steht ein Bündnis
aus mehr als 200 Initiativen. Ziel ist, den ge-
sellschaftlichen Druck auf die Politik zu er-
höhen. Am Samstag beginnt in New York
der UN-Klimagipfel, außerdem stellt die
Bundesregierung in Berlin die Ergebnisse
ihres Klimakabinetts vor. Seit neun Mona-
ten gehen die Anhänger von „Fridays for
Future“ auf die Straße. Sie kritisieren, die
Politik unternehme nicht genug, um die
Klimakrise einzudämmen.

Wo wird in Deutschland demonstriert?
Die meisten Teilnehmer werden in Berlin
vor dem Brandenburger Tor erwartet. Ne-
ben der „Fridays for Future“-Demo sind
Fahrraddemonstrationen und Straßenblo-
ckaden angekündigt, am Nachmittag wird
es einen Rave der Berliner Clubszene ge-
ben; auf der Spree sollen Boote den Protest
ins Regierungsviertel bringen. In Ham-
burg, München, Köln, Freiburg und Leip-
zig finden ebenfalls große Kundgebungen
statt. Auch in vielen kleineren Gemeinden
wird gestreikt, wie im oberbayerischen
Garmisch-Partenkirchen, im brandenbur-
gischen Finsterwalde und in Gerolstein in
der Eifel. Gut 300 000 Demonstranten wa-
ren beim ersten globalen Streik im März in
Deutschland unterwegs.

Wo wird im Ausland gestreikt?
Weltweit gehen am Freitag womöglich
mehr als eine Million Menschen auf die
Straße. Die Bewegung beschränkt sich
nicht auf Industriestaaten wie die USA,
Großbritannien oder Japan, sie erreicht
auch Kasachstan, Honduras oder die Elfen-
beinküste. In mehr als 150 Ländern wird
demonstriert. Allein in den USA sollen
mehr als 900 Proteste stattfinden.

Wie geht es danach weiter?
Die Demos am Freitag sind Auftakt einer
ganzen Klimawoche. „Fridays for Future“
buchstabiert an sieben Aktionstagen den
Begriff „Climate“ aus. Von C wie „Clean oce-
ans“ über I wie „Ice landscapes“ bis E wie
„Earth“. Jeder Tag steht unter einem eige-
nen Motto. Zentrale Veranstaltungen fin-
den hierzulande unter anderem in Berch-
tesgaden, Coburg, Frankfurt am Main und

Bonn statt. Los geht es am Samstag mit ei-
ner Demo an der Ostseeküste von Stral-
sund, wo die Klimaschützer am Beispiel
des bedrohten Schweinswals auf die Ver-
schmutzung der Meere aufmerksam ma-
chen wollen.

Am Sonntag steht Köln im Fokus, wo die
Klimaschützer gegen die Rodung von Wäl-
dern mobil machen werden. Am Tagebau
Garzweiler wird „Wissen macht Ah!“-Mo-
derator Ralph Caspers mit Demonstranten
über die negativen Folgen des Braunkohle-
abbaus sprechen. Köln ist ein Hotspot der
Klimawoche. Die Aktivisten wollen direkt
vor dem Rathaus ein Streikcamp mit Zel-
ten und Pavillons errichten und sieben Ta-
ge lang durchstreiken. Ähnliche Klima-
camps finden in Kiel und Bonn statt.
Bis zum 27. September sind mehr als
400 Veranstaltungen geplant. An diesem
Samstag wird in vielen Städten, darunter
in Bonn und Erfurt, gemeinsam Müll ge-
sammelt. In Stuttgart treffen sich am Sonn-
tag Aktivisten zum Picknick auf der Bun-
desstraße 14, um für einen kostenlosen öf-
fentlichen Nahverkehr zu protestieren. In
Landau in der Pfalz wollen die Aktivisten
gemeinsam meditieren und Yoga machen.
Und wer Bonn von einer anderen Seite ken-

nenlernen möchte, kann sich einem kon-
sumkritischen Stadtspaziergang anschlie-
ßen. Außerdem sind in Dutzenden Städten
Aktionen wie Kleidertauschpartys, ge-
meinsames Singen und Tanzen sowie
Workshops zu nachhaltigem Konsum ge-
plant. Am Freitag endet die Klimawoche
mit den „Earth Strikes“, etwa in Bonn,
Nürnberg und Verden.

Wer wird demonstrieren?
In Deutschland stehen Gewerkschaften,
Kirchen, Flüchtlingshelfer und Wissen-
schaftler hinter „Fridays for Future“. Zur
Teilnahme am Freitag sind zwar erstmals
alle Menschen aufgerufen – doch Arbeit-
nehmer müssen sich dafür freinehmen. Po-
litische Streiks sieht das deutsche Gesetz
nicht vor, nur Gewerkschaften dürfen im
Rahmen von Tarifverhandlungen zu
Streiks aufrufen. Wer ohne Erlaubnis
streikt, riskiert eine Kündigung, warnen
Arbeitsrechtler. Die Gewerkschaften be-
grüßen deshalb die Teilnahme am Klima-
streik nur außerhalb der Arbeitszeit.
Jedoch hat etwa die Stadt Düsseldorf ih-
ren Mitarbeitern erlaubt, während der
Dienstzeit zu protestieren. Auch Unterneh-
men wollen dabei sein, der Axel-Springer-
Verlag hat zum Beispiel angekündigt, sei-
nen Mitarbeitern am Freitag freizugeben;
und der Lkw-Hersteller Scania will welt-
weit seine Produktion für eine Stunde un-
terbrechen. thomas balbierer,
max gilbert, lukas wittland

6 HMG (^) POLITIK Freitag,20. September 2019, Nr. 218 DEFGH
Potsdam– In Brandenburg steuern
SPD, Union und Grüne Koalitionsver-
handlungen über ein Dreierbündnis an.
Dafür sprachen sich am Donnerstag alle
drei Parteiführungen aus. Es wäre die
erste sogenannte Kenia-Koalition unter
Führung der SPD in Deutschland. Eine
CDU-geführte Kenia-Koalition gibt es
bereits in Sachsen-Anhalt. Im Branden-
burger SPD-Vorstand stimmten elf von
zwölf anwesenden Mitgliedern für die
Verhandlungen – bei einer Gegenstim-
me. Der Grünen-Parteirat empfahl
nach längerer Diskussion auf Grundla-
ge eines Eckpunktepapiers ebenfalls
Verhandlungen, entschieden wird aber
erst am Samstag auf einem Kleinen
Parteitag. Auch die Landesspitze der
CDU stimmte mehrheitlich dafür. dpa
Anklage in der Bamf-Affäre
Die Staatsanwaltschaft wirft der Ex-Chefin des Asylbundesamtes in Bremen und
zwei Anwälten 121 Straftaten vor. Sie sollen Flüchtlingen illegal geholfen haben
Karlsruhe– Im Fall des ermordeten
Kasseler Regierungspräsidenten Walter
Lübcke ermittelt die Bundesanwalt-
schaft gegen den Hauptverdächtigen
nun auch wegen einer weiteren Bluttat.
Der in Untersuchungshaft sitzende
Stephan E. stehe im Verdacht, am 6.
Januar 2016 in Lohfelden im Kreis Kas-
sel versucht zu haben, einen irakischen
Asylbewerber zu töten, teilte die Bun-
desanwaltschaft am Donnerstag in
Karlsruhe mit. Er soll dem Mann von
hinten mit einem Messer in den Rücken
gestochen und ihn dabei schwer ver-
letzt haben. Grund für die Tat soll da-
nach die rechtsextremistische Weltan-
schauung von Stephan E. gewesen sein,
was die Übernahme der Ermittlungen
durch die Bundesanwaltschaft ermögli-
che. Der CDU-Politiker Walter Lübcke
war Anfang Juni auf der Terrasse seines
Wohnhauses im nordhessischen Wolfha-
gen bei Kassel mit einem Kopfschuss
getötet worden. Der rund zwei Wochen
nach der Tat festgenommene Hauptver-
dächtige Stephan E. hatte zunächst ein
Geständnis abgelegt, dieses später aber
widerrufen. dpa
Ottawa– Ein Partyfoto aus dem Jahr
2001 hat den kanadischen Premiermi-
nister Justin Trudeau(FOTO: REUTERS)mit-
ten im Wahlkampf in Bedrängnis ge-
bracht. Das vomTime-Magazin geposte-
te Bild zeigt ihn im Alter von 29 Jahren
mit dunkel geschminktem Gesicht,
Gewand und Turban auf einer Kostüm-
party. In einer Reaktion übte sich der
Regierungschef am Mittwoch in Selbst-
kritik und entschuldigte sich postwen-
dend. Bei dem Foto habe es sich um
einen rassistischen Akt gehandelt, des-
sen er sich damals nicht bewusst gewe-
sen sei. „Ich bin stocksauer auf mich,
ich bin enttäuscht von mir“, sagte Tru-
deau vor Reportern. Von seinen politi-
schen Gegnern hagelte es Kritik. Veröf-
fentlicht wurde das Foto laut dem Maga-
zin im Jahrbuch einer Privatschule in
British Columbia, an der Trudeau vor
seiner Politikerkarriere als Lehrer tätig
war. ap  Seite 4
Hamburg– Eine mögliche Zusammen-
arbeit der SPD mit der AfD in Sassnitz
auf Rügen sorgt für Ärger bei den Sozial-
demokraten: Im Stadtrat der Hafen-
stadt in Mecklenburg-Vorpommern will
die SPD laut Informationen des NDR
gemeinsam mit der AfD und Wähler-
gruppen in der kommenden Woche
sieben Anträge durchsetzen; die Grup-
pe hätte eine Mehrheit. Der Generalse-
kretär der Landes-SPD, Julian Barlen,
lehnt das ab: „Unsere Haltung als SPD
ist klar“, so Barlen auf Facebook. „Wir
akzeptieren keine Kooperation mit der
AfD.“ Er fordert, die Anträge für die
Sassnitzer Stadtvertretung zurückzuzie-
hen und den Schulterschluss mit den
anderen Fraktionen zu suchen. Erst
kürzlich hatte die Wahl eines NPD-Poli-
tikers unter anderem durch Vertreter
von CDU, SPD und FDP zum Ortsvorste-
her in einer hessischen Gemeinde bun-
desweit für Empörung gesorgt. sz
Berlin– Gesetzliche Krankenkassen sol-
len schwangeren Frauen künftig Bluttests
auf ein Down-Syndrom des Kindes bezah-
len – allerdings unter engen Voraussetzun-
gen. Das beschloss der Gemeinsame Bun-
desausschuss (G-BA) von Ärzten, Kassen
und Kliniken als oberstes Entscheidungs-
gremium am Donnerstag in Berlin. Mög-
lich sein soll die neue Kassenleistung „nur
in begründeten Einzelfällen“ für Frauen
mit Risikoschwangerschaften, nach ärztli-
cher Beratung und verbunden mit be-
stimmten verpflichtenden Informationen.
Allerdings, das stellte eins der drei unpar-
teiischen Mitglieder des Gremiums, Moni-
ka Lelgemann, klar, trete die Übernahme
nicht sofort in Kraft. Zunächst solle das In-
stitut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen die künftigen Pati-
enteninformationen entwickeln. Erst
wenn dieses Informationsmaterial „Ende
nächsten Jahres“ fertig sei, werde der Bun-
desausschuss „den endgültigen Beschluss
fassen können“, sagte Lelgemann.
Sowohl Lelgemann als auch die Vor-
standsvorsitzende des Spitzenverbands
der Krankenkassen, Doris Pfeiffer, und die
Patientenvertreterin Ursula Helms mach-
ten bei einer Pressekonferenz am Donners-
tagabend deutlich, dass sie sich bis dahin
eine weitere politische Debatte über das
Thema der Pränataldiagnostik erhoffen.
„Es sind keine Fakten geschaffen worden“,
sagte Pfeiffer: „Die Parlamentarier haben
weiterhin ihre Handlungsmöglichkeiten.“
Als Antwort auf ein Schreiben mehrerer
Abgeordneter in der vergangenen Woche,
in der diese um die Vertagung der Entschei-
dung gebeten hatten, schrieb der unparteii-
sche Vorsitzende des Gremiums, Josef He-
cken, er habe sich drei Jahre lang um ein Si-
gnal der Politik zur Pränataldiagnostik be-
müht. Auf eine entsprechende Orientie-
rungsdebatte im April sei aber keine end-
gültige Festlegung des Bundestags gefolgt.
Eine der Verfasserinnen des Schreibens,
die behindertenpolitische Sprecherin der
Grünen, Corinna Rüffer, sagte, die jetzige
Entscheidung werde keinesfalls das Ende
der Debatte sein: „Auch mit Blick auf künf-
tige Tests müssen wir die Grenzen und Be-
dingungen molekulargenetischer Testver-
fahren in der Schwangerschaft festlegen.“
Ziel des Bluttests auf die Trisomien 13,
18 und 21 als Kassenleistung sei, die Risi-
ken einer andernfalls erforderlichen
Fruchtwasseruntersuchung zu vermei-
den, bei der es als schlimmste Komplikati-
on zu Fehlgeburten kommen kann, heißt
es von dem Gremium. Die Beratung durch
den Arzt soll „ausdrücklich ergebnisoffen“
sein. Dabei soll die Schwangere auch auf
das „Recht auf Nichtwissen“ von Tester-
gebnissen hingewiesen werden. Es hande-
le sich nicht um eine „Routinebehand-
lung“, sondern um Einzelfälle.
Seit 2012 werden Schwangeren Blut-
tests auf eigene Kosten angeboten, mit de-
nen unter anderem untersucht wird, ob ihr
Kind mit einer Trisomie, etwa einem Down-
Syndrom, auf die Welt käme. Dabei wer-
den Fragmente der kindlichen DNA im
Blut der Mutter untersucht. Solche Blut-
tests sind von der zehnten Schwanger-
schaftswoche an möglich. Einen „Riesen-
fehler“ nannte Sebastian Urbanski vom
Vorstand der Lebenshilfe die Bluttests:
„Da ist schon die große Gefahr dabei, weil
die Menschen dann aussortiert werden“,
sagte Urbanski. klu, dpa, epd
München– „StückScheiße“, „altes grünes
Dreckschwein“, „Sondermüll“: Wenn es
nach dem Berliner Landgericht geht, sind
solche Facebook-Kommentare nicht verbo-
ten, sondern „haarscharf an der Grenze
des noch Hinnehmbaren“. So steht es in ei-
nem aktuellen Gerichtsbeschluss nach ei-
nem Verfahren, in dem Renate Künast ge-
gen Facebook geklagt hatte. Der Grünen-
Politikerin wurde in einem Facebook-Post
einer rechten Seite ein verfälschtes Zitat
angedichtet, unter dem sie dann massiv be-
schimpft wurde. Der Fall zeigt, dass es
noch immer vorkommt, dass deutsche Ge-
richte auch brutal und aggressiv klingende
Äußerungen im Netz nicht ahnden. Zu-
gleich unternimmt die Justiz in den letzten
Monaten immer mehr, um die Entschei-
dung, was online gepostet werden darf
und was nicht, nicht mehr weitgehend den
Social-Media-Konzernen zu überlassen
In Hessen tut sich besonders viel. Dort
wird bald die bisher größte Spezialstaats-
anwaltschaft gegen strafbare Online-Het-
ze ihre Arbeit aufnehmen. Die Ermittler sol-
len Beiträge mit strafbaren Inhalten wie Be-
leidigung, Volksverhetzung, verfassungs-
feindlichen Symbolen oder Holocaustleug-
nung verfolgen. Vor allem sollen strafbare
Beiträge nicht nur wie bisher gelöscht wer-
den – es sollen auch die Verfasser vor Ge-
richt gebracht werden. Die neuen Staatsan-
wälte werden Teil der hessischen Cybercri-
me-Ermittlereinheit ZIT. Die ist tätig in Fäl-
len schwerer Internetkriminalität wie orga-
nisiertem Drogenhandel oder Kinderpor-
nografie. Bereits heute arbeiten rund ein
Dutzend Staatsanwälte an der ZIT. Aus Jus-
tizkreisen heißt es, dass man für das neue
Dezernat gegen strafbare Hetze mit einer
erheblichen Aufstockung rechnet. Die
neue Ermittlereinheit ist Teil eines Pakets,
das die hessische Regierung am Donners-
tag vorgestellt hat.
Das Besondere an der neuen Initiative:
Erstmals arbeiten Online-Ermittler für ih-
re Strafverfolgung direkt mit zivilgesell-
schaftlichen Organisationen, die Opfer
von Hetze unterstützen. Die Organisatio-
nen können in einem speziellen Meldever-
fahren Beiträge, die sie für strafbar halten,
direkt an die Staatsanwaltschaft weiterlei-
ten. Das Verfahren dürfte dafür sorgen,
dass sehr viele Posts bei der Staatsanwalt-
schaft landen. In Deutschland gibt es meh-
rere Organisationen, die zum Teil jahrelan-
ge Erfahrung in der Beobachtung strafba-
rer Hassbeiträge in sozialen Netzwerken
haben. Solche Organisationen wollen die
Ermittler für eine Zusammenarbeit gewin-
nen und ihnen einen privilegierten Kanal
zur Verfügung stellen. Auch Medienunter-
nehmen sollen Posts bei der Staatsanwalt-
schaft anzeigen können. Die Ermittler wer-
den nicht nur Posts von Nutzern aus Hes-
sen, sondern alle gemeldeten Inhalte prü-
fen.
In Justizkreisen denkt man auch über
Gefährderansprachen von Nutzern nach,
wenn diese den Spezialermittlern immer
wieder mit fragwürdigen Posts auffallen.
Bei solchen Ansprachen würde die Polizei
zu Hause klingeln und die Nutzer darüber
aufklären, dass sie im Visier der Justiz
sind. Das Mittel soll gerade gegen Hetzer ef-
fizient sein, die Posts bewusst so formulie-
ren, dass sie sich knapp unter der Grenze
des Strafbaren bewegen. Dieses Phäno-
men beobachten Hate-Speech-Experten
vermehrt bei „unverbesserlichen“ Hetzern
als Reaktion auf stärkeren Ermittlungs-
druck. Als weiterer Teil der Initiative ge-
gen Online-Hetze will Hessen im Bundes-
rat eine Gesetzesverschärfung vorschla-
gen: Beleidigung soll zum Offizialdelikt
werden. Als solches könnte sie verfolgt wer-
den, auch wenn ein Opfer selbst die Beleidi-
gung nicht anzeigt. max hoppenstedt
In der Bremer Außenstelle des Asylbundesamtes sollen Verfahren manipuliert worden sein. FOTO: CARMEN JASPERSEN/DPA
Reden über Rot-Schwarz-Grün
Die Stadt Düsseldorf gibt ihren
Mitarbeitern frei für die Demo,
ebenso der Springer-Verlag
Die hessische Regierung will
Beleidigung zum Offizialdelikt
machen und verstärkt bekämpfen
Schon im März gingen weltweit die Menschen auf die Straße, wie hier in Sydney, um
einen konsequenterenKlimaschutz von der Politik einzufordern. FOTO: MICK TSIKAS/DPA
Die frühere Behördenleiterin
und die anderen Angeschuldigten
bestreiten die Vorwürfe
Grüne auf Allzeithoch
Weiterer schwerer Verdacht
Skandal um Partyfoto
SPD will mit AfD kooperieren
Kassen sollen Tests auf Trisomien finanzieren
Gremium aus Ärzten, Versicherungen und Kliniken beschließt Voraussetzungen, unter denen die Untersuchung bezahlt wird
Spezialisten gegen
Hetzer im Netz
Cyber-Ermittler verfolgen Verfasser
menschenverachtender Posts
KURZ GEMELDET
Das Klima buchstabieren
Aktivistenvon „Fridays for Future“ fordern zum Protest auf – eine Woche lang, weltweit. Sie picknicken auf einer Bundesstraße, sammeln Müll oder meditieren

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