Süddeutsche Zeitung - 20.09.2019

(Barré) #1
München –Der frühere tunesische Lang-
zeitherrscher Zine al-Abidine Ben Ali ist im
Alter von 83 Jahren im Exil in Saudi-Arabi-
en gestorben. Das meldeten tunesische Me-
dien am Donnerstag unter Berufung auf Fa-
milienmitglieder des Ex-Diktators. Ben Ali
diente zunächst unter dem autoritären
Staatsgründer Habib Bourgiba erst als In-
nenminister, ab 1987 als Premier. Als sol-
cher ließ Ben Ali Bourgiba für senil erklä-
ren und absetzen. Entgegen seiner Ankün-
digung, das Land fortan demokratischer
zu regieren, entwickelte sich Ben Ali zum
Alleinherrscher – und blieb bis 2011 Präsi-
dent. Unter seiner Führung entstand eine
Tourismusindustrie, Tunesien konnte sich
als Standort für Zulieferbetriebe der euro-
päischen Autoindustrie bescheidenen
Wohlstand erarbeiten. Gleichzeitig unter-
drückte Ben Ali jegliche Opposition, beson-
ders Bewegungen des politischen Islam.

Nachdem sich im Dezember 2010 ein
verzweifelter junger Mann in der Provinz-
stadt Sidi Bouzid verbrannt hatte, kam es
auch in der Hauptstadt Tunis zu Massen-
protesten, die sich gegen Behördenwillkür
richteten, bald aber ein Ende der Diktatur
forderten. Dass Ben Ali im Januar verkün-
dete, nicht mehr bei der für 2014 geplanten
Wahl anzutreten, konnte die Stimmung
nicht mehr drehen: Er flüchtete mit 1,5 Ton-
nen Gold im Frachtraum der Präsidenten-
maschine. Tunesiens Bürger stürmten sei-
ne Paläste und die der Familie Trabelsi,
den in vielen Branchen präsenten Verwand-
ten von Ben Alis Ehefrau Leïla. Bilder, die
im arabischen Ausland aufmerksam ver-
folgt wurden. Tunesiens Jasminrevolution
fand schnell Nachahmer; auch in Libyen,
Ägypten und Sudan stürzten die Diktato-
ren. In Syrien und Bahrain dagegen schlu-
gen die Regimes mit Härte zurück.
Seinen Lebensabend verbrachte Ben Ali
in der Hafenstadt Dschidda in Saudi-Arabi-
en – abgeschottet von der Öffentlichkeit,
aber auch unbehelligt von der Justiz. In Tu-
nesien versuchte eine Wahrheitskommissi-
on die Verbrechen des Regimes aufzuarbei-
ten, nach langen Anhörungen begannen
2018 die ersten Prozesse. Ben Ali, der Kopf
des Regimes, befand sich jedoch außer
Reichweite der Ermittler.
Die Nachricht vom Tod des Ex-Dikta-
tors trifft Tunesien in bewegten Zeiten. Am
vergangenen Sonntag waren die Bürger
des einzigen Staates, der nach dem soge-
nannten Arabischen Frühling den Über-
gang zur Demokratie meisterte, aufgeru-
fen, zum zweiten Mal einen neuen Präsi-
denten an den Urnen zu bestimmen. Der
erste regulär gewählte Amtsinhaber Beja
Caïd Essebsi war im Juli mit 92 Jahren ge-
storben. Schon am Wahltag gab es Gerüch-
te, dass Ben Ali in eine Klinik eingeliefert
und ins Koma gefallen sei. Während die Zu-
kunft Tunesiens ungewiss ist – einer der
Kandidaten für die Stichwahl um das Präsi-
dentenamt sitzt in Haft –, schließt sich mit
dem Tod des Diktators nun ein Kapitel der
Vergangenheit. moritz baumstieger

von claus hulverscheidt

New York– Die Morgenvisite an diesem
Frühjahrstag im Jahr 1999 war gerade
vorüber, als Mike Schmidt plötzlich ein un-
geheuerlicher Gedanke durch den Kopf
schoss. Eben noch hatte sich der Patient im
Zimmer 419 vor Schmerzen gekrümmt
und vehement nach einem starken Medika-
ment verlangt, nun schallten aus demsel-
ben Zimmer lautes Geschnatter und Ge-
lächter über den Flur. Als Schmidt, damals
Facharztanwärter in einer New Yorker Kli-
nik, die Tür öffnete, sah er den jungen
Mann quietschfidel im Bett herumalbern,
seine Freunde fläzten sich auf dem Boden
und auf der Fensterbank. „Ich dachte auf
einmal: Was, wenn der gar nicht krank ist,
sondern nur so tut, um an das Rezept für
ein opioidhaltiges Mittel zu kommen?“, er-
zählt der mittlerweile 51-Jährige.
Heute ist Schmidt, der eigentlich anders
heißt, sicher, dass sein Verdacht berechtigt
war: Der 17-Jährige von Zimmer 419 war ei-
ner jener Zigtausenden Opioid-Süchtigen
in den USA, die Ende der Neunzigerjahre
zunächst von Medikamenten wie Oxycon-
tin abhängig wurden und später häufig auf
die chemischen Verwandten Heroin und
Fentanyl umstiegen. 400 000 Amerikaner
sind seither an einer Überdosis jenes Stof-
fes gestorben, der starke Schmerzen lin-
dern kann, aber auch für seine euphorisie-
rende Wirkung berüchtigt ist. Auch heute
noch rafft die Epidemie jeden Tag 130 Men-
schen dahin. Es ist die schlimmste Rausch-
giftkrise, welche die USA je erlebt haben.


Was die Epidemie von früheren unter-
scheidet, ist, dass die Hauptverantwortli-
chen lange Zeit nicht mexikanische Kar-
telle oder chinesische Fentanyl-Panscher
waren, sondern zuallererst vermeintlich
honorige US-Konzerne. Der wohl wichtigs-
te unter ihnen ist der Pharmariese Purdue,
der jahrzehntelang jede Verantwortung
von sich wies, nun aber doch mit mehr als
2000 Städten, Gemeinden, Bundesstaaten
und Krankenhäusern vor Gericht um ei-
nen Milliardenvergleich ringt. Doch selbst
wenn am Ende tatsächlich viel Geld fließen
sollte: Die Frage, wie es sein kann, dass mo-
rallose Manager eine Drogenkatastrophe
von historischem Ausmaß verursachten
und kein Präsident, von Bill Clinton bis Do-
nald Trump, beherzt eingriff, wird bleiben.
Purdue hatte Oxycontin 1995 auf den
Markt gebracht. Es galt zunächst als neue
Wunderwaffe gegen starke Schmerzen.
Der Konzerneigentümer, die Milliardärsfa-
milie Sackler, wusste jedoch offenbar von
Beginn an um eine gefährliche Nebenwir-
kung: Oxycontin macht sehr rasch körper-
lich abhängig. Statt jedoch zu warnen, setz-
ten die Sacklers eine riesige Maschinerie in
Gang, um die Pillen als Standardmedika-
ment selbst für leichtere Schmerzen zu
etablieren: Sie schalteten Anzeigen, spen-
deten an Politiker, „berieten“ Angehörige
und bearbeiteten die Ärzte, die das Mittel
verschreiben sollten. „Die schickten uns ih-
re hübschesten Damen in die Klinik“, erin-
nert sich der Notfallmediziner David Kauf-
man, der in mehreren kalifornischen Kran-
kenhäusern gearbeitet hat und ebenfalls
seinen echten Namen gerne für sich behal-
ten möchte. „Die gingen mit den Ärzten es-
sen, machten ihnen schöne Augen – und
schwatzten ihnen das Medikament auf.“


Im ganzen Land begannen Ärzte damit,
Opioid-Präparate zu verschreiben. Senio-
ren mit Knieproblemen erhielten sie eben-
so wie Kinder mit Bauchschmerzen. In Ken-
tucky wurden die Spieler eines Highschool-
Footballteams nach Recherchen des Maga-
zinsNew Yorkerregelmäßig mit Oxycontin
behandelt, wenn sie sich verletzten. Einige
Jahre später war die Hälfte der einstigen
Teenager-Mannschaft süchtig – oder tot.
Mancherorts waren am Ende ganze Stra-
ßenzüge drogenverseucht. „Wir haben den
Leuten Opioide verschrieben, als wären es
Zuckerbonbons“, gesteht Kaufman. „Die
Pharmafirmen haben uns missbraucht –
und wir haben uns missbrauchen lassen.“
Irgendwann jedoch schwante vielen Ärz-
ten, wie groß das Suchtpotenzial des Medi-
kaments tatsächlich ist. Doch wer sich wei-
gerte, Oxycontin zu verschreiben, bekam
rasch Schwierigkeiten, wie Schmidt sich er-
innert: von den Patienten, von Eltern, die
das modernste, stärkste Schmerzmittel
für ihre Kinder verlangten, von Oberärzten
und Verwaltungsmenschen, die Angst vor
schlechten Noten in den Bewertungsporta-
len hatten. Ein Problem, sagt auch Kauf-
man, das bis heute besteht: „Wer zwei oder
drei Patienten nicht das verschreibt, was
sie haben wollen, bekommt rasch ein paar
schlechte Bewertungen. Das hat oft direk-
te Folgen – auch für unseren Bonus.“

Erst nachdem die Zahl der Überdosis-
toten in der ersten Hälfte des neuen Jahr-
zehnts dramatisch in die Höhe geschnellt
war, reagierten die Behörden. Sie ver-
schärften die Verschreibungsregeln für
Oxycontin & Co. – und machten damit al-
les noch schlimmer: Viele Süchtige stiegen
nun auf das billigere Heroin um, später gar
auf Fentanyl, ein synthetisches Opioid, das
oft mit anderen Substanzen gestreckt wird
und sich kaum richtig dosieren lässt. Noch
einmal explodierten die Todeszahlen.
Nicht alle, die abhängig wurden, auch
das gehört zur Wahrheit, waren schuldlos.
Manche experimentierten mit Oxycontin,
das eigentlich langsam über viele Stunden
wirkt. Wer aber die volle Dröhnung wollte,
musste lange Zeit nur den Beipackzettel le-
sen: Dort hieß es, dass man zur Vermei-
dung einer sofortigen, kompletten Wirk-
stofffreigabe die Tablette niemals „kauen
oder gemörsert einnehmen“ dürfe – es war
eine Art Bedienungsanleitung zum Miss-
brauch. Nachschub erhielten die Abhängi-
gen nicht zuletzt von korrupten Ärzten.
Heute haben nicht nur unzählige Fami-
lien im Land ihre Mütter und Väter, Kinder
und Enkel an die Sucht verloren. Hinzu
kommt vielmehr ein volkswirtschaftlicher
Schaden von 500 Milliarden Dollar. Betrof-
fen sind vor allem ländliche Kommunen,
in denen Sanitäter und Feuerwehrleute

manchmal den ganzen Tag kaum anderes
tun, als Menschen, die überdosiert haben,
per Notfallspray ins Leben zurückzuholen.
All das muss man wissen, um jene zehn
bis elf Milliarden Dollar an Unterstützungs-
zahlungen bewerten zu können, die Pur-
due in den Vergleichsverhandlungen ange-
boten hat. Hinzu kommt, dass die Sacklers
durch die Vereinbarung zwar ihre Firma so-
wie drei Milliarden Dollar aus der Privat-
schatulle verlören. Aber: Während man-
cher Betroffene bittere Not leidet, blieben
sie Milliardäre. Und: Dadurch, dass Purdue
aus formellen Gründen zunächst in Insol-
venz geschickt werden soll, wäre der Zu-
griff auf ihr Privatvermögen womöglich
auf alle Zeit verbaut. „Die Familie, die ein
Imperium des Schmerzes schuf“, wie der
New Yorkereinst schrieb, wäre fein raus.

Das ist einer der zentralen Gründe, war-
um der Vergleichsvorschlag unter den US-
Bundesstaaten so umstritten ist. Befürwor-
ter wie Herbert Slatery, der Generalstaats-
anwalt von Tennessee, verweisen darauf,
dass es durch die Bündelung von mehr als
2000 Klagen vor einem einzelnen Gericht

gelungen sei, Purdue zu Milliardenzahlun-
gen sowie zur Bereitstellung kostenloser
Medikamente für die Suchtbehandlung zu
zwingen. Außerdem seien die Sacklers, die
genau wie Purdue alle Fragen derSüddeut-
schen Zeitungunbeantwortet ließen, „ein
für alle Mal raus aus der Pharmaindustrie“.
Kritikern wie Slaterys Kollegin Maura
Healey aus Massachusetts hingegen geht
das alles nicht weit genug. Für sie ist der
Vergleichsvorschlag nicht mehr als ein Täu-
schungsmanöver, ein „taktischer Versuch
des Unternehmens, das Vermögen der
Sacklers zu schützen“. Dass die Sacklers all
die Milliarden, die sie über Jahre aus dem
Konzern herausgezogen und teils über
Briefkastenfirmen ins Ausland geschafft
haben sollen, behalten dürften, sei „eine
Beleidigung all jener Familien, die geliebte
Menschen an diese Epidemie verloren ha-
ben“. Auch habe bis heute kein einziger Ver-
antwortlicher seine persönliche Schuld ein-
geräumt und um Verzeihung gebeten.
Das immerhin tun nun Ärzte wie
Schmidt und Kaufman, wobei Letzterer
sich bis heute wundert, dass angesichts
der immer noch 900 Toten pro Woche
nicht dauernd ein neuer Aufschrei durch
Land und Politik geht. „Es ist so“, klagt der
Notfallmediziner, „als fiele ein Mittelstre-
ckenflugzeug mit 130 Menschen an Bord
vom Himmel – jeden Tag aufs Neue.“

Moskau– Der Fall von Pawel Ustinow ist ei-
nervon vielen, doch die Ungerechtigkeit ge-
gen ihn ist besonders greifbar. Der 23-jähri-
ge Schauspieler soll dreieinhalb Jahre in
Haft, nachdem er am Rande einer Demon-
stration festgenommen wurde. Weil sich
ein Nationalgardist angeblich verletzt hat,
während er sich grundlos auf den Schau-
spieler stürzte, wurde Ustinow verurteilt.
Seither zieht der Protest gegen absurde Ge-
richtsverfahren gegen Moskauer Demons-
tranten immer weitere Kreise. Lehrer, Ärz-
te, Schauspieler und sogar Geistliche der
russisch-orthodoxen Kirche fordern die
Freilassung der zu Unrecht Verurteilten.
Pawel Ustinow selbst war offenbar zur
falschen Zeit am falschen Ort. Am 3. Au-
gust hatte es in Moskau erneut Proteste ge-
gen Wahlmanipulation gegeben. Ustinow
wartete in der Nähe des Puschkin-Platzes
nach eigener Aussage auf einen Freund. Vi-
deoaufnahmen zeigen, wie er nicht mal hin-
schaut, als sich vier Nationalgardisten in
üblicher Formation nähern, die Hand auf
der Schulter des Vordermannes. Als sie
sich auf ihn stürzen, taumelt der junge
Mann rückwärts, sie schlagen nach seinen
Beinen, ein Nationalgardist stolpert und
fällt. Als Ustinow zu Boden geht, schlägt
ein anderer mit dem Stock auf ihn ein.
Vor Gericht sagt der Nationalgardist
aus, er habe sich bei der Festnahme die
Schulter verknackst. Ustinow sei kein Un-
beteiligter gewesen, sondern habe Beleidi-
gungen gerufen. Das reicht dem Richter,
um den Schauspieler zu verurteilen, das Vi-
deo von der Festnahme will er nicht sehen.
Der Fall ist beispielhaft für die Urteile
der letzten Wochen, die die Richter schnel-
ler und härter fällten als üblich. Mehrere
Männer sind verurteilt worden, weil sie Si-
cherheitskräfte etwa am Arm gezogen, mit
Pfefferspray besprüht oder sie am Helm be-
rührt haben sollen. Ein Mann geht für fünf
Jahre in Haft, weil er in einem Tweet angeb-
lich die Kinder von Polizisten bedroht hat.
Der 26-jährige Ajdar Gubajdulin hatte bei
einer Demo eine leere Plastikflasche ge-
worfen und niemanden getroffen. Auch da-
zu gibt es ein Video. Der Richter hat den
Fall am Mittwoch an die Ermittler zurück-
gegeben und Gubajdulin zunächst freige-
lassen. Eine erste Wirkung der Proteste?


Am ungewöhnlichsten war der offene
Brief von mehr als 40 Kirchenvertretern,
die ihre „Befremdung“ angesichts der har-
ten Urteile ausdrückten. Die russisch-or-
thodoxe Kirche stellt sich normalerweise
nicht gegen die Behörden. Andere Berufs-
stände folgten: Bis Donnerstagnachmittag
forderten etwa 2500 Lehrer in einem offe-
nen Brief, die zu Unrecht Verurteilten frei-
zulassen. Wenn Russland aus seiner Ge-
schichte nicht lerne, sei das Land dazu ver-
urteilt, immer wieder sitzen zu bleiben. Et-
wa 770 Ärzte unterzeichneten einen Brief,
indem sie auch beschrieben, wie sich die At-
mosphäre der Angst und fehlenden Frei-
heit bei ihren Patienten spürbar machten.
Für Ustinow unterzeichneten bis Don-
nerstagnachmittag mehr als 140 000 Men-
schen eine Onlinepetition. Schauspieler
und Verleger schrieben einen offenen Brief
an Präsident Wladimir Putin und sprachen
von einem Justizirrtum. Unterstützer stan-
den vor der Präsidialverwaltung Schlange,
um nacheinander Schilder hochzuhalten;
nur Einzelproteste sind ohne Genehmi-
gung erlaubt. Kremlsprecher Dmitrij Pes-
kow sagte, man solle die Berufung abwar-
ten. Inzwischen hat sich Anwalt Anatolij
Kutscherena, zu dessen Klienten Edward
Snowden zählt, bereit erklärt, Ustinow zu
vertreten. silke bigalke  Seite 4

Straßburg –Der umstrittene„European
Way of Life“ hat die Plenarwoche des Euro-
paparlaments überstanden. Ursula von
der Leyen, die künftige Chefin der EU-
Kommission, erläuterte den Fraktionsvor-
sitzenden, was sie mit dem Titel „Schutz
der europäischen Lebensweise“ für den de-
signierten EU-Kommissionsvize Margari-
tis Schinas meinte. Dass der Grieche auch
die Migrationspolitik koordinieren solle,
bedeute nicht, dass Zuwanderer eine Be-
drohung darstellen, betonte sie.
Die Empörung über den Begriff „Schutz
der europäischen Lebensweise“, der von
manchen als Zugeständnis nach rechtsau-
ßen interpretiert wurde, war so groß gewor-
den, dass sich von der Leyen in europäi-
schen Zeitungen zu Wort meldete und auf
Artikel 2 des EU-Vertrags berief. Er nennt
als Grundlage der EU Werte wie „Men-
schenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleich-
heit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung
der Menschenrechte“, die auch für Minder-
heiten gelten. Von der Leyen bekannte sich
in den Gastbeiträgen auch zu Nichtdiskri-
minierung, Toleranz, Solidarität und
„Gleichheit von Frauen und Männern“.
Am Donnerstag schwärmte sie von ei-
nem „ausgesprochen konstruktiven Mee-
ting“, das ihr Rückenwind gebe. Auch ande-
re Teilnehmer sprachen von einer freundli-
chen Atmosphäre, aber in der Sache ändert
sich zunächst nichts: Der kontroverse Na-
me des Schinas-Portfolios bleibt. Von der
Leyen sei „offen für Ergänzungen“, hieß es,
doch vor den bald beginnenden Anhörun-
gen ändere sich nichts. Denkbar ist etwa,
dass bei der Bulgarin Mariya Gabriel, die
sich um „Jugend und Innovation“ küm-
mern soll, „Kultur“ eingefügt wird. Fest
steht nun auch, dass die designierten Kom-
missare ab dem 30. September vor den Aus-
schüssen befragt werden.
Die oft artikulierte Kritik an den nebli-
gen Titeln der Ressorts ist für Abgeordnete
mehr als Wortklauberei: Viele sehen den
Grundsatz der „Spiegelbildlichkeit“ ge-
fährdet, wenn mehrere Ausschüsse für ei-
nen Kommissar zuständig sind. Im SZ-Ge-
spräch fordert Martin Schirdewan, Chef
der Linken-Fraktion, Änderungen im Zu-
schnitt: „In Sachen Transparenz und demo-
kratischer Kontrolle muss die neue Kom-
mission besser werden.“ matthias kolb

Wie ein täglicher Flugzeugabsturz


900 Menschen sterben in den USA pro Woche infolge der Opioid-Epidemie, 400 000 in 20 Jahren. Die Hersteller
kommen wohl gnädig davon. Wie die Pharmaindustrie sie täuschte, berichten zwei Ärzte

Alles auf Video


Seltene Proteste nach einem harten Urteil gegen jungen Russen


Von der Leyen verteidigt


Titel für ihren Vize


Ex-Diktator


Ben Ali gestorben


2011 löste der Sturz des Tunesiers
den Arabischen Frühling aus

Washington –Die erste Frage, die etliche
Außenpolitik-Experten in Washington am
Mittwoch stellten, nachdem sie von der Be-
rufung von Robert O’Brien zum Sicher-
heitsberater des Präsidenten gehört hat-
ten, war diese: Robert wer? Und auch wenn
diese Überraschung vielleicht etwas ge-
spielt war, bleibt die Kernaussage: O’Brien
gehörte bisher bestimmt nicht zu den Gro-
ßen im außen- und sicherheitspolitischen
Geschäft in den USA. Das ändert sich jetzt,
da er die Nachfolge von John Bolton antritt
und der mittlerweile vierte Sicherheitsbe-
rater von Donald Trump wird.
In den meisten Berichten, die nun über
O’Brien erscheinen, wird diesem das Adjek-
tiv „hawkish“ angehängt, was sich grob
mit „militaristisch“ übersetzen lässt – ein
Falke eben in außen- und sicherheitspoliti-
schen Fragen, keine Taube. Diese Charak-
terisierung stützt sich unter anderem auf
ein Buch, das O’Brien vor einigen Jahren ge-
schrieben hat und in dem er die Außenpoli-
tik von Präsident Barack Obama als zu
lasch, ängstlich und zögerlich verriss. Oba-
mas Atomabkommen mit Iran verglich er
mit dem Münchner Abkommen von 1938.
Statt „Appeasement“ zu betreiben, sollten
sich die USA auf ihre Rolle als unverzichtba-
re Welt-, Führungs- und Ordnungsmacht
besinnen und „Frieden durch Stärke“
schaffen. Russland, China und den Islamis-
mus nannte er als die gefährlichsten Bedro-
hungen für die Vereinigten Staaten.

Das ist zweifellos eine Weltsicht, die der
des stahlharten Überfalken Bolton näher
ist als jener, die O’Briens weit zurückhal-
tenderer Vorvorgänger H. R. McMaster ver-
trat. Angesichts der Tatsache, dass Trump
McMaster feuerte, weil dieser ihm zu zöger-
lich war, und Bolton rauswarf, weil der zu
viele Kriege anzetteln wollte, passt O’Brien
aber vielleicht ganz gut zum Präsidenten.
Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht
wichtiger, ist, dass Trump O’Brien persön-
lich gern mag. Das war beim ruppigen, oft
regelrecht ätzenden Bolton nie der Fall.

Über einen etwas freundlicheren Sicher-
heitsberater dürften sich auch die ausländi-
schen Botschafter freuen, die im Weißen
Haus zu tun haben. O’Brien gilt als jemand,
der Amerikas Verbündete zumindest theo-
retisch tatsächlich als Verbündete sieht,
die zur Stärke der USA beitragen. Er hält
sie – anders als Bolton und zum Teil anders
als Trump – nicht für hinderliche Schma-
rotzer, welche die Vereinigten Staaten ein-
engen und ausnutzen. Trumps Strategie,
die europäischen Nato-Staaten dadurch
zur Erhöhung ihrer Verteidigungsetats zu
zwingen, dass er öffentlich Amerikas Soli-
darität mit dem Bündnis infrage stellte,
hat O’Brien in einem Zeitungsbeitrag aller-
dings ausdrücklich gelobt.
O’Brien stammt aus Kalifornien und hat
dort als Anwalt gearbeitet. Seit Jahren war
er aber auch immer wieder als außenpoliti-
scher Berater in republikanischen Kreisen
unterwegs. Er hatte verschiedene, aber nie
sehr prominente Posten im diplomati-
schen Dienst inne, zuweilen sogar zur Re-
gierungszeit des Demokraten Barack Oba-
ma. O’Brien gehört zum außenpolitischen
Establishment und ist in den einschlägi-

gen Ministerien und im Kongress gut ange-
sehen. Allein das unterscheidet ihn funda-
mental von Bolton.
Zuletzt war O’Brien als Sondergesand-
ter für Geiselangelegenheiten tätig. Er
half, im Ausland gefangen gehaltene Ame-
rikaner heimzuholen, darunter den Rap-
per A$AP Rocky, der wegen einer Schläge-
rei in Schweden in Haft saß. Trump mag
es, US-Staatsbürger aus den Klauen frem-
der Staaten zu befreien und publikums-
wirksam in Washington zu empfangen.
Dass O’Brien bei einem dieser Empfänge
die Verhandlungskünste des Präsidenten
euphorisch lobte, dürfte seiner Beförde-
rung nicht geschadet haben.
Die entscheidende Frage lautet jedoch:
Wird O’Brien irgendeinen echten Einfluss
auf Trumps Außen- und Sicherheitspolitik
haben? Viele Beobachter haben da Zweifel.
„Trump und seine Tweets setzen die Poli-
tik“, sagt ein demokratischer Außenpoliti-
ker. „Man kann aber hoffen, dass O’Brien
zumindest ein fähiger, relativ anonymer
Handwerker wird, der die schlimmsten
Entgleisungen verhindert. Und das wäre ja
nicht schlecht.“ hubert wetzel

8 HMG (^) POLITIK Freitag,20. September 2019, Nr. 218 DEFGH
Mancherorts wurden ganze Straßenzüge regelrecht verseucht: Notarzt-Einsatz wegen einer Opioid-Überdosis in einem Vorort von Boston. FOTO: BRIAN SNYDER / REUTERS
Kein Verantwortlicher hat
seine Schuldeingeräumt
und um Verzeihung gebeten
Schauspieler Ustinow soll dreieinhalb
Jahre in Haft. FOTO: NOVOZHENINA/REUTERS
Die Vorgänger wurden gefeuert,
weil sie entweder zu soft waren



  • oder zu kriegerisch


„Wir haben den Leuten


Opioide verschrieben,


als wären es Zuckerbonbons.“


Er lebte zuletzt im Exil
in Saudi-Arabien – abgeschottet
und unbehelligt von der Justiz

Präsident Donald Trump stellte seinen neuen Sicherheitsberater Robert O’Brien in
Los Angeles vor. FOTO: TOM BRENNER / REUTERS

Immerhin ein Profi


RobertO’Brien ist vierter Sicherheitsberater des US-Präsidenten. Hört der auf ihn?

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