Samstag, 21. September 2019∙Nr. 219∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 5.20 ∙€5.
Guy Parmelin: «Ich habe Dramen erlebt», sagt der Landwirtschaftsminister im Interview Seite 13
Krieg in der Grauzone
Mit einer Serie von Fehlkalkulationen haben sich Amerika und Iran anden Rand eines offenen Konflikts gebracht. Washington
steht voreiner Gratwanderung: Irans Provokationen zu stoppen, ohne einen Flächenbrand auszulösen.Von Andreas Rüesch
Krieg sei eine blosseFortsetzung derPolitik mit
anderen Mitteln, lautete vor zweiJahrhunderten
die kühleFeststellung des preussischen Militärstra-
tegen Carl von Clausewitz.Was mit den «anderen
Mitteln» gemeint sein kann, verraten derzeit die
Entwicklungen amPersischen Golf. Das Ringen um
Macht,Territorium undRessourcen geschieht dort
längst nicht mehr mit den Mitteln derPolitik allein.
Die wichtigsten Gegenspieler,Iran und Amerika,
beteuern zwar ihrenFriedenswillen, aber zugleich
lassen sie ihre militärischen Muskeln spielen. Seit
Monaten fragt sich eine beunruhigte Öffentlich-
keit: Bricht nun ein Krieg aus? Doch dieFrage ist
wohl falsch gestellt.Sie sollte eher lauten:Lässt sich
verhindern, dass die vielenFeuer in derRegion in
einen Flächenbrand ausarten? Schleichend hat sich
ein Krieg in der Grauzone entwickelt. Noch wird
er hauptsächlich durch Stellvertreter ausgefochten,
aber ob diesso bleibt, ist nach dem verheerenden
Angriff auf das Herz der saudiarabischen Erdöl-
industrie fraglicher denn je.
Vom Golf bis ans Mittelmeer
Jahrelang bemühte sich Iran, seine kriegerische
Expansion in derRegion zu verschleiern. Eine
Ausnahme istSyrien, wo dieKuds-Truppe, die für
Auslandeinsätze zuständige Speerspitze der Isla-
mischenRepublik, offen an der Seite des Asad-
Regimes kämpft. Sonst setzt Iran seineInteressen
hauptsächlich über örtliche Schiitenmilizen durch.
Die proiranischen Huthi inJemen sind ein Dorn im
Fuss des Erzfeinds Saudiarabien, der libanesische
Hizbullah eine tödliche Gefahr für Israel. Im Irak
wiederum haben proiranische Milizen den staat-
lichen Sicherheitsapparat bis ins Innerste infiltriert.
Selbst afghanisch-schiitische Söldner dienen Iran
als Instrument seinerAussenpolitik,Tausende von
Kilometern von der Heimat entfernt. So entfaltet
die «schiitische Internationale» ihre Macht von der
Golfregion bis zum Mittelmeer.
Aber auch Irans Gegner operieren auf ver-
deckteWeise.Amerikas wichtigsterVerbündeter in
der Region,Israel,führt einen klandestinenKampf
gegen die iranischenTentakel und greift dabei mitt-
lerweile territorial so weit aus, wie dies noch vor
wenigenJahren schwer vorstellbar gewesen wäre.
Dutzende von mysteriösen Luftangriffen auf ira-
nische Stellungen inSyrien gehen auf dasKonto
Israels, selbst Munitionslager von Schiitenmilizen
im Irak sind vor der Luftwaffe des jüdischen Staa-
tes nicht mehr sicher. Dass solche Aktionen zum
Teil auf einer engenGeheimdienstzusammenarbeit
mit den Amerikanern beruhen, darf als sicher gel-
ten. Ebenso wenig hängen die USAandie grosse
Glocke, was sie zum MilitäreinsatzSaudiarabiens
gegen die jemenitischen Huthi beitragen. Obwohl
sie über die brutale saudischeKriegführungver-
ärgert sind, unterstützen sie die Operationen mit
nachrichtendienstlichen Hinweisen.
Einer direktenKonfrontation sind die USA und
Iran imLaufe der Sommermonate immer näher ge-
rückt. Den Anfang machten mutmasslich iranische
Angriffe auf Erdöltanker in der Strasse von Hor-
muz,was die USA mit einerVerstärkung ihrerTrup-
penpräsenz beantworteten. Nach dem Abschuss
einer amerikanischen Überwachungsdrohne ent-
schloss sich dasWeisse Haus zunächst zu einemVer-
geltungsschlag gegen iranischeRaketenstellungen,
bevor PräsidentTrump eineKehrtwende machte.
Das Pentagon liess später durchsickern, dass man
stattdessen einen Cyberangriff auf Computer der
iranischenRevolutionswächter ausgeführt habe.
Das Beispiel zeigt, wie beide SeitenWert darauf
legen,die Schwelle zum offenen Krieg nicht zu über-
schreiten. Sie glauben, Politik mit anderen Mitteln
führen zukönnen, ohne das Risiko eines massiven
Schlagabtauschs einzugehen.Doch die Gefahr einer
Fehlkalkulation ist enorm.
Schon jetzt lässt sichkonstatieren, dass derWeg
in die neue Golfkrise mit Irrtümern gepflastert ist.
Iran, der wahrscheinliche Drahtzieher des Angriffs
auf Saudiarabien vom14.September, mag einen
taktischen Erfolg erzielt haben. Der Schwarm von
Drohnen und Marschflugkörpern brachte auf einen
Schlag die Hälfte der saudischen Erdölproduk-
tion zum Erliegen.Damit demonstrierte Iran seine
Fähigkeit, überraschend im Hinterland des Geg-
ners ein Inferno anzurichten. Doch in strategischer
Hinsicht hat die IslamischeRepublik wohl einen
schwerenFehler begangen. Gelingt es den USA,
die iranische Urheberschaft zu beweisen, so ist die
Tarnung dahin und lässt sich der verdeckte Krieg
nicht mehr leugnen. Iran steht dann als Schurken-
staat da, der ohne legitime Gründe ein Nachbar-
land überfallen hat.
Gewiss, Saudiarabien kann nicht mit grossen
Sympathien der westlichen Öffentlichkeitrechnen.
Wie abscheulich und paranoid seineFührung ist,
hat dieAffäre um den Mord amJournalisten Khas-
hoggi vor einemJahr gezeigt.Aber dasKönigreich
hätte dasVölkerrecht auf seiner Seite, wenn es nun
Vergeltung gegen Irans Militär üben würde. Es wird
dies allerVoraussicht nach nur mit amerikanischer
Rückendeckung tun. Iran scheint darauf zu zählen,
dass dieAdministrationTrump aus wahlkampftakti-
schen Gründen einen Militäreinsatz vermeiden will.
DieseAnnahme hat durchaus etwas für sich, aber
auch siekönnte sich als Irrtum erweisen. In seinem
übersteigerten Selbstbewusstsein verfolgt das Kle-
riker-Regime eine Hochrisikostrategie.
Waghalsig mutet allerdings auch dasVorgehen
der amerikanischenFührung an.Trump hat im
vergangenenJahr das Atomabkommen mit Iran
aufgekündigt, ohne einKonzept für die Zeit da-
nach zu haben.Warnungen, dass sich dadurch der
Konflikt mitTeheran gefährlich zuspitzen werde,
schlug er in denWind. Zwar trifftTrumps Kritik
an den Mängeln derWienerVereinbarung zu, ins-
besondere die Tatsache,dass Iran nie glaubwürdig
der Entwicklung von Atomwaffen abgeschworen
hat, unvermindertRaketen entwickeln kann und
schon ab 2024 sein Nuklearprogramm wieder an-
kurbeln darf.Aber es war eine Illusion zu glauben,
dassTrump ohne internationalenRückhalt ein bes-
seresAbkommen aushandelnkönnte. Stattdessen
steigt Iran nun schrittweise ebenfalls aus derVer-
einbarung aus und verletzt die Beschränkungen bei
der Uran-Anreicherung. So hat sichTrump selber
in eine Zwickmühle gebracht: Entweder krebst er
beim Atomabkommen zurück, oder er bringt die
USA in eine Situation,in der die Iraner irgendwann
nur noch militärisch auf demWeg zur Atombombe
gestoppt werdenkönnen.
Was nun? Es dürfte ein schwacherTrost für
Trump sein, dass die USA schon seit vierJahrzehn-
ten vergeblich nach einem neuen Gleichgewicht in
der Golfregion suchen.Einst waren Iran und Saudi-
arabien für die USA zwei Säulen desselben Gebäu-
des: In seiner«Twin pillars»-Strategie bautePräsi-
dent Nixon die beidenLänder alsPartner auf, die
gemeinsam für Stabilität am Golf sorgen sollten.
Doch mit dem Sturz des proamerikanischen Schahs
1979 zerbrach dieseKonstruktion. Die amerika-
nisch-iranischen Gegensätze haben sich seither als
unüberwindbar erwiesen, trotz periodischen An-
näherungsversuchen.TrumpsVorgänger Obama
hoffte,mit dem Atomabkommen dieTür zu einer
neuenKooperation aufzustossen. DochTeheran
interpretierte dieVereinbarung als Zeichen ame-
rikanischer Schwäche und als Chance,zur regiona-
len Hegemonialmacht aufzusteigen.
Abschreckung nötig
Den USA bleibt daher aufabsehbare Zeit – neben
ihren eigenen Streitkräften – nur ein Pfeiler im Mitt-
leren Osten:die Golfmonarchien.Amerikas Einfluss
in di esen Staaten beruht auch darauf, dass es bis an-
hin deren Sicherheit garantiert hat.Trump steht nun
vor der heiklenAufgabe, Saudiarabien zu Hilfe zu
kommen, ohne sich in einen grossen Krieg mit Iran
verwickeln zu lassen.Das kann nur mit einem glaub-
würdigen Signal der Abschreckung gelingen, das in
Teheran ein neues Risikokalkül bewirkt. Ohne sol-
cheAbschreckung wird Iran seineAngriffe nur noch
dreister fortsetzen. Zu befürchten ist, dass sich das
Regime vonAyatollah Khamenei einzig durch einen
Militärschlag beeindrucken lassen wird. Aber noch
gibt es fr iedliche Optionen:Es gilt,den Hergang der
Attacke vom14.September so überzeugend wie
möglich nachzuweisen und beieiner Schuld Irans
die nötigenKonsequenzen zu ziehen. Die Uno-
Generaldebatte von nächsterWoche biet et dafür
die beste Bühne. Strafmassnahmen derVereinten
Nationen hätten ein grösseres Gewicht als Sanktio-
nen der USA allein.Dies sollte auch die EU beden-
ken: IhrVersuch, das Atomabkommen in der jetzi-
gen Form zurett en, ist fern jederRealität. Ein ira-
nischesRegime, das zum offenen Krieg übergeht,
verdient nicht länger europäische Streicheleinhei-
ten, sondern internationale Isolation.
Berlin will Milliarden
fürs Klima einsetzen
Grosse Koalition einigt sich auf Massnahmenpaket
R. Sc.·Die deutsche Bundesregierung
ha t amFreitag in Berlin ihr Massnah-
menpaket zum Klimaschutz vorgestellt.
Bis 2023 soll dieses über 54 Milliarden
Eurokosten.Das Paket enthält vieleAn-
reize undFörderprogramme, doch auf die
Bürger dürften auch höhereKosten zu-
kommen. So sieht das Preiskonzept zum
CO 2 vor, dass der Preis für eineTonne
des Treibhausgases bis 2025 auf35 Euro
steigen soll.Danach ist imRahmen eines
nationalen Emissionshandels eine Preis-
spanne bis maximal 60 Euro proTonne
vorgesehen. Expertengehendavon aus,
dass 35 Euro an den Zapfsäulen einen
Preisaufschlag von über 9 Cent für Die-
sel bedeutenwerden. In den erstenJah-
ren des neuenSystems sollen CO 2 -Zer-
tifikate freilich zuFixpreisen abgegeben
werden, die tiefer liegen als im europäi-
schenVergleich. Der Anreiz, öfter aufs
Auto zu verzichtenoder klimafreund-
lichere Heizungen einzubauen, dürfte
sich somit erst mitVerzögerung einstel-
len.Abgefedertwerden sollen die Mass-
nahmen durch tiefere Strompreise und
günstigereTickets fürBahnreisende.
Zum Start der globalen Klimastreik-
woche gingen amFreitag Hunderttau-
sende vor allem junge Demonstranten
auf die Strassen. In Zürich sindPoliti-
ker und Nichtpolitiker eingeladen, mit
denAktivisten in einen Dialog zu treten.
International, Seite 3
Meinung &Debatte, Seite 11
Zürich undRegion, Seite 19
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Clara Schumann –
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