Neue Zürcher Zeitung - 21.09.2019

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10 MEINUNG & DEBATTE Samsta g, 21. September 2019


KARIKATUR DER WOCHE


Das Ende de r Di ktat ur der Floskeln


DDR, 1989 – der letzte Sommer der Abstraktion


Gastkommentar
von CHRISTOPH BRUMME


Vor dreissigJahren schrieb ich mein erstes Buch-
manuskript, «Die Anatomie des Scheins–Weshalb
der Sozialismus nichtreformiert werden kann».
Glücklicherweise ist es nie erschienen,weil und ob-
wohl meineAnalysen von der geschichtlichen Ent-
wicklung bestätigt wurden.
Aber heute noch muss ich über die Ablehnung
dieses Manuskripts durch einen HamburgerVerlag
im Januar 1990, nachdem die Mauer schongefallen
war,lachen. «Wir möchten derzeit, wo es so viele
Versuche gibt,den Sozialismus zureformieren,kein
Buch veröff entlichen,in dem all dieseVersuche von
vorneherein zum Scheitern verurteilt werden.»
Ich war baff. In einem liberalen, kapitalistischen
Grossverlag träumten sie immer noch vom Sozialis-
mus!Vom wahren, eigentlichen Sozialismus!Wenn
die Suche nach dem goldenen drittenWeg dann im
Nirgendwo enden sollte,konnte man immer noch
Trauerarbeit leistenund Bücher über das Scheitern
veröffentlichen. Einige Monate zuvor hatte in Ost-
berlin ein älterer Herr bei einerVeranstaltung ge-
klagt: «LiebeFreunde, ich habe den Nationalsozia-
lismuserlebt, dann den Sozialismus in der DDR.
Aber einen dritten Sozialismus überlebe ich nicht!»
Der Mann war klüger als dieVerleger an der
Alster, weil erkein Zeuge des Sofas war. Die Ham-
burger betrieben «Bolschewismus fürradikaleTou-
risten», wie LeoTrotzki dasVerhalten derWestler
nannte, die jubelnd die Sowjetunion bereisten.


Mangelstatt Überproduktion


Eine diplomierte Anarchistin aus einem evangeli-
schen Umweltkreis stimmte mir in jenem letzten
Sommer vor dem Mauerfall zögernd zu, dass man
den Sozialismus nichtreformierenkönne, jeden-
falls nicht in der Praxis, schränkte sie ein, aber in
der Theorie!
Wenigstens im Reich der Gedanken sollte
Gleichheit herrschen? Sie wünschtesich einen
theoretisch klügeren Sozialismus, nicht etwa klü-
gere Schriften über den Sozialismus. Oft trug sie
ein Palästinensertuch. Hätte sie zu Stalins Zeiten
gelebt,hätte sie wahrscheinlich fröhlich getanzt an-
lässlich dessen Behauptung, das Leben sei schöner
und besser geworden.Theoretisch ist das Leben
besser geworden, ausser für diejenigen, die aus sta-
tistischen Gründen erschossen wurden.
Wenn dieWirtschaft funktionierte, könnte man
auch den Sozialismusreformieren,antworteten mir
befreundete diplomierte Philosophen. Einer hatte
seine Diplomarbeit über die Entfremdung der
Menschen in der BRD durch zu vielKonsum ge-
schrieben. Er war nie in der BRD gewesen, eben-
falls ein Zeuge,der sein Sofa nicht verlassen hatte.
Dass eineWirtschaft nicht funktionieren kann, die


keinen Markt undkeine Freiheit zulässt, begriffen
sie nicht. Ich versuchte es so einfachwie möglich
zu erklären. In einer Marktwirtschaft müssen die
Produzenten sich auf dem Markt bewähren, dort
wird geprüft, ob sie effizient arbeiten, ob ihre Pro-
dukte gekauft werden, ob sie ihre Unkosten wie-
der hereinholen und Gewinnereinvestierenkön-
nen.Aufdiesem Markt herrschtbekanntlich latent
Chaos und Überproduktion.Die Produzenten müs-
sen aber imVoraus ihre Handlungen planen, ob-
wohl sie nicht wissen, welcheKonkurrenzprodukte
noch angeboten werden.Ihre Pläne müssen sich im
Chaos bewähren.
Was passiert aber, wenn man das Chaos des
Marktes «beseitigt» durch zentrale Planung wie
in einer sozialistischenWirtschaft? Ganz einfach,
dann wandert das Chaos des Marktes zu denProdu-
zenten. Es gibt Lieferschwierigkeiten, die Arbeits-
zeiten werden nicht ausgenutzt, die Produkte müs-
sen nicht gegenKonkurrenzprodukte bestehen,die
Effizienz ihrer Herstellung ist nicht messbar, die
Produktivität wird gehemmt. Statt latenter Über-
produktion herrscht permanenter Mangel. Schuld
daran waren natürlich die unvollkommenen Men-
schen, nicht die Pläne.
«DieVerkaufsstellen müssen das bestellen,was
im Lager ist,und nicht das, was die Leute verlangen,
dann gibt eskeine Lieferprobleme, und der Sozia-
lismus funktioniert», hatte derWirtschaftschef der
SED, Günter Mittag, angewiesen.

Der Staat hatte auf demPapier jedesJahr so gut
gewirtschaftet,dass stets ein leichter Überschuss er-
zielt werdenkonnte. Offiziell gab eskeine Krisen,
keine Inflation undkeineArbeitslosigkeit.Schwere
Kriminalität sollte es im Sozialismuseigentlich
auch nicht geben, dem sozialistischen Menschen
sollten niedereTriebe wie Gier,Wollust undMacht-
genuss fremd sein.
So «schneidet sich das Leben im Sozialis-
mus selbst dieWurzeln ab», hatte schonFriedrich
Nietzsche prophezeit.Weil der Egoismus nicht be-
jaht und nicht als Produktivkraft genutzt wird.Weil
man nur staatlich erlaubte Bedürfnisse undWün-
sche haben darf.Weil dieDurchführung einerWahl
nicht bedeutet, dass man wählen darf.
Deshalb nahm ich an der letztenWahl in der
DDR imFrühjahr1989 nicht mehr teil.Ich wollte
keine Karriere machen,und meinenTraum,Bücher
zu schreiben undzu veröffentlichen, würde ich in
der DDR sowieso nicht erfüllenkönnen.

Keine Bresche fürden Sozialismus


Am Wahlabend klingelte ein Mann an meiner
Wohnungstür und fragte, ob hier Herr Grosskopf
lebe. Kontrolle durch die Stasi, dachte ich gleich.
Die wollen wissen,ob ich zu Hause bin und warum
ich nicht wählen war. Mein Name standjaan der
Tür, der Mann hätte nicht zu fragen brauchen,wer
hier wohnt. Aber beweisenkonnte ich es nicht.
Der Mann ging auch gleich wieder. Er hatte sich
nur vergewissert, dass Herr Brummekein Gross-
kopf war, also nicht besonders klug. Natürlich
war ich froh, dass er nicht meineWohnung durch-
suchen wollte. Neben der Schreibmaschine lagen
schon dieersten Seiten meines Manuskripts über
das Scheitern des Überwachungssystems, dem die-
ser Mann diente.
Oder war er gekommen, weil ich der «Berli-
ner Zeitung» einen geharnischten Leserbrief ge-
schrieben hatte, nachdem dort dieVerleihung des
Karl-Marx-Ordensan den rumänischenDiktator
Ceausescu bejubelt worden war? «Fahren Sie nach
Rumänien,und sehen Sie sich diese glorreiche Epo-
che an: Die Grundnahrungsmittel sindrationiert,
die Butterzuteilung erfolgt vierteljährlich, Mehl,
Zucker und Milch sind nur auf Marken zu bekom-
men, Stromabschaltungen erfolgen auch im Som-
mer, vom Winter zu schweigen. Selbstverständlich
sind die Strassen, Plätze und Betriebe mit Ceau-
sescu-Sprüchen gespickt. Bloss satt werden die
Menschen dadurch nicht.»
Ich war kurz zuvor inRumänien gewesen und
kannte die Zustände dort aus eigenerAnschauung.
Tatsächlich bekam ich eine Antwort vom stellver-
tretenden Chefredaktor der «Berliner Zeitung»,
Fritz Wengler. «Ihre Bemerkungen über diePar-
teiführung der SED lassen nicht den Eindruck
entstehen, dass sie eine Bresche für den Sozialis-

mus schlagen wollen», schrieb er. Da hatte errecht.
«Natürlich, was derParteiführung der SED der
Karl-Marx-Orden für Herrn Ceausescu, das ist für
die Parteizeitung die unkritische Erläuterung die-
ser zynischenPolitik», hatte ich geschrieben. Ei-
nige Jahre zuvor hätte solch ein Brief wahrschein-
lich ernstereKonsequenzen gehabt.
In der Nacht des Mauerfalls ging ich als einer der
ersten Ostberliner über die Bornholmer Brücke in
den Westen. EinenTag und zwei Stunden vor mei-
nem Geburtstag! Ein herrliches Geschenk!Fortan
musste ich mein Buchmanuskript nicht mehr unter
den Dielen in meinerWohnung verstecken. Und
ich würde Bücher veröffentlichenkönnen!Applau-
dierendeWestberliner begrüssten uns mit Sekt.Wir
tranken natürlich auf dieFreiheit. Mit der U-Bahn
fuhren wir zumKu’damm.Jemand schenkte mir
Telefongeld, ichkonnte einenFreund anrufen, er
lud uns in ein französischesRestaurant in Kreuz-
berg ein. Mitternacht, aberRestaurants arbeiten
no ch, phantastische Arbeitswelt! Der Produzent
ist auf dem Markt erfolgreich, er verkauft uns ein
Märchen, wir trinken französischenWein und es-
sen saftige Steaks.
DieserTage fragte mich ein junger Ukrai-
ner, was mir denn in der DDR gefallen habe.
Es muss doch auch etwasschön gewesen sein?
Nun, wir waren jung, das ist immer schön.Sonst
aber fällt mir nur die Stille ein. KaumAutos,weni-
ger Flugzeuge, keine tragbarenTelefone. Friedhofs-
stille nannten wir das.WennWestberliner Besucher
sich in unseren öffentlichenVerkehrsmitteln unter-
hielten,redeten sie lauter als Ostberliner, das hörte
man gleich. Sie hattenkeine Angst, etwasFalsches
zu sagen, und kannten nicht dieWarnung:Feind
hört mit!

Grenzen der Rationalität


Was im nördlichen Hamburg passiert sein musste,
dass erfolgreiche Kapitalisten noch nach demFall
der Mauer vom Sozialismus träumten,kann ich mir
bis h eute nicht erklären.Solange es Menschen gibt,
werden sie etwas produzieren, handeln, tauschen
und konsumieren.Immer wird es Kriege, Konflikte,
Katastrophen, ungewollte Entwicklungen und Er-
eignisse geben, werden Menschen von irrationalen
Ängsten angetrieben, schon angesichts derTragik
der Endlichkeit desDaseins .Zudem ist dasratio-
nale Handeln des einen Subjekts dieTragödie eines
anderen,da hilft auchkeineTheorie deskommuni-
kativen Handelns, die Prozesse vernunftorientiert
organisieren möchte. In derTheoriekann ma n das
menschlicheVerhalten vielleichtreformieren, in
der Praxis aber nicht.

Der SchriftstellerChristoph Brumme,1962 im ostdeut-
schen Werniger ode geboren, lebt seit 2016 in der ostukrai-
nischen Stadt Polt awa.

Einige Jahre zuvor


hätte solch ein frecher Brief


wahrscheinlich ernstere


Konsequenzen gehabt.

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