Samstag, 21. September 2019 MEINUNG & DEBATTE
Massnahmen-Sammelsurium der deutschen Regierung
Berlin fehlt der Mut zur Klimapolitik
Die deutscheRegierung will laut den amFreitag
vorgelegten Eckpunkten für das Klimaschutzpro-
gramm 2030 künftig auch die SektorenVerkehr
und Gebäude/Wärmeschrittweise in einen natio-
nalen Emissionshandel einbeziehen.Das wäre
eigentlich eine gute Nachricht.Aus ordnungspoli-
tischer Sicht ist ein Emissionshandel,wie erschon
bisher EWR-weit Kraftwerke,Industrieanlagen
und Flüge erfasst, das Instrument derWahl.
Richtigkonzipiert, garantiert ein solcher Han-
del, dass die angepeilteReduktion derTr eibhaus-
gasemissionen tatsächlich erreicht wird und dass
dies zugleich auf demkostengünstigstenWeg er-
folgt: Ein Emissionshandelssystem fixiert die
maximal zulässigen Mengen von CO 2 und ande-
ren Tr eibhausgasen, gibt hierfür Zertifikate aus
und überlässtesdem Markt, den «richtigen»Preis
für die Zertifikate beziehungsweise das CO 2 und
die bestenWege zur Zielerreichung zu ermitteln.
Doch die schwarz-roteKoalition geht dasVor-
haben derart mutlos an, dass die Gefahr gross ist,
dass die Gesamtkosten des Klimapakets unnötig
hoch ausfallen und der angestrebte Abbau von
Emissionendennoch verfehlt wird. Das Paket
weist gleich mehrere Mängel auf.
Am schwersten wiegt, dass der Einstieg in die
Bepreisung vonTr eibhausgasen ausVerkehr und
Gebäuden viel zu zaghaft erfolgt. So sollen von
2021 bis 2025 nationale Zertifikate zu einemFix-
preis abgegeben werden, was einer verkappten
CO 2 -Steuer gleichkommt. Erst ab 2026 soll auf
ein echtes Handelssystem umgestiegen werden,
zunächst noch mit einem – ebenfalls systemwidri-
gen – Mindest- und Höchstpreis. Zudem ist der
Einstiegspreis viel zu tief: Im erstenJahr soll der
Festpreis proTonne CO 2 10 Euro betragen, um
dann bis 2025 schrittweise auf 35 Eurozu steigen.
Damit liegt der Einstieg weit unter den rund 26
Euro,dieeineTonne CO 2 derzeitim EU-Emis-
sionshandelkostet. Entsprechend gering wird der
Anreiz sein, wenigerAuto zu fahren oder klima-
freundlichere Heizungen zu installieren.
Das weiss auch dieKoalition, weshalb sie die-
sesRumpfsystem wie einenWeihnachtsbaum mit
zahlreichen weiteren Instrumenten und Geschen-
ken dekoriert hat. Manche davon haben indessen
dasPotenzial, den Schaden noch grösser zu ma-
chen. Dies gilt etwa für die geplante befristete
Erhöhung derPendlerpauschale, einer steuer-
lichen Entlastung für Berufspendler. Zwarist
es aus ökonomischer Sicht richtig, die Einnah-
men aus dem Emissionshandel odereiner CO 2 -
Steuer nicht im Staatshaushaltzu lassen, son-
dern den Bürgern zurückzuerstatten. Doch viele
Ökonomen haben imVorfeld dafür plädiert, dies
über einenPauschalbetrag proKopf zu tun. Dies
hätte auch denVorteil, dass Menschen mit niedri-
gem Einkommen,deren CO 2 -Ausstoss imDurch-
schnitt geringer ist, per saldo überproportional
profitieren würden.Damit würde die Klimapoli-
tik sozial abgefedert, ohne das klimapolitische
Ziel zu gefährden. Eine höherePendlerpauschale
hingegen setzt falsche Anreize, indem sie dasPen-
deln mit demAuto wieder entlastet.
Ähnlich fragwürdig ist einganzer Straussvon
weiterenFördermassnahmen und Eingriffen.Wer
zum Beispiel eine Ölheizung auf ein klimafreund-
licheresSystem umstellt, soll 40 Prozent derKos-
ten vom Staat erstattet erhalten; ab 2026 sollen
Ölheizungen gesetzlich weitgehend untersagt
werden. Solche Subventionen undVerbote wären
überflüssig, würde in nützlicherFrist ein echtes
Emissionshandelssystem eingeführt. Mit dem
jetzt vorgelegten Sammelsurium hingegen ver-
passt Deutschland die Chance eines Neuanfangs
in der Klimapolitik, vom dem Klima,Wirtschaft
und Bürger gleichermassen profitiert hätten.
Der amerikanische Präsident soll Hilfe für die Ukraine zurückgehalten haben
Neue Munition für Trumps Gegner
DieWhistleblower-Affäre,dieWashington der-
zeit elektrisiert,könnte sich für Präsident Donald
Tr ump zu einer handfesten Krise auswachsen.
Noch ist vieles unklar, die bisher bekanntenFak-
ten ergeben aber eine hochbrisante Gemenge-
lage.Daist zum einen ein amerikanischer Ge-
heimdienstmitarbeiter, der mitbekommen haben
will, dass der Präsident einem ausländischen
Staatsführer ein ungebührlichesVersprechen ge-
geben habe. Der Informant meldete denVorfall
MitteAugust derAufsichtsbehörde für die Ge-
heimdienste,welche dieVorwürfe als glaubwür-
dig beurteilte. Der daraufhin inKenntnis gesetzte
GeheimdienstkoordinatorJoseph Maguire gab
die Meldung jedoch nicht an denKongress wei-
ter, wie es in solchenFällen üblich ist, sondern
wandte sich ansJustizministerium, das die Infor-
mationen als vertraulich einstufte.
Klar ist auch, dass es EndeJuli zu einemTele-
fongesprächTr umps mit dem neuenukrainischen
PräsidentenWolodimir Selenski kam. Kiew gab
darüber mehr bekannt alsWashington. Demnach
liessTrump durchblicken, dass die Ukraine ihren
Ruf verbessernkönnte, wenn sieKorruptionsver-
fahrenweitertriebe, die das bilateraleVerhältnis
belasteten.Für den amerikanischen Präsidenten
und seineVertrauten ist ein bestimmterFall in
dem osteuropäischenLand von besonderem In-
teresse: jener gegen die Energiefirma des Sohns
vonJoeBiden, dem früherenVizepräsidenten
und möglichen demokratischen Herausforderer
des Präsidenten bei derWahl im nächstenJahr.
Unbestritten ist schliesslich, dass 250 Millionen
Dollar Militärhilfe für die UkrainevomWeissen
Haus mit wochenlangerVerzögerung erst vor
wenigenTagen freigegeben wurden. Die Demo-
kraten äusserten schon länger dieVermutung,
dassTr ump die Gelder zurückhalte,um Druck
auf Kiew auszuüben.
DerVerdacht, dass sich diese Puzzlestücke zu
einem Ganzen zusammenfügen lassen, liegt auf
der Hand. Hat also der Präsident oder einer sei-
ner Getreuen Selenski die Millionen an amerika-
nischem Steuergeld für denFall inAussicht ge-
stellt, dass Kiew gegen dieFamilie eines politi-
schen Gegners vonTr ump vorgeht? Und wurden
sie dabei von einem Geheimdienstmitarbeiter
ertappt? Es wäre der bisher gravierendsteFall
in einer ganzenReihe vonVorkommnissen, in
denen der Präsident sein Amt zum eigenenVor-
teil zu missbrauchenversuchte.
Stichhaltige Beweiseliegen derzeit nicht vor.
Dass dieAdministration die interneVerdachts-
meldung unterVerschluss zu halten versucht,
muss nicht zwingend heissen, dass es etwas zu
verbergen gibt. EinTeil derDemokraten ver-
folgtseit der Übernahme derKontrolle imReprä-
sentantenhaus derart beharrlichdas Ziel,Tr ump
mit einem Impeachment aus dem Amt zu jagen,
dass dasWeisse Haus seinerseits die staatspoli-
tisch essenzielleKontrollfunktion desKongres-
ses in jedem denkbaren Fall zu torpedieren ver-
sucht.In Unkenntnis dieser jüngsten Ereignisse
hat derJustizausschuss des Repräsentanten-
hauses vergangeneWoche einen ersten formalen
Schritt hin zu einem möglichen Amtsenthebungs-
verfahren unternommen. Die Erfolgsaussichten
sind aufgrund derrepublikanischen Mehrheit im
Senat zwar verschwindend gering,doch derra-
dikale Flügel der Demokraten erfüllt damit den
Wunsch seinerBasis. Selbst parteiintern ist die-
sesVorgehen umstritten. Nun erhalten die Geg-
nerTr umps angesichts der SchwerederVorwürfe
in der Ukraine-Affäre neue Munition.
In Zürich droht eine erneute Abstimmung über das Fussballstadion
Blutgrätsche in der Nachsp ielzeit
In der Niederlage zeigt sich wahre Grösse. Die Zür-
cher SP beherzigt diesen Spruch. Letzten Herbst
hatte die grösstePartei der Stadt vehement gegen
ein privat finanziertesFussballstadion auf dem
Hardturmareal, zweiWohntürme und eine Genos-
senschaftssiedlung gekämpft. An der Urne erlitt
die SP Schiffbruch: 54 Prozent der Stadtzürcher
Stimmbevölkerung sprachen sich im November
fürdieVorlage aus. DieParteiführungakzeptierte
den Entscheid und versprach, dem Projektkeine
weiteren Steine in denWeg zu legen. So gehtVer-
lieren nach gutdemokratischer Manier.
Ganz anders verhält sich nun eine Gruppe,
die sich zur InteressengemeinschaftFreiräume
Zürich-West zusammengeschlossen hat. Anwoh-
nerinnen der dezidiert linken Genossenschaft
Kraftwerk, Nutzer der sogenannten Stadionbra-
che und vereinzelte grünePolitikerinnen rufen zu
einemReferendum gegen den Gestaltungsplan
des Projekts auf.
Damit wollen sie nach kurzer Zeit eine erneute
Abstimmung erzwingen.Das Manöverist durch-
sichtig. Der Gruppe geht es darum, ihren kleinen
Garten Eden, der auf dem verwaisten Hardturm-
areal im letztenJahrzehnt entstanden ist, noch ein
paar MonateoderJahre länger zu erhalten.Dies,
obwohl die Zwischennutzung von Anfang an als
befristet deklariert wurde. DieReferendums-
führer gehen für ihr Ziel ansÄusserste. Jedes Mit-
tel scheint ihnenrecht, um zu verzögern, zu blo-
ckieren und zu verhindern. Den demokratischen
Entscheid vom letzten Herbst wischen sie zur
Seite. Das ist ein Schlag ins Gesicht für all jene,
die nach einer intensiven Kampagne denJa-Zet-
tel in die Urne geworfen haben. So gefährdet die
Gruppe aus egoistischen Motiven dringend be-
nötigteWohnungenimWachstumsgebiet Zürich-
West und endlich ein echtesFussballstadion für
die darbenden Klubs FCZ und GC.
Nun steht es jedem frei,einReferendum zu er-
greifen. Stossend ist jedoch, dass im erneuten Ab-
stimmungskampfkein einziges neues Argument
auftauchen wird.Wenn die Stadiongegner sagen,
dass es beim Urnengang vom November 20 18
nur um einFinanzierungskonstrukt, aber nicht
um diekonkrete Gestaltung des Projekts gegan-
gen sei, dann haben sie formell zwarrecht. Aber
zu behaupten, dass damals nur überBaurechts-
zinse und buchhalterischeVermögensübertragun-
gen diskutiert worden sei, ist schlicht falsch. Es
wurde ausgiebig über die beiden Hochhäuser, die
Ausmasse des Stadions und auch die Umgebungs-
gestaltungdebattiert.Das Javon 20 18 war einJa
für das Gesamtprojekt «Ensemble».
Wersich dafür interessierte,konnte schonim
Juli 20 17 eine ausführliche, 60-seitigeFassung des
Gestaltungsplans lesen. Ebenfalls greifbar waren
ein Berichtzur FloraundFauna sowie ein Um-
weltverträglichkeitsbericht.Wenn die Stadion-
gegner nun, ganz zeitgeistig, mit dem Klimaschutz
gegen das Projekt Stimmung machen,ist dies bil-
li g. Als Alternative schlagen sie auf dem Hard-
turm eine Blockrandsiedlung mit grossemPark
vor. Nur, wer soll diese utopischen Pläne umset-
zen und bezahlen?Das Bestechende am Projekt
«Ensemble» ist eben genau, dass es durch pri-
vate Investoren getragen und finanziert wird. Sie
erstellen das Stadion auf eigeneKosten und er-
halten die beidenWohntürme alsRenditeobjekt
zugesprochen.Das sind die Spielregeln, die vom
Stimmvolk letztesJahr unterstützt wurden.Dass
sich einigeVerlierer im Nachhinein nicht daran
halten wollen, zeugt von schlechtem Stil. Ihre
Aktion ist eine Blutgrätsche in der Nachspielzeit.
SCHWARZ UND WIRZ
Plädoyer
für einen Pilz
Von CLAUDIA WIRZ
Wer kennt eigentlich noch GottliebTheodor
Pilz? Der1789 in Dinkelsbühl in ein
wohlhabendes protestantisches Elternhaus
geborene und1856 inParis an einem
Schlaganfall verstorbene Meister ist zu
Unrecht fast vergessen. Gewiss, er warkein
Mann der grossen Bühne; auchkein grosser
Intellektueller.Vielmehr gilt er als Pionier des
In-der-Sonne-Sitzens. Er soll dieseKunst nach
Italien gebracht haben. Pilz hat – abgesehen
von einer Oper und seinem Drama«Herzog
Theodor von Gothland» – weder grosseWerke
geschaffen noch Schüler hinterlassen. Der
«Herzog» wird heute Christian Dietrich
Grabbe zugeschrieben; Pilz-Kenner aber
wissen: Es ist ein Pilz.
Wir wissen von einer Italienreise, wie sie
seinerzeit für junge Männer seines Standes
üblich war.Anders als alle anderen hat
GottliebTheodor Pilz von seiner GrandTour
wederTagebücher nochReiseaquarelle
angefertigt. Beim Anblick des Golfes von Nea-
pel soll er völligregungslos geblieben sein.
Madame de Staël, der er bei seinemAufent-
halt inRom zum ersten Mal begegnete, hat
ihn nicht beeindruckt; auch das unterscheidet
ihn von seinen Zeit- und Geschlechtsgenossen.
Denkmäler wurden ihm – auf eigenenWunsch
- keine gesetzt. Seine ganze Hinterlassenschaft
hat er demVernehmen nach einigen mässig
begabten jungen Menschen überlassen – im
Tausch gegen dasVersprechen, fortanvon
jeglicher Art schöpferischer Arbeit abzusehen.
Genau hierin liegt Pilz’ Meisterschaft. Seine
Kunst war nicht die Schöpfung, sondern die
Verhinderung. Der Kampf gegen den schöpfe-
rischen Übereifer war seine Mission bis zu
seinem dramatischenTod während einer
Lesung vonRacines drastisch zusammen-
gekürztemWerk. An der Staël scheiterte Pilz;
erkonnte sie nicht davon abbringen, die
Abhandlung «De l’Allemagne» zu verfassen.
AberFriedrich LudwigJahnkonnte er
überzeugen, die Schriftstellerei aufzugeben
und sich demAufbau derTurnbewegung zu
widmen. Delacroixkonnte er eine monumen-
tale Gemäldereihe über Urwaldthemen
ausreden. Pilz gilt zudem alsFörderer von
Beethovens unproduktiver Phase zwischen
1814 und 1818 , und er wares auch, derRossini
seiner eigentlichen Berufung zuführte: dem
Kochen und Bewirten.
Pilz ist eineAusnahmeerscheinung. Seine
Hingabe an dasVerhinderte, nieVerwirklichte
teilen nur wenige. Gemeinhin werden die
Menschen an ihrenTaten gemessen, nicht an
ihren Unterlassungen. Doch gerade im
Zusammenhang mit der Demokratie ist diese
Sicht der Dinge problematisch.
Moderne Demokratien sind anfällig für
Überregulierung, weil sie zu viel tun und zu
wenig unterlassen.Verwaltung undPolitik
müssen ständig irgendetwasregulieren, um
sich selber zu erhalten oder sich beimWahl-
volk zu profilieren, zumal der Zeitgeist zu
nervösem Alarmismus neigt. So suchen sie
nach Handlungsbedarf. Bald ist die Schweiz
ein Entwicklungsland, bald ein Schlusslicht,
überall lauert Gefahr oder Diskriminierung.
Was könnte uns ein Mensch von Pilz’
Format heute alles ersparen! Der Phantasie
sindkeine Grenzen gesetzt. Die obligatori-
schen Hundekurse, ein Schulbeispiel klein-
lichenregulatorischen Übereifers; oder den
Bologna-Prozess mit seiner freudlosen
Verschulung des Studiums; oder die unselige
Gendersprache mit ihren ideologischen
Übergriffen auf unser Denken. Oder den
Unsinn eines staatlichenVaterschaftsurlaubs,
der den jungen Eltern imLande nicht zutraut,
ihre privaten Dinge selber zuregeln.
Für Pilz gäbe es heute nicht nurRacines
Tr agödien zusammenzustreichen. Übrigens:
GottliebTheodor Pilz hat nie gelebt.Wolfgang
Hildesheimer hat ihnerfunden; mankönnte
sagen, er seiFake-News.Trotzdem: Selten wäre
so ein Pilz so nötig wie heute.
Claudia Wirzist freie Journalistin und Autorin.